Strafverteidigertag Rechtspolitik

Eine Technologie der Angstkultur

Dass die erweiterte DNA-Analyse in der Öffentlichkeit überwiegend unkritisch gesehen wird, ist nicht selbstverständlich. Der Schutz eigener Daten ist ein sensibles Thema. In der Auseinandersetzung um die erweiterte DNA-Analyse greifen aber verschiedene Diskurse ineinander, mittels derer die Technologie als alternativlos und Kritiker als ‚Täterschützer‘ dargestellt werden. Von Sarah Weitz und Nicholas Buchanan.

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Am 17. November 2016 veröffentlichte die BADISCHE ZEITUNG den Artikel »Grenzen für DNA-Analysen: Ein Gesetz, das Mörder schützt«. Dort werden einige Fragen aufgeworfen: Welche Geheimnisse können Forensiker der DNA auf dem heutigen Stand der Möglichkeiten entlocken? Was ist derzeit erlaubt bzw. was sollte erlaubt werden? Wird mit der aktuellen Gesetzeslage die Sicherheit der Bevölkerung aufs Spiel gesetzt? Die Antwort: die Einschränkung des Einsatzes der erweiterten DNA-Analyse sei eine Art von Täterschutz, gesetzliche Schranken, die Mörder vor Strafverfolgung schützten.

Wenn es um die komplexen Details der Gentechnik, Bioethik und Forensik und um die damit verbundene Gesetzgebung und etwaige Gesetzesänderungen geht, sollte nicht vergessen werden kritisch zu untersuchen, wie die Öffentlichkeit diese Technologien wahrnimmt und welche Vorstellungen sie damit in Verbindung bringt. Für den Sozialwissenschaftler ist dabei besonders bedeutsam, dass Menschen oft glauben, eine Technologie könne mehr leisten, als sie tatsächlich kann - Technologie wird so zum Symbol der Hoffnung und zum Symbol der Ängste. Wenn sich eine Gesellschaft für eine Technologie entscheidet, kann es gut sein, dass diese Entscheidung weit stärker mit bestimmten Hoffnungen und Erwartungen verbunden ist als mit einer realistischen Einschätzung der Vorteile und Risiken dieser Technologie. Daher ist es wichtig zu fragen, woher diese Hoffnungen stammen, welche Formen sie annehmen und welche Bedeutung sie haben.

Um diese sowie auch andere Fragen beantworten zu können, haben wir qualitativ über 500 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Transkripte, Blogposts und Aussagen von Politikern, Polizisten und Regierungsvertretern analysiert, die sich auf die erweiterte DNA- Analyse beziehen. Mit diesem Volltextarchiv lässt sich nachvollziehen, wie sich Argumente, Wahrnehmungen und Positionen verändern; es ermöglicht aber auch, übergreifende Themen im Verlauf der Debatte zu untersuchen. Im vorliegenden Artikel werden wir einige der Themen darstellen, die in der öffentlichen Debatte, und hauptsächlich in Aussagen der Befürworter, zur erweiterten DNA-Analyse eingebunden sind. In ihrer Gesamtheit wird hier die Technologie als »technological fix« für eine weit verbreitete Verunsicherung dargestellt, ihr wird mehr mehr zugeschrieben, als nur ein Hilfsmittel polizeilicher Ermittlungen zu sein.

