Strafverteidigertag Rechtspolitik

Reformbedarf beim JGG ?

Die vom Bundesminister der Justiz einberufene Expertenkommission soll auch über eine Reform des JGG nachdenken. Schließlich ist das Jugendstrafrecht seit Jahren ein beliebtes Themenfeld der Rechtspolitik. Aber besteht dort überhaupt Reformbedarf? Oder sollte man nicht besser bewahren, weil schlimmeres droht? Mit dem Reformbedarf im JGG befasst sich Matthias Zieger.

 

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Eine grundlegende Reform des JGG wurde zuletzt im Jahr 2002 vorgeschlagen. Hans-Jörg Albrecht fragte in seinem Gutachten zum 64. Deutschen Juristentag in Berlin:
»Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?« Vor ihm hatte schon in den 90er Jahren Christian Pfeiffer provokant gefragt »Unser Jugendstrafrecht – eine Strafe für die Jugend?«
Anlass zu solchen Fragen geben nach wie vor Vorschriften im JGG, die junge Beschuldigte schlechter stellen als Erwachsene (Nichtanrechnung der U-Haft aus erzieherischen Gründen, Mindestjugendstrafe sechs Monate, eingeschränkte Rechtsmittel). Junge Angeklagte werden bei Bagatelltaten im Rückfall aus Gründen erzieherischer Konsequenz oft härter bestraft als Erwachsene. Sie müssen erleben, dass in stigmatisierender Weise darüber diskutiert wird, ob in ihrer Person »schädliche Neigungen« vorliegen. Staatsanwälte und Richter in den Jugendabteilungen sollen zwar nach § 37 JGG erzieherisch erfahren sein, sie müssen es aber nicht sein und sind es oft auch nicht. Sie werden im Gegenteil nicht selten nur deshalb dort eingesetzt, weil ihnen »richtige« Dezernate nicht zugetraut werden. In Jugendstrafverfahren werden Verfahrensrechte junger Beschuldigter oft nicht ernst genommen und engagierte Verteidiger als Störenfriede empfunden (»Herr Verteidiger, wir sind doch hier im Jugendstrafverfahren«).

Als Gegenkonzept schlug Albrecht die Ersetzung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht durch die Anerkennung der regelmäßig geringeren Schuld des jungen Täters vor - verbunden mit einem geringeren Bedarf an Normstabilisierung, der Berücksichtigung der durch die hohen Rückfallziffern belegten schädlichen Folgen freiheitsentziehender Sanktionen bei Jugendlichen und Heranwachsenden und eine strikte Wahrung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips.

Dieser Vorschlag hat sich schon auf dem Deutschen Juristentag nicht durchgesetzt. Auch die Verteidiger in Jugendstrafverfahren haben sich für diesen Vorschlag nicht ausgesprochen. Sie teilen zwar vieles an der ihm zugrunde liegenden Kritik, wollen aber den Grundsatz »Erziehen statt Strafen« und die Vorteile nicht aufgeben, die die vielen Chancen der Diversion nach §§ 45, 47 JGG, der breit gefächerte Katalog von Reaktionsmöglichkeiten (Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln, Jugendstrafe mit Bewährung oder Vorbewährung, Höchststrafe zehn Jahre bei Jugendlichen, 15 Jahre bei Heranwachsenden) und die Mitwirkung einer meist kenntnisreichen und engagierten Jugendgerichtshilfe ihren jungen Mandanten bieten. Auch die besonderen Vollstreckungsvorschriften im JGG eröffnen Spielräume und für den Jugendstrafvollzug gibt es die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31.5.2006, die verlangt, die typischen Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten junger Täter und die Tatsache in den Blick zu nehmen, dass für ihre kriminelle Entwicklung überwiegend andere verantwortlich gewesen sind. Diese Entscheidung harrt allerdings noch der vollen Umsetzung in Jugendstrafvollzugsgesetzen und Vollzugspraxis.

