Der Engel und der Koma-Schläger

Am 16. Juni wurde Senal M. vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Darmstadt der Körperverletzung mit Todesfolge für schuldig befunden und zu drei Jahren und drei Monaten Jugendhaft verurteilt. Das Urteil kam wenig überraschend: Der Beschuldigte hatte zu keinem Zeitpunkt bestritten, einer jungen Frau einen Schlag versetzt zu haben, der dazu führte, dass sie stürzte. Durch den Aufprall auf das Pflaster wurde sie so stark am Kopf verletzt, dass diese kurze Zeit später an den Verletzungen starb. Zur Besonderheit wurde das Verfahren erst durch die große Öffentlichkeit, die dem Fall zuteil wurde. Das Schicksal der Tugce Albayrak beschäftigte wochenlang die gesamte Republik bis hinauf in die höchsten staatlichen Institutionen. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier und Bundespräsident Joachim Gauck kondolierten, der Offenbacher Bürgermeister regte an, eine Mainbrücke nach Tugce Albayrak zu benennen, und Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ durch den Regierungssprecher verlauten, sie habe »große Sympathien« mit dem über eine Internet-Petition verbreiteten Vorschlag, der Getöteten posthum das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Dass die in den Medien verbreitete Darstellung sich in der späteren Hauptverhandlung als gänzlich falsch herausstellte, interessierte nur wenige. Eine Geschichte öffentlicher Vorverurteilung von Thomas Uwer

Thomas Uwer: Der Engel und der Koma-Schläger. Zur öffentölichen Vorverurteilung im Fall Tugce Albayrak, in: Freispruch, Heft 7, September 2015, S. 32-38

Tugce war kein Mensch. Tugce war »ein Engel« (BILD, Tagesspiegel, Frankfurter Rundschau, etc.), ein »Engel der Barmherzigkeit« (FAZ), »eine moderne Märtyrerin« (Rheinische Post), »eine Heldin« (Deutsche Welle), eine »säkulare Jugend-Heilige« (Deutschlandfunk). Sie »stand in der Nachfolge Jesu« (Osthessen News). Tugce war »fleißig« (Die Welt), »engagiert« und »eine mutige Studentin mit türkischen Wurzeln« (Deutsche Welle). Sie war »ein leuchtendes Beispiel für Zivilcourage« (Volker Bouffier, CDU/Ministerpräsident von Hessen), »jemand, der den Menschen Hoffnung gibt« (Der Spiegel). Sie »hat gehandelt, Herz bewiesen« (FAZ), »sie setzte sich für andere ein, verausgabte sich, opferte sich für andere auf« (Nordkurier). Tugce war »jung, schön« (FAZ), »eine junge, zierliche Frau« (Offenbach Post), die »das Richtige getan hat« (Offenbach Post) und eine »hübsche junge Frau mit Schmollmund« (Der Spiegel). Sie wäre außerdem »eine vorbildliche Lehrerin geworden« (Nordkurier), denn sie war »beliebt, jung, talentiert, integriert« (Deutschlandfunk).

Die Liste der mal mehr, mal weniger schamlosen Überhöhungen einer jungen Frau, die infolge einer Auseinandersetzung, eines Schlags und einer Reihe unglücklicher Zufälle starb, ließe sich seitenlang fortsetzen. Mit der Person, die ihr Leben verlor, haben sie im Zweifelsfall wenig zu tun. Eltern mögen in ihren Kindern Engel sehen, Freunde sich als Helden wahrnehmen. Dass aus Tugce Albyarak eine Heilige wurde, ist dagegen einzig einem gesellschaftlichen Bedürfnis geschuldet: Sie wurde zum Ausdruck eines diffusen Selbstbildes, über das Kriminalitätsängste, Integrationsdebatten, Toleranz, die sog. Zivilcourage und zur Not auch die Bibel verhandelt werden.

Der zugrundeliegende Fall hingegen ist so traurig wie unspektakulär. Am frühen Morgen des 16. November 2014 kommt es in einem McDonalds Restaurant zuerst zu einer verbalen, dann zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen junger Leute, in deren Verlauf der später Verurteilte der Tugce Albayrak einen Schlag versetzt. Die Frau stürzt und fällt auf den Kopf, wobei sie sich derart verletzt, dass sie ins Koma fällt und später für hirntot erklärt wird. Dabei ist es sicher nicht alleine die Tragik des Vorfalls, die für die große öffentliche Anteilnahme sorgt. Nur einige hundert Meter entfernt kommt es fast zeitgleich zu einem anderen tragischen Vorfall: Eine junge Frau rast 14 Kilometer in falscher Richtung über die Autobahn und kracht auf der Kaiserleibrücke in ein entgegenkommendes Fahrzeug. Weder die Motive der Geisterfahrerin, noch das Schicksal der schwerverletzten Insassen des anderen Fahrzeugs interessiert die Medien. Das Schicksal Tugce Albayraks dafür umso mehr.