Eine Debatte, die sich aus aufsehenerregenden Kriminalfällen speist

Forderungen nach der Erweiterten DNA-Analyse sind nicht neu; schon vor Jahren wurden sie im öffentlichen Diskurs in Deutschland erhoben. Dabei folgen sie immer einem bestimmten Muster: Sie sind eng an aufsehenerregende Gewaltverbrechen - wie Vergewaltigung und/oder Mord an jungen Frauen - gekoppelt. Politiker, Medien und Experten nehmen diese Kriminalfälle zum Anlass, den Einsatz neuster DNA-Technologien einzufordern. Über die Zeit betrachtet bilden diese Ereignisse gewissermaßen Punkte auf einem Zeitstrahl. Diese Punkte, um die die Berichterstattung kreist, nennen wir »Flashpoints«. 2016 waren solche Flashpoints die Vergewaltigung und der Mord an der 27- jährigen Joggerin Carolin in Endingen und die Vergewaltigung und Ermordung der 19- jährigen Medizinstudentin Maria in Freiburg. (2016 bis Juni 2017 erschienen 171 Medienberichte über erweiterte DNA-Analyse – 2015 waren es nur zehn). Der Fall des Heilbronner Phantoms von 2007 bis 2009 führte ebenfalls zu einer breiteren Diskussion über die erweiterte DNA-Analyse. Vereinzelt werden aber auch Fälle aus dem Ausland in die deutsche Debatte mit einbezogen. Dazu gehören die brutale Vergewaltigung einer 26-jährigen Frau 2015 im Schweizer Emmen - sie ist heute paralysiert -, der Mord an Marianne in den Niederlanden im Jahr 1999 sowie der Mordfall Eva 1997 in Spanien.
Die zentrale und sich wiederholende Rolle solcher Flashpoints als Motoren der öffentlichen Debatte »ist ein ... bekanntes Ritual«, schreibt die STUTTGARTER ZEITUNG (10.12.2016): »Wenn sich wieder einmal ein besonders schlimmes Verbrechen ereignet hat, werden sofort Rufe nach schärferen Gesetzen laut. Ein paar Tage lang schlagen die Wellen hoch, dann verebbt die Diskussion wieder - oft ohne Folgen«.

Auffallend bei fast allen Flashpoints ist, dass die (im Falle des Heilbronner Phantoms zu Unrecht) als Täter Verdächtigten bzw. die tatsächlichen Täter der jeweiligen Verbrechen einer ethnischen Minderheit angehören: Ein Rumäne ist wegen der Tötung von Carolin E. angeklagt; im Fall von Marias L. ist ein afghanischer Flüchtling als mutmaßlicher Mörder ermittelt worden; und als die Polizei das Heilbronner Phantom suchten, fiel der Verdacht aufgrund »osteuropäischer« DNA und der geographischen Streuung der Verbrechen auf Roma. Vor diesem Hintergrund scheint es fraglich, ob die Forderung nach der erweiterten DNA-Analyse so unabhängig von ethnischen Zuweisungen ist, wie gerne behauptet wird.

Häufig wird im Umfeld der Flashpoints die Schutzbedürftigkeit von Bürgerinnen und Bürgern - vor allem aber der Bürgerinnen - hervorgehoben. Zudem werden einzelne Delikte als Beleg einer allgemeinen Gefahr herangezogen; die über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung eines Mordes oder einer Vergewaltigung wird hervorgehoben, ein konkretes Verbrechen wird zum Sinnbild einer umfassenden Bedrohung. In diesem Sinne äußert sich bspw. Professor Manfred Kayser: »Aber werden die Skeptiker weiterhin gegen diese Art der Forschung sein, wenn direkt in ihrer Nachbarschaft jemand vergewaltigt wird?« (in DASMAGAZIN.CH, 18.06.2016)

Vor diesem Hintergrund heben Befürworter aus unterschiedlichen Lagern die Notwendigkeit der erweiterten DNA-Analyse hervor: Diese werde die Ermittlungen der Polizei schneller und vor allem effizienter gestalten. »,Die Auswertung weiterer DNA- Merkmale würde die Chancen, Täter zu fassen, deutlich erhöhen’, sagt Jan Reinecke, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). ... ,Dieser (derzeitige) Zustand ist nicht mehr tragbar’«. (BERGEDORFER ZEITUNG, 09.01.2017) Eine Auffassung, die von vielen politischen Parteien geteilt wird: »Wenn es technisch möglich sei, aus DNA mit hoher Wahrscheinlichkeit etwa die Augen- oder Haarfarbe festzustellen, müsse die Polizei diese Hinweise auch verwenden dürfen. ,Die Polizei kann dann Ermittlungskräfte konzentrieren und Täter schneller ermitteln’«, sagt bspw. der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, der BADISCHEN ZEITUNG (15.02.2017). Und die AfD in der Hamburger Bürgerschaft weist darauf hin, dass die Technologie »de[n] Täterkreis schneller [eingrenzen] und ein Täter schneller ermittelt werden [könnte]« (Bürgerschaft Hamburg, Antrag der AfD vom 18.01.2017).

