Strafverteidigertag Rechtspolitik

Kommissar Wattestäbchen

Darüber, dass die erweiterte DNA-Analyse kommen wird, herrscht unter Experten weitgehend Einigkeit.
Ein Symposium am ‚Freiburg Institute for Advanced Studies‘* diskutierte nun auch die Risiken, die damit einhergehen. Einige der Expert*innen haben wir um einen Beitrag gebeten. Eine Einleitung von Thomas Uwer.

 

Horst Herold hatte einen Traum: »Ich erstrebe einen Strafprozeß, der ... frei ist von Zeugen und Sachverständigen. Der sich ausschließlich gründet auf dem wissenschaftlich nachprüfbaren, meßbaren Sachbeweis.« Kommissar Computer, wie Herold genannt wurde, glaubte fest daran, dass der technische Sachbeweis in naher Zukunft bereits die fehlerhafte richterliche Wahrheitsfindung ablösen würde. »Nach meiner Theorie wäre, so schrecklich das klingt, auch der Richter entbehrlich.« Spuren sollten mit neuen technischen Verfahren ausgewertet, Daten zum automatisierten Abgleich computergestützt gespeichert werden.

Mitte der 80er Jahre schien es soweit: In den USA wurde die DNA-Analyse erstmals in der Forensik eingesetzt, um Tatortspuren einem Verdächtigen zuordnen zu können (Colin Pitchfork Case 1985). Das ultimative Beweismittel schien gefunden. Zwar erhielt die erste Begeisterung für den ‚Superbeweis’ DNA bereits 1989 einen empfindlichen Dämpfer, als in einem New Yorker Verfahren die angewandte DNA-Analyse vom entscheidenden Gericht als unzulänglich erklärt wurde (People v. Castro 1989). Wissenschaftliche Fortschritte erlaubten es Forensikern aber bald nicht nur, immer kleinere Mengen an Spurenmaterial auszulesen (bereits Anfang der 90er Jahre: sichtbare Spuren im Millimeterbereich) und die Analyse mit Hilfe des autosomalen Short Tandem Repeat Profiling (STR) in deutlich kürzerer Zeit zu leisten, sondern machten die Methode auch verlässlicher. Bei der heute üblichen Analyse liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei einer Übereinstimmung zweier vollständiger DNA-Profile nicht um dieselbe Person handelt, im Bereich von eins zu so vielen Milliarden, dass sie als praktisch nicht vorhanden gelten kann, auch wenn dies theoretisch möglich ist. Der DNA-Analyse haftet daher der Ruch der Unfehlbarkeit an. Zeugen mögen lügen, sie mögen Entscheidendes vergessen haben oder sich täuschen - die Blut- oder Spermaspur lügt nie. Oder doch?

In der Praxis ist die forensische DNA-Analyse viel fehleranfälliger, als gerne behauptet wird. Die Aussagewahrscheinlichkeit sinkt mit mangelnder Qualität oder Vollständigkeit des Materials dramatisch. Und da immer kleinere Spuren ausgewertet werden können, ist das Material, das tatsächlich ausgewertet wird, auch immer bruchstückhafter. Mischspuren mehrerer Personen führen zu erheblichen Fehlerquellen, Spuren werden eingeschleppt. Die Spannbreite der Fehlerquellen reicht von der Kontamination des Tatorts mit fremder DNA (durch Polizeibeamte, Zeugen, Forensiker), über Kontaminationen im Labor und fehlerhaftes Arbeiten dort (falsches Übertragen von Daten in Tabellen, Zahlendreher etc.), bis hin zu fehlerhaften Rückschlüssen aufgrund des Untersuchungsergebnisses. Dass die DNA einer Person an einem Ort gefunden wird, sagt eben nicht zwingend etwas darüber aus, wie diese dorthin gelangt ist. Was das für die Strafverteidigung gegen den DNA-Beweis bedeutet, beschreibt Thomas Bliwier in diesem Heft.