»Heute sind wir alle Tugce.« (Bild, 28.11.2014)

Einer der erstaunlichsten Aspekte des Falls Tugce Albayrak ist, wie schnell die Medien sich nach der Tat verlags- und genreübergreifend auf eine weitgehend einheitliche Erzählung einigten - und wie eisern sie diese bis zuletzt durchhielten, allen im späteren Verlauf der Ermittlungen zutage geförderten widersprechenden Informationen zum Trotz. Dabei waren die wesentlichen Tatsachen über den Vorfall bereits unmittelbar nach der fraglichen Auseinandersetzung bekannt. Am 17. November wird von der Pressestelle der Staatsanwaltschaft Darmstadt/Zweigstelle Offenbach die erste Meldung über eine »handgreifliche Auseinandersetzung« herausgegeben und von der FAZ als Kurzmeldung wiedergegeben. Neben der in solch kurzen Notizen über Unfälle und Straftaten des Wochenendes scheinbar unverzichtbaren Nennung der Herkunft der Beteiligten (»Türkin«, »in Serbien geboren«) fasst die Meldung in etwa zusammen, was die späteren Ermittlungen und Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung ergeben werden: dass es zwischen zwei Gruppen junger Leute zu einer Auseinandersetzung gekommen war, in deren Verlauf »der Mann der Türkin« einen Schlag versetzt hat. »Die Frau prallte mit dem Hinterkopf so unglücklich auf den Boden, dass sie schwere Verletzungen erlitt.«

Es wäre bei dieser Meldung geblieben, hätte nicht BILD am gleichen Tag eine Titelstory über den »Koma-Schläger von Offenbach« gebracht. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt sind alle Bestandteile der folgenden Berichterstattung im Aufmacher der BILD enthalten: Gestützt auf Informationen, die offensichtlich aus Polizeikreisen durchgestochen wurden, und bebildert mit einem im Rahmen der erkennungsdienstlichen Maßnahmen entstandenen Foto des Beschuldigten, präsentiert BILD/Frankfurt die Geschichte der »Lehramts-Studentin Tugce A. (22)«, die »nur einen Streit schlichten« wollte, und des »Koma-Schlägers Sanel M.«, der ein »polizeibekannter Intensivtäter« sei. Erstmals auch findet sich hier die später widerlegte Randerzählung, derzufolge die Getötete zwei Mädchen zur Hilfe gekommen sei, die der Beschuldigte in der Damentoilette von McDonalds bedrängt habe. Es ist diese Geschichte, die wesentlich zum Erfolg der Story beitragen wird.

Als eine der ersten Plattformen greift Focus Online nur Stunden später die BILD-Story auf. Im Zentrum des Berichts, der unter der Überschrift »Weil sie helfen wollte: Junge Frau bei Mc Donalds ins Koma geprügelt« erscheint, steht nunmehr die vermeintliche Rettung »zweier Frauen auf der Toilette des Schnellrestaurants«. »Weitere Gäste halfen der jungen Frau, gemeinsam vertrieben sie die Pöbler aus dem Laden.« Nichts an dieser Darstellung ist, wie man heute weiß, zutreffend. Dennoch wird sie binnen kurzer Zeit von praktisch allen Redaktionen offensichtlich ungeprüft übernommen. Wie schnell die medial erzeugte Erzählung die wenigen bekannten Fakten dabei überlagert, lässt sich bereits am Folgetag anhand eines Berichts der Offenbach Post nachvollziehen. Unter der Überschrift »Junge Frau ins Koma geprügelt« (OP, 18.11.2014) findet sich noch die offizielle Darstellung, wonach die Frau eben nicht »ins Koma geprügelt«, sondern durch den Sturz aufs Pflaster verletzt wurde. Zugleich wird die von BILD behauptete Rettungstat auf der Damentoilette als Grund der Auseinandersetzung angegeben. Erst daraus entsteht jene Kausalität, die ein zielgerichtetes Handeln, das »ins Koma«-Prügeln, nahelegt. Die Story lautet von nun an »weil sie geholfen hat« (musste sie sterben) - für unglückliche Zufälle ist in dieser Erzählung kein Platz.