Inwiefern und ob sich die Ausweitung der DNA-Analyse überhaupt nennenswert auf Ermittlungserfolge auswirken würde, ist jedoch schwer zu prognostizieren. Es gibt keine wissenschaftliche Untersuchungen zu Veränderungen der Aufklärungs- und Verurteilungsquote in den Ländern, die die erweiterte DNA-Analyse eingeführt haben, und auch das Justizministerium in Stuttgart räumte gegenüber der BADISCHEN ZEITUNG (01.04.2017) ein: »Untersuchungen über einen sich aus der Erweiterung der Möglichkeiten zur Untersuchung von DNA-fähigem Material ergebenden Fahndungserfolg sind dem Justizministerium nicht bekannt«.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Einführung einer neuen Technologie und damit verbunden eine häufigere Nutzung der DNA-Analyse Ermittlungen tatsächlich beschleunigen würden. In einigen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Berlin kämpfen LKA-Labore schon jetzt mit einer Flut von DNA-Proben. Tausende solcher Tatortspuren schaffen es gar nicht erst in die Analyse. Laut einem Antrag der CDU im nordrhein-westfälischen Landtag (07.03.2017) führt dies zu einem Stau, aufgrund dessen »fast die Hälfte aller 2016 übersandten Anträge ... im Dezember [selbigen Jahres] noch nicht abgearbeitet worden [war]«; am Ende lagen »dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA NRW) mit Stand 08.12.2016 insgesamt 27.712 nicht abschließend bearbeitete Anträge zur Spurenuntersuchungen« vor.

Neben dem Effizienzargument lassen sich in den um die Flashpoints kreisenden Forderungen nach der erweiterten DNA-Analyse aber noch weitere unterschiedliche und doch verbundene Themen ausmachen.

»Die Gesetzgebung in Deutschland hinkt hinterher«

So wird die deutsche Gesetzgebung gerne mit der in anderen Ländern - z.B. oft mit derjenigen in den USA, Großbritannien und den Niederlanden aber auch Frankreich - verglichen, wobei die Befürworter der erweiterten DNA-Analyse behaupten, die deutsche Gesetzgebung sei nicht auf dem neusten Stand. Darunter litten sowohl die polizeiliche Ermittlungsarbeit als auch die Sicherheit der Gesellschaft insgesamt. »Schauen Sie nach Holland. Dort ist man in dieser Hinsicht schon weiter«, sagte der Innenexperte der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Armin Schuster, dem SÜDKURIER (05.12.2016) im Hinblick auf Ermittlungsschritte, die dort erlaubt und in Deutschland verboten sind. Mit solchen Aussagen wird das Gefühl geweckt, Deutschland hinke bei der Gewährleistung öffentlicher Sicherheit anderen Ländern hinterher. Die erweiterte DNA-Analyse sei dringend notwendig, um diese vermeintlichen Sicherheitslücken zu schließen.

Dabei wird freilich übersehen, dass die erweiterte DNA-Analyse in anderen Ländern sehr streng reguliert wird, jedenfalls aber strenger, als dies nach den derzeit vorliegenden Gesetzentwürfen in Deutschland der Fall wäre. Beim Vergleich zwischen der Gesetzgebung der Niederlande und der im Gesetzesantrag Baden-Württembergs und Bayerns vorgesehenen werden Äpfel mit Birnen verglichen. Während in den Niederlanden strenge Regulationsmechanismen, multidisziplinäre Entscheidungsfindung und mehrere Begleitmaßnahmen zur Verhinderung von Stigmatisierung und Diskriminierung vorgesehen, in Großbritannien mehrere Instanzen in die Entscheidungsfindung und in die Anwendung eingebunden sind, sieht der Gesetzantrag für Deutschland keinerlei vergleichbare Maßnahmen vor. Die Befürworter fördern so das Gefühl von Rückständigkeit, indem sie Regelungen in anderen Ländern bewusst oder unbewusst ausblenden.

