Strafverteidigertag Rechtspolitik

kehr aus

Die türkische Justiz nach dem Putsch.
Eine Einleitung.

Eine Anwältin, die einen Mandanten verteidigt, dem die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird, ist deshalb genauso wenig »Terroristin«, wie ein Journalist, der über ein Verbrechen berichtet, deshalb ein Verbrecher ist. In der Türkei kommt selbst eine einfache Feststellung wie diese einem Hochverrat gleich. Denn in der Regel haben die dort inhaftierten Strafverteidiger und Journalisten nichts anderes getan, als eben ihren Beruf auszuüben und sind alleine deshalb zum Ziel staatlicher und parastaatlicher Gewalt geworden.
Seit dem Putsch im Juli 2016, dessen Umstände bis heute nicht nachvollziehbar aufgeklärt sind, rollt eine erneute Welle der Säuberungen über das Land. Die Repressionen begannen wenige Stunden nach dem gescheiterten Putsch und folgten schwarzen Listen, die offenkundig genau für diesen Fall bereits vorbereitet waren. Es dauerte keine 48 Stunden, da waren bereits 2 245 Richterinnen und Richter abgesetzt. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass 50 000 Menschen seitdem in Haft genommen wurden, über 150 000 in Polizeigewahrsam genommen. Und auch die Zahl der verhafteten und verfolgten Anwältinnen und Anwälte ist sprunghaft angestiegen, überwiegend übrigens Strafverteidiger. Gegen anderthalb Tausend Rechtsanwälte laufen Strafverfahren, 572 wurden in Haft genommen, etwa 80 sind bereits zu - zum Teil mehrjährigen - Haftstrafen verurteilt worden. Der stets erhobene Vorwurf: Mitgliedschaft in, Unterstützung einer, Propaganda für eine terroristische Organisation.
Das ist weder neu, noch kam es wirklich überraschend. Schon seit Mitte des letzten Jahrzehnts baut Recep Tayyip Erdoğan die Türkei zu einer konservativ-islamischen Zwangsanstalt um. Dazu gehört, dass die AKP-Regierung mehr als 100 neue Gefängnisse bauen ließ mit Platz für 200 000 Inhaftierte - auch Kinder und Jugendliche zählen dazu. Nach Angaben des türkischen Justizministeriums saßen im vergangenen Jahr 2 578 Minderjährige im Gefängnis, mehr als 70 Kinder und Jugendliche haben sich in den vergangenen Jahren in der Haft das Leben genommen.
Und auch schon lange vor dem Putsch, hat die AKP begonnen, die Strafjustiz und das Strafrecht gründlich umzukrempeln. Zwischen 2002, dem Jahr der Regierungsübernahme durch die AKP, und 2013 wurden mehr als anderthalb Tausend neue Gesetze verabschiedet, das Strafgesetzbuch etwa 200 mal geändert. Und auch vor dem Putsch wurden Anwälte bereits eingeschüchtert und - wenn sie die falschen Mandanten verteidigten - eingesperrt. Im Freispruch berichteten Gilda Schönberg (freispruch # 3, August 2013) und Franziska Nedelmann (freispruch # 10, März 2017) bereits darüber.
Auch die Justiz und die Verfolgungsbehörden blieben nicht verschont. Im Dezember 2013 deckten Ermittler einen Korruptionsskandal auf, in den die Erdoğan-Familie und weitere führende AKP-Funktionäre unmittelbar verwickelt waren. In den Medien tauchte der Mitschnitt eines Telefonats zwischen Recep Tayyip Erdoğan und dessen Sohn Bilal auf, in dem letzterem die Anweisung gegeben wird, Geld vor den Ermittlern aus dem Hause zu schaffen. Erdoğan und unmittelbar von seiner Familie kontrollierte Medien (wie die Boulevardzeitung Sabah) machten umgehend die »Parallelstruktur« der Gülen-Bewegung für die Ermittlungen verantwortlich. Anderthalb Jahre später war - neben sämtlichen ermittelnden Polizeibeamten und Staatsanwälten - auch der zuständige Ermittlungsrichter entlassen. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