Tatsächlich übernehmen praktisch alle Medien die falsche Geschichte von der Heldentat auf der Toilette. Es ist eine gute Erzählung, die Geschichte einer jungen Frau, die Zivilcourage gegenüber einem »polizeibekannten Schläger« zeigte und dafür teuer zahlen musste; sie ist so besonders gut, weil sie gleich ein ganzes Bündel von Themen behandelt und damit vielen die Möglichkeit gibt, sich wiederzufinden. Als Ende November 2014 die lebenserhaltenden Maßnahmen der bereits hirntoten Tugce Albayrak beendet werden, verfolgen mehr als zweitausend Menschen das Ereignis live vom Parkplatz vor dem Offenbacher Klinikum aus, darunter auch zahlreiche Prominente, Lokalpolitiker und Bundestagsabgeordnete, die per Twitter berichten, damit ihre Anwesenheit nicht unbemerkt bleibt. Alle größeren Fernsehsender berichten von vor Ort. Es ist ein schauriges Spektakel, an dessen Höhepunkt die Familie der Verstorbenen ans Fenster tritt, als Zeichen, dass Tugce nun tot sei. Die Zuschauer draußen zünden Kerzen an, legen Blumen nieder, weinen - und bedienen ihre Smartphones. Lisa Paus (MdB, Grüne) schreibt »#Tugce ist die Sorte Heldin, die wir brauchen« und Karin Maag (MdB, CDU) ergänzt: »Mit ihrem Mut ist sie uns ein #Vorbild«. Auch die Fraktionsvorsitzende der Grünen Katrin Göring-Eckardt ist vor Ort. Sie twittert ein Foto brennender Kerzen und schreibt: »Vor dem Klinikum Offenbach spürt man Trauer«. Die Bundestagsabgeordnete Ulli Nissen (SPD) wiederum twitterte bereits auf dem Weg nach Offenbach, sie könne »nur noch heulen« und schickt ein Foto jenes Krankenhausfensters hinterher, hinter dem #Tugce vermutlich starb. »Die Menschen rücken in der Trauer um #Tugce ganz nah zusammen«, fasst schließlich Peter Tauber, Generalsekretär der CDU, zusammen. Auch er steht vor der Klinik. Zu diesem Zeitpunkt gehört die tote Tugce Albayrak längst nicht mehr ihren Angehörigen, sondern »uns allen«. Keine zwei Wochen zuvor war Tugce noch völlig unbekannt. Jetzt ist sie #Tugce, eine Heldin. Man könnte Wahlen mit ihr gewinnen.

Die Stunde der Experten

Im Namen #Tugces werden fortan Gottesdienste abgehalten, Unterschriften gesammelt und Online-Petitionen erstellt. In Offenbach kommen regelmäßig Menschen zu einer Mahnwache zusammen, andere demonstrieren vor McDonalds, weil sie meinen, die Fast-Food-Kette müsse mehr gegen Gewalt tun. Es ist für jeden etwas dabei. Özcan Mutlu, der für die Grünen im Bundestag sitzt, erklärt dem Tagesspiegel, dass #Tugce »für Sehnsucht steht«: »Sie hat uns an das erinnert, das scheinbar im Alltag oft vergessen wird.« (Tagesspiegel, 8.12.2014). Bilder der Getöteten tauchen in allen sozialen Medien auf, bei Youtube kann man sich anschauen, wie sie auf dem Abiturientenball Klavier spielt. Alles wird zum Event, selbst die Tatsache, dass die Getötete einen Organspendeausweis besaß. Events, die auch für die Medien zunehmend bedeutender werden, denn Neues gibt es nicht zu berichten.