Vielfach wird behauptet, es klaffe eine Lücke zwischen dem, was technisch machbar, und dem, was gesetzlich erlaubt ist. Die Vorstellung, dass sich Gesetzgebung und Wissenschaften mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen, ist nicht neu und grundsätzlich auch nicht falsch. Die Befürworter aber zeichnen einseitig das Bild einer viel zu langsamen deutschen Gesetzesänderung, die der technologischen Entwicklung hinterherhinke. Die Polizei sei durch die Gesetzgebung stark behindert, schreibt die STUTTGARTER ZEITUNG (05.12.2016), da sie einschlägige Technologie nicht nutzen dürfe: »Die Grünen (in BW) als Koalitionspartner begrüßten Wolfs Vorschlag, eine Erweiterung der Rechte gründlich zu prüfen. ,Das Recht muss mit der technischen Entwicklung bei der Analyse von DNA-Material Schritt halten’, sagte der Innenexperte Uli Sckerl«. Doch ganz so rückschrittlich ist das deutsche Recht bei diesem Thema gar nicht.

Zum einen wurde die erweiterte DNA-Analyse 2003 in Deutschland lediglich deshalb nicht erlaubt, so Professor Henning Ernst Müller, »weil man wissenschaftlich noch nicht so weit war« (17.11.2016, COMMUNITY.BECK.DE), während das niederländische DNA-Gesetz, das im selben Jahr die Untersuchung der DNA auf Geschlecht, Haar-, Hautfarbe, biogeographische Herkunft und Gesichtsform erlaubte, ein Fall von prospektiver Gesetzgebung war, in dem das Gesetz »dem wissenschaftlichen Fortschritt vorauseilt[e]« (TECHNOLOGY REVIEW, 24.08.2009). »Denn (damals) fehlten für verlässliche Genanalysen noch die Methoden, und bis heute lässt sich die Gesichtsform nicht vorhersagen.” (ebd.) Zum Anderen wurde in Deutschland 2003 durchaus in den Raum gestellt, »künftig eine weitere Ergänzung des Gesetzes zu erwägen« (17.11.2016, COMMUNITY.BECK.DE). Die deutsche Gesetzgebung zeigt sich so technischen Entwicklungen gegenüber offen.

Außerdem sind sich Wissenschaft und Recht keineswegs immer (oder fast nie) einig, was als legitimer oder ausreichender Beweis zu gelten hat. Da es im Strafrecht um Freiheitsstrafen geht, ist eine strenge Definition von Gewissheit gefragt; diese können die Wissenschaften aber zuweilen gar nicht erbringen. So ist es nicht verwunderlich (und vielleicht sogar ganz gut), dass nicht jede neue wissenschaftliche Entwicklung auf direktem Weg in die Strafverfolgung Einzug hält.

Mit der Darstellung der derzeitigen gesetzlichen Regelung als rückständig geht zugleich eine drastische Abwertung des Datenschutzes einher. Der Schutz persönlicher Daten, der in Deutschland umfassend geregelt ist und in der Rechtsprechung als hohes Gut behandelt wird, scheint nun zu einem Unsicherheits- und Risikofaktor geworden zu sein. Viele der gesetzlichen Einschränkungen der (erweiterten) DNA-Analyse in Deutschland sind dem Datenschutz geschuldet: der Vorstellung, dass genetische Informationen ein wertvoller Bestandteil der persönlichen Identität sind und daher besonderen Schutz genießen sollten. In der aktuellen Debatte wird oftmals übersehen, dass die restriktive Ausrichtung der StPO ihren Ursprung in einer vormals positiv empfundenen Hervorhebung der individuellen Privatsphäre hat. Infolgedessen wird die bisherige Gesetzgebung als Gefährdung der inneren Sicherheit dargestellt und wahrgenommen.

