Strafverteidigertag Rechtspolitik

Die Unerwünschten

Was passiert eigentlich mit Beschuldigten, die vor einem internationalen Tribunal freigesprochen werden? : von Natalie von Wistinghausen

 

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Am 8. November 1994 wurde der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (IStGHR) vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ins Leben gerufen, um jene Personen strafrechtlich zu verfolgen, die für Völkermord und andere Verstöße gegen das Völkerstrafrecht verantwortlich waren, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1994 in Ruanda verübt wurden.

Fast 20 Jahre später sieht das Ergebnis wiefolgt aus: 83 Beschuldigte wurden festgenommen und nach Arusha, dem Sitz des Gerichtshofes und des Untersuchungshaftgefängnisses in Tansania, gebracht. In 75 Fällen wurden Urteile gesprochen , 17 davon sind noch nicht rechtskräftig. Zwölf Angeklagte wurden freigesprochen. Einer von ihnen ist Justin Mugenzi. Der Geschäftsmann und Präsident des Parti Libéral war seit dem 8. Juli 1993 Handelsminister in Ruanda und für die am 18. März 1994 bekannt gegebene Neubesetzung der Übergangsregierung vorgeschlagen. Am 9. April 1994 wurde er vereidigt, wenige Tage nach dem Beginn des Genozids in Ruanda, dem in nur hundert Tagen mehr als 800.000 Menschen zum Opfer fielen.

Justin Mugenzi wurde am 6. April 1999 in Kamerun verhaftet und am 31. Juli 1999 an die Haftanstalt (United Nations Detention Facility) des IStGHR in Arusha überstellt. Die nächsten 14 Jahre (!) - bis zu dem in zweiter Instanz freisprechenden Urteil am 4. Februar 2013 - verbrachte er dort in Untersuchungshaft. Vor dem IStGHR wurde Mugenzi gemeinsam mit drei weiteren Ministerkollegen angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, einer der »Drahtzieher« des Völkermordes gewesen zu sein. Der Tatvorwurf war schwerwiegend: Verschwörung zur Begehung von Völkermord, Völkermord, Beteiligung am Völkermord, unmittelbare und öffentliche Anstiftung zum Völkermord, vorsätzliche Tötung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und verschiedene Kriegsverbrechen. Eine solche Anklage wegen aller möglichen verschiedenen Beteiligungsformen ist vor den Internationalen Strafgerichtshöfen rechtlich möglich und durchaus üblich.

Der Prozess begann am 6. November 2003, nachdem Mugenzi also bereits mehr als vier Jahre in Untersuchungshaft saß. Die Schlussplädoyers wurden nach 404 Hauptverhandlungstagen im November 2008 gehalten. Im September 2011, fast drei Jahre später, wurde das Urteil verkündet und Mugenzi zu 30 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Verteidigung legte Revision ein. Am 4. Februar 2013, beinahe 14 Jahre nach seiner Verhaftung, sprach die Appeals Chamber des IStGHR Mugenzi aus tatsächlichen Gründen von allen Tatvorwürfen frei.

Auch im Internationalen Strafrecht gilt der allgemein anerkannte Grundsatz des Rechtes eines jeden einer Straftat Beschuldigten auf ein zügiges Verfahren und zwar ein solches, das nicht nur zügig beginnt, sondern auch ohne Verzögerung weitergeführt wird. Dieses Recht ist klar und unzweideutig in Artikel 20(4)(c) des Statuts des IStGHR geregelt. Im Fall Mugenzi empfahl der Vorsitzende Richter in den Urteilsgründen den offensichtlichen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot mit einer Entschädigungssumme von 5.000,- US-Dollar zu kompensieren - sozusagen wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung. Seine Richterkollegen teilten diese Ansicht nicht. Ein gesetzlich verankerter Anspruch auf Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft (vergleichbar mit dem deutschen StrEG) besteht für die Freigesprochenen nicht und ist offensichtlich vergessen worden geregelt zu werden. Auch in den zahlreichen Anpassungen und Änderungen der Rules of Procedure and Evidence (die StPO des IStGHR) hat sich niemand mit dieser Frage befasst. Es scheint, als sei - angesichts der grauenhaften Verbrechen, die vor dem IStGH verhandelt werden - niemand auf die Idee gekommen, dass ein Beschuldigter am Ende des Verfahrens freigesprochen wird. Freigesprochene erhalten keine Entschädigung und es gibt auch kein Gericht, bei dem sie einen solchen Anspruch einklagen könnten.