Zwei Monate lang werden die immer gleichen Halb- und Unwahrheiten ventiliert und auch die bürgerlichen Medien, die ihre Produkte gerne als Qualitätsjournalismus verkaufen, machen mit. In der FAZ wird die falsche Rettungsgeschichte wiederholt ausgemalt und bspw. behauptet, der Täter habe auf dem Parkplatz »bereits auf sie gewartet« (FAZ, 27.11.2014) und ihr dann einen »Schlag mit der Handkante« versetzt (FAZ 28.11.2014). Ansonsten ergeht man sich in Mutmaßungen, wie etwa jene, dass #Tugce eine gute Lehrerin geworden wäre. Fast alle Zeitungen berichten über den Kuchen, den die Familie an ihrem Geburtstag, der zugleich ihr Todestag war, angeschnitten habe. Und wie immer, wenn ein Thema heiß ist, aber keine neuen Meldungen abwirft, schlägt die Stunde der Experten. Sozialpädagogen, Psychologen, Mediziner, Kriminologen, es scheint, als würde jeder, der einen Hochschulabschluss besitzt und sich nicht rechtzeitig hinterm Schreibtisch versteckt hat, zum Kommentar gebeten. So bietet die FAZ die Expertise an, dass »der junge Mann, der ... wohl per Handkantenschlag gewalttätig wurde, ... in machohafter Vorstellung besonders gedemütigt (wurde), weil eine Frau ihn zurechtgewiesen hatte« (FAZ, 29.11.2014). »Bei allem Verständnis«, heißt es weiter, »müssen jugendliche Delinquenten mit konsequenten Richtern rechnen.« In der Offenbach Post analysiert ein Psychologe, die »öffentlich geweinten Tränen seien ein Ventil«, ein »Präventionsexperte« erklärt, wie man richtig in gewalttätige Auseinandersetzungen eingreifen sollte. Es wird viel über Zivilcourage raisoniert, über den »Hasskult« (Frankfurter Rundschau, 4.12.2014) und die unter Jugendlichen verbreitete »Verherrlichung von Gewalt« (ebd.). Alles auf der Grundlage einer falschen Geschichte.

»Ein erloschener Vulkan«

Die ganze Niedertracht, mit der das Schicksal der toten Frau fortan medial ausgeschlachtet wird, zeigt sich nirgends so deutlich, wie dort, wo Journalisten in Ermangelung handfesten Materials ins Lyrische wechseln. Zur Prozesseröffnung sendet der Deutschlandfunk eine Reportage des »Hessen-Korrespondenten« Ludger Fittkau vom Grab Tugce Albayraks. »Die letzte Ruhestätte von Tugce Albayrak ist schön. Das Grab liegt gleich neben einer weiß gestrichenen Friedhofskapelle mit spitzem Giebel. Im Hintergrund erhebt sich der Vogelsberg - ein erloschener Vulkan. Ein Baum direkt über Tugces Grab spendet Schatten.« Punkte fallen auf den Text wie totes Laub. Ganz ähnlich sendet es die Deutsche Welle: »In der Dämmerung ist der Friedhof still... Auf Tugces Grab liegt ein Meer von Blumen. Auf einem weißen T-Shirt, das auf dem Grab liegt, steht: Du bist ein Engel, der Mut gezeigt hat. Das Kerzenlicht flackert.« Natürlich flackert es. Denn durch unsere Gesellschaft weht ein kalter Wind: »In einer Gesellschaft, die sich im Grundsatz darauf verständigt hat, dass ... sich die Menschen nicht gegenseitig auf offener Straße erschlagen, sind Ereignisse wie der Tod Tugces eine tiefgehende soziale Irritation. Die Zivilgesellschaft im Internet oder auf den Straßen Hessens reagiert - verstört, zornig und traurig.« (wiederrum Ludger Fittkau, Deutschlandfunk, 29.11.2014) Das wahrscheinlich schönste Stück Besinnungsliteratur zum Fall Tugce Albayrak aber veröffentlicht die Wochenzeitung Die Zeit zum Beginn der Adventszeit. Die Autorin Helga Hirsch, die auch den Bundespräsidenten Joachim Gauck berät, nimmt den Fall zum Anlass, sich mit dem Offenbacher Gangsta-Rapper Haftbefehl zu befassen und ist: »erschrocken«. »Offenkundig läuft in einer Gesellschaft etwas falsch, wenn sie solchen Rap braucht«. Der Zusammenhang zum Fall besteht darin, dass der Beschuldigte angeblich gerne Haftbefehl hört. Und darin, dass #Tugce mittlerweile eben für alles steht und daher auch für die als Kulturkritik getarnte Angst des Bürgertums vor der (männlichen) Jugend und ihrer Kultur, die sie nicht versteht. Der britische Kriminologe Stanley Cohen bezeichnete diese Reaktion bereits Anfang der siebziger Jahre als »Sign of the Times«-Motiv bei der Produktion »moralischer Panik« in der Öffentlichkeit. »Although the image of the actor is predominantly a free-will rather than a determinant one, the behaviour is seen as related to a contemporary social malaise. (...) [A] consequence of seeing the behaviour as an inevitable result of the way society is going, is that situational factors are played down.«|1