»Subjektive Zeugen, objektive Technologie«

Befürworter vergleichen die Aussagekraft der erweiterten DNA-Analyse häufig mit der von Augenzeugenberichten. Einerseits wird die erweiterte DNA-Analyse als »biologischer Zeuge« dargestellt. »Die DNA ist ein stummer Zeuge - ein Zeuge wie jeder andere auch. Wir wollen nicht mehr sehen als das, was ein anderer Zeuge sehen und berichten kann«, sagte Michelfelder, der frühere Polizeipräsident von Aalen, im HAMBURGER ABENDBLATT (09.12.2016). Dieser Vergleich, der auf sprachlicher Ebene eine Ähnlichkeit zwischen DNA- Analyse und Augenzeugenbericht konstruiert, dient dazu, die erweiterte DNA-Analyse als unproblematische Technologie darzustellen; es handele sich dabei nur um eine Art natürliche Weiterentwicklung des Augenzeugenberichts. Die rhetorische Parallele erlaubt zudem, eventuelle Datenschutzbedenken der Kritiker zu umgehen. Die wenigsten würden behaupten, ein Augenzeugenbericht verletze die Privatsphäre des Täters unrechtmäßig.
Wenn der DNA-Beweis und Augenzeugenberichte tatsächlich so ähnlich wären, würden Datenschutzbedenken entkräftet.

Andererseits wird die erweiterte DNA-Analyse als etwas völlig Neues präsentiert, weit objektiver und weniger fehleranfällig als jeder Augenzeugenbericht. »‘Die Objektivität einer forensischen Typisierung liegt deutlich höher als der Zeugenbeweis‘, verrät CDU- Politiker Schuster dem SÜDKURIER (09.12.2016) und begründet das mit der Subjektivität des Zeugenbeweises. Der Zeuge ist ein Mensch, und dieser könne sich nun einmal irren, während die DNA eine biologische Tatsache referiere, die unverrückbar sei - und nicht so vergesslich wie ein Mensch«.

»Täterschutz«

Ein weiteres zentrales Thema ist der sogenannte »Täterschutz«, ein Begriff, mit dem eine kritische Haltung zur erweiterten DNA-Analyse und zu den Gesetzesanträgen diskreditiert werden soll. Wer der Polizei nicht alle möglichen Ermittlungsmethoden zur Verfügung stelle, schütze die Täter. So wird die aktuelle Gesetzgebung in den Medien oft als »Mörderschutzgesetz« oder »ein Gesetz, das Mörder schützt« bezeichnet (DIE KOLUMNISTEN am 19.11.2016 und BADISCHE ZEITUNG, 17.11.2016). In einem zweiten Schritt wird der vermeintliche Täterschutz dann gegen den »Opferschutz« abgewogen. »Leider wird in Deutschland immer noch Täter- über Opferschutz gestellt«, schreibt die NEUE WESTFÄLISCHE ZEITUNG (14.12.2016). Auch der Datenschutz wird (vor dem Hintergrund einer verstärkten Sicherheitsgesetzgebung vor allem im digitalen Bereich) ebenfalls mitunter als Täterschutz verunglimpft.

Politiker und Kommentatoren äußern sich gerne auch mit Theorien darüber, was den vermeintlichen Täterschutz begünstige. Zum einen wird suggeriert, dass übertriebene »political correctness« und die Befürchtung möglicher rassischer Diskriminierung - in Deutschland immer noch ein Tabuthema - Menschen dazu bewege, sich von der Technologie zu distanzieren. »Wenn die DNA auf afrikanische oder asiatische Wurzeln hindeuten würde? Simpel gesagt: Dann wäre das halt so. Unsere offene Gesellschaft müsste ja auch aushalten, wenn auf einem Phantombild ein Mensch mit Migrationshintergrund zu erkennen wäre. Die Angst, dass ein Ermittlungsstand rassistische Ressentiments schüren könnte, darf die Polizei nicht ausbremsen« (BADISCHE ZEITUNG, 17.11.2016).