Für Justin Mugenzi kommt es noch viel schlimmer: Anfang Februar dieses Jahres verließ er als »freier Mann« den Gerichtssaal, doch seine Freiheit endete bereits beim Verlassen des Gebäudes in Arusha. Die im Ruanda-Verfahren Freigesprochenen befinden sich in der absurden Situation, zwar auf »freiem Fuße« zu sein, sich aber ohne Aufenthaltsstatus in Tansania zu befinden, wohin sie einst ohne eigene Einwilligung zur Verfahrensdurchführung verbracht worden waren. Gleichzeitig haben sie die größten Schwierigkeiten, ein Land zu finden, das bereit wäre, ihnen ein Visum zu erteilen. Dies gilt auch für Länder wie Frankreich, Belgien, England und Kanada, wo die Familien der meisten Freigesprochenen leben und - im Fall von Mugenzi - sogar die Staatsangehörigkeit besitzen. Auch diese Situation hat der IStGHR nicht bedacht und diesem Problem zunächst auch kaum Aufmerksamkeit geschenkt, geschweige denn auf diplomatischem oder politischem Weg eine rasche Lösung angestrengt.

So befinden sich derzeit noch sieben Freigesprochene - ehemalige Minister, Generäle und Bürgermeister - in einem vom IStGHR zur Verfügung gestellten Haus und leben dort quasi in einer unfreiwilligen Männer-Wohngemeinschaft. Alle Betroffenen haben mehr als zehn Jahre in Untersuchungshaft verbracht. Ihr »neues Leben in Freiheit« in einer Villa in Arusha, die zuvor vom »Registrar« (dem Kanzler und Leiter der Verwaltung des IStGHR, der auch für die Belange der Untersuchungshäftlinge zuständig war) bewohnt wurde, entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Wie Justin Mugenzi erst kürzlich in einem persönlich geführten Gespräch berichtete, ist die Versorgung der Betroffenen vom IStGHR zwar insofern gewährleistet, dass die Unterkunft umsonst ist und für den Haushalt sowie die ärztliche Versorgung gesorgt wird. Für alle weiteren Belange müssen die Angehörigen aufkommen. Keine einfache Situation, nicht nur finanziell. Die Freigesprochenen waren über ein Jahrzehnt nicht für ihre Familien da, sind es auch jetzt nicht, und konnten und können nichts zum Unterhalt ihrer Frauen und Kinder beitragen. Ihr größter Wunsch ist, wenigstens den Lebensabend mit ihrer Familie zu verbringen. Justin Mugenzi ist 76 Jahre alt, er hat fünf Kinder und unzählige Enkelkinder, von denen er bislang keines persönlich kennengelernt hat.

Langsam tut sich etwas, neun Jahre nach dem ersten Freispruch eines anderen Beschuldigten im Jahr 2004. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Mitgliedsstaaten in den Jahren 2011 und 2012 aufgefordert, den vom IStGHR freigesprochenen Asyl zu gewähren (vgl. UN-Resolution 2029 und 2054). Dies betrifft auch die Verurteilten, die ihre Freiheitsstrafen mittlerweile vollständig verbüßt haben. Leider scheitert die Durchsetzung der Resolutionen an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsstaaten. Als Argument werden immer wieder die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder negative Auswirkungen auf die diplomatischen Beziehungen zu Ruanda angeführt ohne diese konkretisieren zu können. Eine Rückkehr nach Ruanda wiederum ist für die Betroffenen aus politischen und auch aus Sicherheitsgründen undenkbar. Die dortige Regierung akzeptiert in keiner Weise die freisprechenden Urteile des IStGHR. Der ruandische Generalstaatsanwalt warf dem Gerichtshof nach Mugenzis Freispruch u.a. vor, einen oberflächlichen Umgang mit den Fakten gezeigt zu haben und einen Trend erkennen zu lassen, die politische Führung von ihrer Verantwortung am Genozid zu entlasten. Die jahrelange Auseinandersetzung des IStGHR mit Fakten und Beweismitteln bleibt außer Betracht. Auch der Grundsatz »ne bis in idem« wird in Ruanda bestenfalls in der Theorie ernst genommen. Eine erneute Inhaftierung der in Arusha Freigesprochenen wäre bei einer Rückkehr in ihre Heimat absehbar.

Mugenzi hat keine Wahl. Seine »Freiheit« bedeutet, dass er unter dem Dach einer Institution leben muss, die ihn zu Unrecht angeklagt und 14 Jahre lang eingesperrt hat. Sein Visumsantrag, im Rahmen der Familienzusammenführung nach Belgien einreisen zu dürfen, wurde am 5.07.2013 erst abgelehnt. Nun beginnt für ihn eine neue juristische Auseinandersetzung.

Rechtsanwältin Natalie von Wistinghausen ist Mitglied in der Vereinigung Berliner Strafverteidiger und war dort bis Anfang 2013 im Vorstand aktiv. Sie ist Legal Assistant im Verteidigerteam von Justin Mugenzi.

Natalie von Wistingausen:
Die Unerwünschten, in: Freispruch, Heft 3, August 2013

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