Situationsbedingte Faktoren spielen bei der Berichterstattung über den Fall Tugce Albayrak zu diesem Zeitpunkt ohnehin längst keine Rolle mehr. In der späteren Hauptverhandlung wird die Geschichte der Rettung auf der Damentoilette, die den Kern der #Tugce-Erzählung ausmacht, derart von Zeugen widerlegt - unter anderem auch durch die beiden vermeintlich belästigten Mädchen selbst -, dass kaum ein anderer Schluss bleibt, als der, dass keiner der berichtenden Journalisten je auf die Idee kam, nachzufragen und die Geschichte ernsthaft in Frage zu stellen. Möglicherweise waren sie selbst zu sehr dem Zauber des Wintermärchens erlegen; möglicherweise war die Erzählung aber auch derart hermetisch, dass für Zweifel kein Platz blieb. Gisela Friedrichsen beschreibt eine solche Situation anschaulich am Fall Dominik Brunner, der auch in der #Tugce-Berichterstattung immer wieder als Beispiel für Zivilcourage auftaucht|2. Dominik Brunner hatte Jugendlichen bei einer Auseinandersetzung in der Münchner S-Bahn beigestanden und war daraufhin selbst in eine Auseinandersetzung geraten, in deren Folge er starb.

»Dass Brunner nicht an den Schlägen und Tritten starb, was man bei dem Stichwort "Totgetreten" erwartet hätte, kam ... erst in der Hauptverhandlung heraus. Er hatte keine Knochenbrüche und keine inneren Verletzungen davongetragen. Er starb, weil sein Herz krankhaft vergrößert und jede Art der Aufregung gefährlich für ihn war. Dass der sogenannte Held mit seinem Faustschlag und der sich daraus entwickelnden Schlägerei ein unkalkulierbares Risiko eingegangen war ... interessierte niemanden mehr. ... Bemerkenswert fand ich, dass keiner der Reporter, die wie ich die Hauptverhandlung verfolgten, zu berichten gewagt hatte, wie viele zum Teil blutende Verletzungen vor allem der eine Angeklagte durch Brunners Schläge davongetragen hatte. Ein Rechtsmediziner zählte sie auf. Von dieser Gewalt war nirgends die Rede. Sie passte nicht zum Heldenimage.«|3

Auch im Fall Tugce Albayrak ist die Geschichte zu gut, um durch Zweifel verwässert zu werden. Selbst als BILD am 30. November 2014 das - mutmaßlich ebenfalls von Polizeiquellen durchgestochene - Video einer Überwachungskamera veröffentlicht, das einen Teil der Auseinandersetzung und vor allem den Schlag zeigt, kommen keine Zweifel auf, obwohl das Bildmaterial wenigstens diesen Teil der medial verbreiteten Version klar widerlegt: Die Getötete wird offenkundig weder tot-, noch ins Koma geprügelt, ihr wird nicht aufgelauert und sie wird auch nicht »abgepasst«; sie nimmt vielmehr selbst aktiv an der Auseinandersetzung teil, sie erhält keinen »Hieb« und keinen »Schlag mit der Handkante«, sondern einen Schlag ins Gesicht (an den Kopf). Trotzdem wird die Geschichte vom »Koma-Schläger« weiterverbreitet. »Der Fall ist geklärt« behauptet die Frankfurter Rundschau am 3. Dezember 2014, »es gibt nichts Neues. Sanel M., ein 18-jähriger Mann, polizeibekannt, ... schweigt. [Er] passte sie draußen ab und schlug blitzartig zu.« Er hat sie »ins Koma geprügelt.« (Frankfurter Rundschau, 3.12.2014). Es ist davon auszugehen, dass der Autor des Beitrags das Video gesehen hat - und doch nur sehen konnte, was er ohnedies bereits zu wissen glaubte.

Ein feiger Frauenschläger

Weniger gut ist die Geschichte freilich für den Beschuldigten. Er bekommt einen gesellschaftlichen Mechanismus zu spüren, den Stanley Cohen als ehernes Gesetz »moralischer Panik« beschrieben hat: »Working-class yobs are the most enduring of suitable enemies«.|4 Er ist der »Folk Devil«, der moderne Teufel als Gegenstück zur »säkularen Heiligen«. Und je lichter #Tugce strahlt, desto mehr verdunkelt sich das Antlitz Sanel M.s in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Der Beschuldigte wird in der Berichterstattung zum Inbegriff »gescheiterter Integration«, ein »am Rande Serbiens geborene(r) Arbeitslose(r)« (Die Welt, 28.11.2014), ein »polizeibekannter Intensivtäter« (Bild, 18.11.2014), »Koma-Schläger«, »feiger Frauenschläger« (ebd.), ein »Schlagetot«, eine »Terrorzelle« (Darmstädter Echo, 29.11.2014), ein »Prügel-Offenbacher« (BILD, 27.1.2015). Er ist der »Tugce-Killer« (BILD, 26.1.2015).