Das war kein Ausnahmefall. Wann immer sich die Justiz und die Verfolgungsbehörden an die AKP oder an Erdoğan selbst heranwagten, wurden Richter versetzt und Staatsanwälte entlassen. Jan Keetman, der in diesem Heft über die deutsch-türkische Panzerfreundschaft schreibt, beschrieb bereits im März 2016 die Säuberung der türkischen Justiz durch die AKP-Regierung (freispruch # 8, März 2016).
Mit dem im Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand wurde die zuvor schon praktizierte Verfolgung und Unterdrückung jeder Opposition, von Journalisten, Anwälten und Richtern nur quasi legalisiert. Dies reicht so weit, dass nach türkischem Recht zuvor strafbare Handlungen von Verfolgungsorganen (i.e. Folter) im Zuge der »Terrorbekämpfung« straffrei gestellt werden. Erdoğan regiert seit Juli 2016 per Dekret und schleift die letzten Widerstände in Justiz und Verwaltung. In diesem Heft dokumentieren wir Teile eines Berichts der »Arrested Lawyers Initiative«, einer Organisation von ins Exil geflohenen Rechtsanwälten aus der Türkei, dazu.
Andererseits hat der Ausnahmezustand auch eine neue Quantität der Verfolgung mit sich gebracht. Die schiere Masse an Verhafteten einerseits, der ungeheure Druck, der auf Anwälten lastet, führt dazu, dass Beschuldigte vielfach keinen Verteidiger mehr finden, der bereit oder in der Lage wäre, ihren Fall zu übernehmen. Die Konten der unter »Terrorverdacht« Verhafteten werden in der Regel ohnehin beschlagnahmt, so dass sie einen Anwalt selbst dann, wenn sie einen finden, kaum bezahlen können. Diese Maßnahmen, zusammen mit überlanger Untersuchungshaft (neuerdings bis zu sieben Jahre möglich) wirken existenzvernichtend. Der Erdoğan-Staat ist auf die Verurteilungen einer willfährigen Justiz nicht angewiesen. Unter dem Ausnahmezustand reichen Verdacht, Behauptung und Ermittlung völlig aus, ein Leben zu zerstören.
All dies kann jeder wissen, der es will, nicht erst, seit über Deniz Yücel auch die deutsche Öffentlichkeit der Situation mehr Aufmerksamkeit schenkt. Dennoch galt Erdoğan hierzulande lange sogar als Hoffnungsträger - und bis heute hält die Bundesregierung hartnäckig an dem Glauben fest, durch eine »Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen« - also ein paar Panzer hier, ein paar Flüchtlinge dort - den Erdoğan-Staat zu einem Kurswechsel bewegen zu können. Von gelegentlicher handwarmer Kritik abgesehen herrscht business as usual.
Was auch immer die Türkei von der Bundesregierung bekommen hat, damit Deniz Yücel aus der Geiselhaft freikommt, der Tee, den Sigmar Gabriel seinem »Freund« Mevlüt Cavusoglu serviert hat, war es sicher nicht alleine. Und auch, dass Gabriel im Fall Yücel »auf ein rechtsstaatliches Verfahren hofft«, ist bestenfalls ein schlechter Witz. Weder, dass Deniz Yücel ein Jahr in Haft saß, ohne zu wissen, warum, noch die Art und Weise, auf die er frei kam, haben auch nur im Entferntesten mit Rechtsstaatlichkeit irgendetwas zu tun. Und solange weiter hunderte Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger in der Türkei nur deshalb einsitzen, weil sie ihren Beruf ausgeübt haben, kann es dort keinen Rechtsstaat und kein rechtsstaatliches Verfahren geben.

Thomas Uwer ist Geschäftsführer im
Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen.

Thomas Uwer: kehr aus, in: Freispruch, Heft 12, März 2018

Alle Rechte am Text liegen bei den Autoren - Nachdruck und Weiterverbreitung nur mit Zustimmung der Autoren.