Zum Anderen bildeten unbegründete Datenschutzbedenken einen Grundstein dieses Täterschutzes. »Hier geht offensichtlich Täterschutz über Opferschutz und Aufklärung«, wird die CDU-Fraktion der Gemeinde Teningen (Baden) in der BADISCHEN ZEITUNG (29.11.2016) zitiert. »Es dürfe nicht sein, dass Mörder und Sexualverbrecher von der Feigheit der Politik und angeblichem Datenschutz profitieren«. Dieser Gedanke findet auch in der STUTTGARTER ZEITUNG Widerhall: »Nun ist es Zeit, die Grenzen zwischen Datenschutz, Täterschutz und Opferschutz neu zu vermessen. In der Abwägung gegenüber dem Eingriff in Grundrechte müssen die Aufklärung schwerster Straftaten und der Schutz vor Tätern, die noch auf freiem Fuß sind, ein höheres Gewicht erhalten. Alles andere würde die Mehrheit der Bürger, von denen sich viele zunehmend Sorgen um ihre Sicherheit machen, kaum verstehen« (10.12.2016). Auch in diesem Zusammenhang weisen Befürworter einer Neuregelung darauf hin, dass ohne erweiterte DNA-Analyse nicht nur die Ermittlungsarbeit, sondern auch der Schutz der ganzen Gesellschaft vor Gewaltdelikten erheblich behindert werde. So bedauerte der Freiburger Polizeipräsident Bernhard Rotzinger 2017: »In manchen Bereichen müssen wir bildlich gesprochen mit der Fußfessel Verbrecher jagen, unsere Ermittler raufen sich manchmal die Haare« (DER SONNTAG, 01.01.2017).

Ein weiteres Argument im »Täterschutz«-Diskurs lautet, dass nicht nur die Opfer vergangener Delikte und deren Angehörige geschützt werden müssten, sondern auch potentielle Opfer zukünftiger Verbrechen. Unbestreitbar ist: Jeder kann zum Opfer werden. Nach Sebastian Wippel, Sprecher der AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag, könnte nun »[d]ie Auswertung von DNA-Spuren ... zur besseren Fahndung nach Tätern beitragen. ... Jeder ermittelte und aus dem Verkehr gezogene Verbrecher stellt keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr dar. Wir dürfen deshalb keinen falschen Täterschutz betreiben, sondern müssen potentielle Opfer präventiv schützen, indem wir auf alle zur Verfügung stehenden Ermittlungs- und Beweismittel zurückgreifen« (SEBASTIAN-WIPPEL.DE am 07.12.2016).
Da die Kategorie des potentiellen Opfers so weit gefasst ist - ich, du, ihr, Sie und vor allem: wir -, wird Opferschutz erstaunlich leicht auf allgemeinen Bürger- und Gesellschaftsschutz ausgedehnt: »Und was ist mit möglichen weiteren Opfern? ... Hier geht es um den Schutz der Gesellschaft« (JUNGE FREIHEIT am 16.11.2016). Dieser Logik zufolge werde dem Staat ohne eine gesetzliche Genehmigung der erweiterten DNA-Analyse ein wichtiges und wirksames Instrument vorenthalten, schwere Gewaltverbrechen, einem als zentral dargestellten Problem unserer Zeit, wirkungsvoll entgegenzutreten. Dass der überwiegende Teil schwerster Gewaltverbrechen im engen sozialen Nahbereich geschieht und die Aufklärungsrate insbesondere bei Tötungsdelikten bereits extrem hoch ist, spielt in diesem Diskurs scheinbar keine Rolle. Wer zur Vorsicht mahnt und etwa an die Unschuldsvermutung erinnert, sieht sich unvermittelt in die Rolle des Komplizen von Verbrechern versetzt.

DNA-Analyse als »technological« fix für Sicherheitsgefühle

Genau wie der Begriff Opferschutz am Ende die gesamte Gesellschaft abdeckt, reicht auch der Nutzen der erweiterten DNA-Analyse (vermeintlich) immer weiter, nicht zuletzt als psychologischer »Heilsbringer«. Hier wird argumentiert, die erweiterte DNA-Analyse böte nicht nur eine Lösung für einzelne Kriminalfälle, sondern auch ganz allgemein für empfundene Sicherheitsdefizite. Befürworter präsentieren die Technologie als probates Mittel, um dem in der Gesellschaft weitverbreiteten und wachsenden Gefühl sozialer Unsicherheit zu begegnen. So ist im Gesetzesantrag des Landes Baden-Württemberg zu lesen: »Schwerwiegende Straftaten wie Entführungs- und Mordfälle oder Sexualstraftaten berühren in besonderem Maße das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung« (Bundesrat Gesetzesantrag des Landes Baden-Württemberg am 03.02.2017). Das sei ein schlagender Grund für die Einführung der neuen Technologie.

