Semantische Störung

Die Reform der Sicherungsverwahrung als Fall von Postdemokratie: Um Verurteilte mit gescheiterter oder befristeter Sicherungsverwahrung weiter oder wieder einsperren zu können, soll ihnen künftig eine psychische Störung attestiert werden. Dabei befanden sie sich nur deshalb in der Sicherungsverwahrung, weil ihnen zuvor eine volle Schuldfähigkeit bescheinigt worden war. »Macht nichts«, sagt der Gesetzgeber, denn sie landen ja nicht in der Sicherungsverwahrung, sondern in der Therapieunterbringung.
: von Thomas Uwer

 

Thomas Uwer: Semantische Störung - Die Reform der Sicherungsverwahrung als Fall von Postdemokratie, in: Freispruch, Heft 1, Sommer 2012

Wer die rechtspolitische Diskussion um die Neuordnung der Sicherungsverwahrung in den vergangenen Jahren verfolgt hat, muss sich unweigerlich an die düstere Analyse des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch erinnert fühlen, der den westlichen Gesellschaften ein kontinuierliches Abdriften in die »Postdemokratie« bescheinigt|1. Ein formal-institutionelles Gerüst bleibt zwar erhalten, Entscheidungen aber werden zunehmend auf anderer, informeller Ebene gefällt. Es handelt sich um »eine Scheindemokratie im institutionellen Gehäuse einer vollwertigen Demokratie«.|2

So vermittelte bereits der erste sog. »Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zur Stärkung der Führungsaufsicht« des Bundesministeriums der Justiz vom 30.06.2010 nur noch dem reinen Namen nach den Anschein, die Expertise betroffener Verbände sei ernsthaft gefragt. Noch bevor die Frist zur Übersendung von Stellungnahmen an das BMJ abgelaufen war, wurde der »Diskussionsentwurf« bereits innerhalb der Koalition als Regierungsentwurf (resp. »Formulierungshilfe«) beschlossen. Es folgten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, das die Hürden für den Gesetzgeber noch einmal ein wenig höher legte, und ein weiterer Referentenentwurf, der nun ohne spürbare Beeinflussung durch Stellungnahmen oder Interventionen von Verbänden zum Gesetzentwurf wurde.

Dabei drängt sich insgesamt der Verdacht auf, dass sich die »Reform« der Sicherungsverwahrung an wesentlichen Punkten auf das Abschleifen störender Formulierungen beschränkt, die
offenlegen könnten, worum es in allen vorgelegten Entwürfen eigentlich geht: um ein unbeirrtes Festhalten am gescheiterten System der Sicherungsverwahrung. »Reform« wird semantisch inszeniert, anstelle von »Verwahrung« ist von »Sicherungsunterbringung« die Rede; grundlegende diagnostische Probleme indessen werden durch die Einführung des Begriffs einer »psychischen Störung« einfach überspielt. Tatsächlich sieht das sog. Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) vor, die nachträgliche Sicherungsverwahrung über den Umweg durch das Behandlungszimmer praktisch wieder einzuführen, indem jenen, denen zuvor mehrfach volle Schuldfähigkeit attestiert worden war, nunmehr eine »psychische Störung« bescheinigt wird.

Das geht vielen Länderregierungen noch nicht weit genug. Um deren politische Zustimmung zu erkaufen, wurde in den nun anstehenden Entwurf eines Gesetzes zur »bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung« unter Fernerliefen auch die Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach dem Jugendstrafrecht aufgenommen, die mit dem Abstandsgebot nichts, mit dem Bedürfnis nach mehr Härte vor allem bei jugendlichen Straftätern aber eine ganze Menge zu tun hat. Seit Jahren warnen Experten der Jugendstrafrechtspflege, der Kriminologie und der Jugendpsychologie vor den gravierenden Folgen einer potentiell lebenslangen Haft für Jugendliche. Dennoch ist die Ausweitung der Maßregel den Verfassern des Entwurfs nicht einmal eine mit empirischen Daten gestützte Erklärung wert.
Vor diesem Hintergrund darf es nicht verwundern, dass die jüngste Sachverständigenanhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestages mit der beispiellos kurzen Frist von exakt 14 Tagen am 13. Juni 2012 angekündigt wurde. Die enge Terminierung folgte dem inner-institutionellen Zwang nach rascher Erledigung vor der nahenden Sommerpause. Politisch ist der Entwurf längst beschlossene Sache, die Anhörung war lediglich Teil eines leeren institutionellen Gehäuses, ein Demokratieritual ohne konkrete Wirkung.
Und es darf auch nicht verwundern, will aber doch gesagt sein, dass sich auf der Liste der geladenen Experten kein einziger psychiatrischer Sachverständiger für Gefährlichkeitsprognosen befand, obwohl die vermeintliche »Reform« der Sicherungsverwahrung doch im Kern genau darin besteht, zuvor als voll schuldfähig anerkannte Straftäter nunmehr mit dem Etikett der »psychischen Störung« zu versehen, um sie in eine therapeutische Unterbringung als Substitut zur Sicherungsverwahrung einweisen zu können. Bereits vor Jahren hat der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier in ähnlichem Zusammenhang bemängelt, dass das Ziel solcher Veranstaltungen »gerade nicht die Gewinnung von Expertise [ist], da die notwendigen Daten ebenso wie vielfältige Konzepte längst vorliegen und bekannt sind. Ihre wesentliche Funktion besteht vielmehr darin, die Durchsetzungschancen zu erhöhen«.|3

Durchsetzen muss sich die Sicherungsverwahrung politisch nicht mehr. Wäre nicht der EGMR gewesen, der die deutsche Regelung als konventionswidrig beurteilte, die Maßregel wäre wohl niemals ernsthaft in Frage gestellt worden. Außer von uns natürlich. Die Strafverteidigervereinigungen lehnen die Sicherungsverwahrung seit Jahren konsequent ab: Sie ist grundsätzlich falsch und nicht reformierbar. Auch die jüngsten Entwicklungen zeigen letztlich nichts anderes. Statt an solchen »Reformen« zu arbeiten, wäre es höchste Zeit, nach grundsätzlichen Alternativen zu suchen und die Debatte in Form einer echten Diskussion zu öffnen.

Thomas Uwer ist Mitarbeiter im Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen

Anmerkungen:

1 : Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt/Main 2008 (Oxford 2004)
2 : Claudia Ritzi/Gary S. Schaal: Politische Führung in der Postdemokratie, in: APuZ, 2-3/2010, S. 10
3 : Hans-Jürgen Papier, Reform an Haupt und Gliedern. Eine Rede gegen die Selbstentmachtung des Parlaments, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 31. Januar 2003, S. 8

 

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