Daraus folgt für eine Reform des JGG: Der pädagogische Blick auf die jungen Beschuldigten sollte nicht nur erhalten, sondern gegen alle Einschränkungen verteidigt werden. Damit nicht zu vereinbarende, nicht praktikable oder sogar kontraproduktive Regelungen sind zu streichen oder zu korrigieren.

Eine Reform des JGG, die diesen Namen verdient, müsste deshalb insbesondere folgende Änderungen vornehmen:

Vorschriften, die aus gutem Grunde in der Praxis weitgehend ignoriert werden, sollten gestrichen werden. Dazu gehört § 12 JGG. Der Jugendrichter kann dem Jugendlichen nach Anhörung des Jugendamts auferlegen, eine der Hilfen zur Erziehung nach §§ 27ff SGB VIII oder eine Heimunterbringung nach § 34 SGG VIII in Anspruch zu nehmen. Das steht in unauflösbarem Widerspruch dazu, dass nach dem SGB VIII alle Maßnahmen der Jugendhilfe als Angebote konzipiert sind, die von dem jungen Menschen bzw. seinen Erziehungsberechtigten aufgrund einer gemeinsamen Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII) angenommen werden. Hilfen zur Erziehung können zwar auch aus Anlass von Straftaten eines jungen Menschen vom Jugendamt den Eltern vorgeschlagen werden. Wenn man sich auf eine Hilfeplanung verständigt, kann dies auch ein guter Grund sein, nach §§ 45 Abs. 2, 47 Abs. 1 Nr. 2 JGG von weiterer Verfolgung abzusehen bzw. das Verfahren einzustellen. Bei dieser Möglichkeit sollte man es belassen.

Aus einem ganz anderen Grund ist § 27 JGG ersatzlos zu streichen. Nach dieser Vorschrift kann der Jugendrichter dann, wenn er sich nicht schlüssig werden kann, ob schädliche Neigungen vorliegen, zwar die Schuld feststellen, die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe aber zur Bewährung aussetzen (»Bewährung ohne Strafe«). Was diese Entscheidung konkret bedeutet, und wie es dann weitergeht (§§ 28 – 30, 62 - 64 JGG) ist jedenfalls für den jungen Angeklagten, meist auch für seine Eltern und manchmal selbst für Verteidiger unverständlich. Die Lückenbüßerfunktion, die diese Vorschrift zwischen Arrest (höchstens vier Wochen) und Jugendstrafe (mindestens sechs Monate) in der Praxis hat, rechtfertigt ihren Fortbestand nicht. Beispielweise ist die Weisung, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen, ausreichend, um die aufgezeigte Lücke zu schließen - und zudem erzieherisch viel wirkungsvoller.

Es ist auch an der Zeit, den Jugendarrest abzuschaffen, obwohl die Spielarten Freizeit-, Kurz- und Dauerarrest gerade erst durch den »Warnschussarrest« (parallel zur Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung, §§ 8 Abs. 2 S. 2, 16a JGG) erweitert wurden. Die hinter dem Arrest stehende Ideologie, dass ein »im Grunde gut gearteter Jugendlicher«, der »aus Übermut« eine Straftat begangen hat, zu seiner Erziehung einer »Zurechtweisung durch Arrest« bedarf, ist mittelalterlich. Die besonders hohen Rückfallzahlen nach Verbüßung eines Arrests beweisen seine erzieherische Untauglichkeit. Auch hier sind Weisungen viel eher geeignet, einem jungen Beschuldigten seine Verantwortung aufzuzeigen und ihn zu veranlassen, über die Folgen seines Handelns nachzudenken.