Im Januar wird der Beschuldigte in Untersuchungshaft von einem Mithäftling angegriffen und verprügelt. Am Tag darauf macht BILD-Frankfurt mit einer Story über den Antrag des Beschuldigten auf, aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden: »Tugce-Killer frei? Ermittler WARNEN vor Flucht«. BILD beruft sich erneut auf Informationen aus Polizeikreisen, wonach die Gefahr bestehe, dass Sanel M. sich aufgrund der zahlreichen gegen ihn gerichteten Drohungen absetzen könnte. Zugleich wird die bereits bekannte falsche Darstellung des Tatgeschehens wiederholt: »Der Frust über die 23-jährige, die ihm die Anmach-Tour vermasselte, saß bei Sanel M. offenbar so tief, dass er Minuten später auf dem Parkplatz die zierliche Deutsch-Türkin ins Koma prügelte.« (BILD, 27.1.2015) Später, Anfang Juni, wird das OLG Frankfurt über die erneute Haftbeschwerde urteilen, dass »nach Auffassung des Senats eine Fluchtgefahr darin begründet, dass der Angeklagte hier in Deutschland – ggf. auch aufgrund der umfangreichen und polarisierenden medialen Berichterstattung - massiv bedroht wird.« (OLG Frankfurt 1 Ws 53/15) Für den Folk Devil Sanel M. wirkt sich die mediale Vorverurteilung nicht einmal strafmildernd aus, im Gegenteil: Als wäre sie der bewaffnete Arm der Justiz, hat die Springer-Presse systematisch die Gründe dafür geliefert, den Beschuldigten zu seinem eigenen Schutz in Haft zu halten. Sekundiert wurde ihr dabei von prominenten Vertretern des Staates, wie dem Bundespräsidenten Joachim Gauck, der lange vor Beginn der Hauptverhandlung im Dezember 2014 äußerte, Tugce Albayrak sei »zum Opfer eines brutalen Verbrechens« geworden (F.A.S. 7.12.2014), von twitternden Bundestagsabgeordneten und den bürgerlichen Medien von FAZ zum Deutschlandfunk, die sich ansonsten weit über der schrillen Berichterstattung der Yellow-Press wähnen. Der Beschuldigte war verurteilt und bestraft, bevor die Beweisaufnahme überhaupt richtig begonnen hatte.

Als Sanel M. schließlich verurteilt wird, gehen auch Staatsanwaltschaft und Gericht auf die Berichterstattung ein und kritisieren ungewöhnlich deutlich die mediale Darstellung des Verurteilten. Gegen den Beschuldigten sei eine »Kampagne« losgetreten worden, alle Zeugenaussagen seien durch die Berichterstattung »vergiftet« gewesen. Aber das interessiert zu diesem Zeitpunkt ohnehin niemanden mehr.
Keine der hier zitierten Zeitungen und auch kein Sender hat sich nach dem Urteil kritisch mit der eigenen Berichterstattung im Fall Tugce Albayrak auseinandergesetzt. Etwa eine Woche nach dem Urteil gab die Pressestelle des Bundespräsidenten unter ferner liefen bekannt, die Prüfung des Antrags auf Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Tugce Albayrak habe ergeben, dass die strengen formalen Voraussetzungen für eine posthume Verleihung des Ordens im vorliegenden Fall nicht erfüllt seien.

Anmerkungen :

1 : Stanley Cohen: Folk Devils and moral panics, [1972] London/New York 2002, 62
2 : »Der entsetzliche Tod der jungen Deutsch-Türkin erinnert schlaglichtartig an einen ganz ähnlichen Fall... Damals hatte sich der Manager Dominik Brunner in einer S-Bahn schützendvor wehrlose Schüler gestellt und war selbst zu Tode geprügelt worden.« (Deutsche Welle)
3 : Gisela Friedrichsen, Kriminalität als Nervenkitzel, in Thomas Hestermann (Hg.), Von Lichtgestalten und Dunkelmännern. Wie die Medien über Gewalt berichten, Wiesbaden 2012, 48 f.
4 : Stanley Cohen, a.a.O., X

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