Als Ursache für das wachsende Unsicherheitsgefühl werden sowohl der rasante soziale Wandel als auch Risiken größerer Dimension - insbesondere »Terror« - angegeben. Die Schweizer Zeitschrift DAS MAGAZIN versuchte am 18.06.2016 die Entwicklung so zu erklären: »Immer mehr Menschen begannen sich [Ende der 80er Jahre] vor einem Überwachungsstaat zu fürchten. Heute dagegen fürchten viele Bürger vor allem Gewalt und Terror«. Woher die Gefahr kommt? Die AfD macht die »importierte Kriminalität ..., die mit den offenen Grenzen im allgemeinen und der Asylkrise im speziellen einhergeht« verantwortlich (AfD-Berlin, 08.06.2016: http://afd.berlin/pazderski-kritisiert-steigende-auslaenderkriminalitaet/); auch Vertreter der Union beklagen die »Besorgnis erregend[e]« Kriminalität der Flüchtlinge (KÖLNER STADTANZEIGER, 13.04.2017). Die Unsicherheitsgefühle der Bevölkerung hängen stark mit der gefühlten Präsenz des bedrohlichen »Fremden«, des »Anderen« in der Gesellschaft zusammen.

Dieser Diskurs ist besonders beunruhigend, da die erweiterte DNA-Analyse als eine Art »technological fix« für diffuse und wenig trennscharf artikulierte soziale Probleme gesehen wird. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sie imstande sein wird, diese Probleme effektiv zu lösen, wenn man berücksichtigt, wie weitreichend und schlecht definiert letztere sind. Aber genau als einen solchen ‚Heilsbringer‘ scheinen viele Menschen die erweiterte DNA-Analyse in ihrer Sehnsucht nach Sicherheit und Stabilität zu sehen – und genau in diesem Sinne wird für sie von unterschiedlichsten Seiten aus unterschiedlichsten Beweggründen Stimmung gemacht.

Eine Technologie für die Angstkultur

Die Debatte über die erweiterte DNA-Analyse ist ein Beispiel für eine wachsende Angstkultur in Deutschland. Ihr Ursprung liegt aber nicht nur in tatsächlicher, sondern auch – oder vielleicht sogar hauptsächlich – potentieller Kriminalität, es ist eine Angst vor einer unsicheren Zukunft, der Verletzlichkeit des Unbekannten.

Das kann weitreichende Folgen haben und bis in jeden Winkel des politischen Diskurses vordringen. Die Angstkultur birgt das Risiko in sich, dass Beziehungen zwischen Bürgern wie auch die Beziehung zwischen Bürger und Staat neu definiert werden – unter dem Vorzeichen unausgesetzter Verdächtigung. Der Staat hätte dann sowohl den Bürger als ein potentielles Opfer als auch die Gesellschaft vor dem Bürger als einem potentiellem Verbrecher zu schützen.

In einer Kultur der Angst ist Sicherheit ein Nullsummenspiel, und so wird es auch in der Debatte über die erweiterte DNA-Analyse dargestellt. Es sei eine Frage von Datenschutz oder Sicherheit, den Rechten der Verdächtigen oder den Rechten der Opfer; man könne nicht beides leisten. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf Bürger, die versuchen, sich eine Meinung über diese Technologie zu bilden - und wir müssen uns darüber im Klaren sein, ob unsere Einschätzung der Lage auf Hoffnungen und Ängsten oder auf Fakten gegründet ist.

Sarah Weitz ist wissenschaftliche Hilfskraft am Institut Science and Technology Studies der Universität Freiburg. Dr. Nicholas Buchanan ist Wissenschaftshistoriker am University College Freiburg.

Wir möchten Prof. Dr. Veronika Lipphardt und Prof. Dr. Anna Lipphardt für ihre Anregungen und Beiträge für den Artikel danken.

 

Sarah Weitz & Nicholas Buchanan: Eine Technologie der Angstkultur, in: Freispruch, Heft 11, September 2017

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