Es ist auch geboten, endlich die Unterscheidung zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden aufzugeben und Heranwachsende generell dem Jugendstrafrecht zu unterstellen. In der Gerichtspraxis ist der Grundsatz aus § 105 Abs. 1 JGG, wonach Jugendstrafrecht nur ausnahmsweise bei Reiferückstand oder Jugendverfehlung zur Anwendung kommt, längst in das Gegenteil gewendet. Erwachsenenstrafrecht wird häufiger höchstens noch bei Verkehrsstraftaten angewandt, sonst aber finden sich in der Biografie des Angeklagten immer genug Anhaltspunkte, um einen Reiferückstand zu begründen. Auffällig ist dabei, dass umso häufiger Jugendstrafrecht angewandt wird, je schwerer die angeklagten Delikte sind. Jugendgerichte scheuen sich zu Recht, die hohen Strafrahmen für Erwachsene auf junge Beschuldigte anzuwenden, die ihren Platz im Leben noch nicht haben finden können und deren problematische Karrieren zu einem guten Teil nicht von ihnen, sondern von ihren erwachsenen Bezugspersonen zu verantworten sind.

Was die Auswahl der Sanktionen im Jugendstrafrecht angeht, bedarf der in § 5 JGG angelegte Subsidiaritätsgrundsatz der Konkretisierung. Die Reihenfolge möglicher jugendrichterlicher Sanktionen sollte sich nicht nach dogmatischen Einordnungen (Erziehungsmaßregel, Zuchtmittel, Jugendstrafe), sondern nach der Eingriffsintensität richten. Eine plausible Reihenfolge der ambulanten Sanktionen wäre: Verwarnung, Auflage, Weisung (hier gestuft nach dem für die Erfüllung abverlangten Zeitaufwand), Erziehungsbeistandschaft, bei den stationären Sanktionen Arrest (falls er nicht abgeschafft wird), Jugendstrafe auf Bewährung, Jugendstrafe mit Vorbewährung, Jugendstrafe ohne Bewährung. Da alle freiheitsentziehenden Sanktionen deutlich höhere Rückfallzahlen produzieren als ambulante Maßnahmen, muss ihre Notwendigkeit besonders begründet werden in Auseinandersetzung mit ihren erfahrungsgemäß schädlichen Folgen. Diese besondere Begründungspflicht könnte durch eine Änderung des § 54 JGG eingeführt werden.

Bei dieser Gelegenheit sind auch die Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe neu zu formulieren. Der stigmatisierende Begriff »schädliche Neigungen« ist ersatzlos zu streichen und zu ersetzen durch eine Formulierung, die deutlich macht, dass die Verhängung von Jugendstrafe voraussetzt, dass der Betroffene erzieherisch nur zu beeinflussen ist, wenn er aus seinem ihn zu Straftaten veranlassenden Milieu herausgeholt oder an der Wiederholung schwerwiegender Taten nur durch eine kürzere oder längere stationäre Unterbringung gehindert werden kann.

Derzeit gibt es in § 17 Abs. 2 JGG noch die »Schwere der Schuld« als Grund für die Verhängung der Jugendstrafe. Diese Alternative ist zu streichen. Sie steht in Widerspruch zur täter- und erziehungsorientierten Konzeption des Jugendstrafrechts und öffnet erziehungsfremden Strafzwecken Tür und Tor. Nach gegenwärtiger Gesetzeslage ist zwar auch bei »Schwere der Schuld« Jugendstrafe nur zu verhängen, wenn sie »erforderlich« ist (§ 17 Abs. 2 JGG), und der Höhe nach ist sie so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist (§ 18 Abs. 2 JGG). Teile der Literatur und zunehmend auch die Gerichtspraxis nehmen die Bejahung der »Schwere der Schuld« deshalb zum Anlass, die Jugendstrafe nicht mehr nach dem erzieherisch Sinnvollen zu bemessen, sondern danach, was Schuldausgleich und Sühne oder die Bestätigung der Rechtstreue der Bevölkerung zu verlangen scheinen. Nimmt man aber die oben erwähnte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und den § 2 JGG ernst, wonach das Jugendstrafverfahren »vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten« ist, andere Strafzwecke also höchstens nachrangig Bedeutung haben dürfen, ist für Sühne und (positive) Generalprävention im Jugendstrafrecht kein Raum.

Das in der Literatur weitgehend anerkannte allgemeine »Verbot der Schlechterstellung« von jungen Angeklagten im Vergleich zu Erwachsenen sollte neben der Regelung von Höchstgrenzen der Jugendstrafe künftig in § 18 JGG Erwähnung finden. Auch ein dem Erziehungsgedanken verpflichtetes Jugendstrafrecht bleibt Strafrecht, es setzt die Schuldfeststellung voraus, deshalb ist auch die Schuld und damit die Rechtsfolge, die ein Erwachsener bei gleicher Sachlage erleiden müsste, die absolute Obergrenze für erzieherisch motivierte Sanktionen.

Es besteht auch kein Grund, junge Beschuldigte bei den Verfahrensrechten schlechter als Erwachsene zu stellen. Im Gegenteil sind sie besonders schutzbedürftig, weil sie den erwachsenen Verfahrensbeteiligten in Erfahrung, Kenntnissen, sprachlicher Kompetenz, sozialem Status und auch finanziellen Mitteln deutlich unterlegen sind. Ihnen müssten Erklärungs-, Frage- und Antragsrechte jeweils erläutert und sie müssten zu ihrer Wahrnehmung ermuntert werden. Dasselbe gilt für die Erziehungsberechtigten (§ 67 JGG). Zumindest in allen Verfahren, in denen die Staatsanwaltschaft die Verhängung einer Jugendstrafe für möglich hält und Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhebt (§§ 39 Abs. 1, 40 Abs. 1 JGG) muss § 68 JGG künftig die Beiordnung eines Verteidigers vorsehen. Die instanzielle Einschränkung der Rechtsmittel (§ 55 Abs. 2 JGG) macht das Jugendstrafverfahren unzulässig zu einem Verfahren zweiter Klasse.

Änderungen des JGG haben in den letzten Jahren nicht nur die Möglichkeit der Unterbringung junger Angeklagter in einem psychiatrischen Krankenhaus aufrechterhalten (§ 7 JGG), sondern die vorbehaltene Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht eingeführt (§§ 7 Abs. 2 – 5, 106 Abs. 2 – 7 JGG). Beides stellt eine dringend korrekturbedürftige Kapitulation vor einem übersteigerten Sicherheitsdenken dar.|1 Ist ein junger Beschuldigter wegen einer psychischen Erkrankung schuldunfähig, ist es nicht notwendig, ihn durch Strafurteil auf unbestimmte Zeit, evtl. lebenslang, in ein psychiatrisches Krankenhaus einzuweisen. Das Jugendstrafrecht leitet seine Existenzberechtigung daraus ab, dass junge Menschen noch in der Entwicklung stehen, sie geprägt und gefördert werden können. Dazu in Widerspruch steht es, kranken jungen Menschen strafrechtlich auf unbestimmte Zeit die Freiheit zu nehmen. Stellen sie eine Gefahr für andere dar, reichen die zivilrechtlichen Möglichkeiten (PsychKG, UnterbringungsG) allemal aus, und anders als in Krankenhäusern des Maßregelvollzugs gibt es in den allgemeinen Krankenhäusern spezielle jugendpsychiatrische Abteilungen. Erst recht steht die erst durch Gesetz vom 5.12.2012 eingeführte Möglichkeit, die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung vorzubehalten, zu dem jugendstrafrechtlichen Erziehungs- und Fördergebot in Widerspruch.

Es besteht also erheblicher Reformbedarf im JGG. Es ist an der Zeit, konsequenter als bisher den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht zu verwirklichen.

Rechtsanwalt Dr. Matthias Zieger arbeitet als Strafverteidiger in Berlin. Er ist Mitglied der Vereinigung Berliner Strafverteidiger.

Anmerkungen:

1 : siehe hierzu die gemeinsame Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen (Organisationsbüro) und des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV e.V.) zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz »zur Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung« vom 09.11.2011, Teil 2.

Dr. Matthias Zieger:
Reformbedarf im JGG?, in: Freispruch, Heft 5, September 2014

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