Beispiele für fehlerhafte DNA-Beweise oder gravierende Fehlinterpretationen vorliegender Analysen gibt es einige. In vielen Fällen hatten sie drastische Folgen für die fälschlich Beschuldigten. Da ist der Fall von Adam Scott, der wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung einer Frau in Manchester fünf Monate in Untersuchungshaft saß, weil ein Gutachten behauptete, seine DNA sei im Genitalbereich des Opfers gefunden worden. Dem DNA-»Beweis« wurde blind gefolgt, obwohl vieles für Scotts Behauptung sprach, er sei in seinem ganzen Leben nicht in Manchester gewesen. Tatsächlich wurde Scotts DNA im untersuchenden Labor irrtümlich auf die Tatortspuren übertragen.

Da ist der Fall Amanda Knox, der »Engel mit den Eisaugen«, wie die Presse sie nannte, die gemeinsam mit ihrem Freund fälschlicherweise der Beteiligung am Mord an ihrer Mitbewohnerin im italienischen Perugia beschuldigt wurde und vier Jahre in Haft saß, bis sie von einem Berufungsgericht freigesprochen wurde. Die DNA des Mordopfers, die zusammen mit derjenigen von Amanda Knox an einem Brotmesser gefunden wurde, ist vermutlich durch Ermittlungsbeamte »eingeschleppt« worden.

Und da ist der Fall des Phantoms von Heilbronn, über den Anna Lipphardt in dieser Ausgabe schreibt. Die DNA-Spur einer »unbekannten weiblichen Person« war aufgrund kontaminierter Materialträger in halb Europa an allen möglichen Orten und im Zusammenhang mit den unterschiedlichsten Straftaten identifiziert worden. In der Vorstellung der (männlichen) Ermittler aus Baden-Württemberg entstand dann das Bild einer hochmobilen, extrem kriminellen und kaltblütigen Osteuropäerin. Zigeunerromantik verschmolz mit Kill Bill zu einer Super-Roma, die mordend und stehlend durch Europa zieht und die Polizeibehörden zum Narren hält. Man muss keine zwanzig Semester Psychologie studiert haben, um eine Idee davon zu bekommen, aus welcher dunklen Ecke des Unbewussten dieses Phantom gekrochen kam.

Die ganze Affäre wäre nur komisch, wären nicht über lange Zeit - und selbst nach Bekanntwerden der Panne noch - Unschuldige aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur in Deutschland stets verdächtigten Minderheit der Roma ins Visier der Ermittler geraten und wäre damit nicht schon wieder eine derjenigen Minderheiten für eine Tat des NSU verantwortlich gemacht worden, gegen die sich Hass und Gewalt eben jener Nazi-Terroristen richtete.

Ausgerechnet aus Baden-Württemberg kommt nun der Vorstoß, über die bislang mögliche DNA-Spur hinaus die sog. »erweiterte DNA-Analyse« einzuführen. Und der hat es in sich. In dem gemeinsam mit Bayern eingebrachten Entwurf werden in § 81e Absatz 2 StPO folgende Sätze 2 und 3 eingefügt:
»Ist unbekannt, von welcher Person das Spurenmaterial stammt, dürfen auch Feststellungen über das Geschlecht, die Augen-, Haar- und Hautfarbe, das biologische Alter sowie die biogeographische Herkunft der Person getroffen werden.«

Damit wandelt sich die Funktion der DNA-Analyse grundlegend. Während bisher die am Tatort aufgefundene DNA mit derjenigen eines konkret Tatverdächtigen abgeglichen wird, dient die Analyse eines DNA-Profils nun der Ermittlung möglicher, noch unbekannter Tatverdächtiger. Über die Herkunftsanalyse, die Haut-, Haar- und Augenfarbe eines Spurenlegers soll der Kreis möglicher Verdächtiger aufgrund äußerer Merkmale und der (vermeintlichen) Herkunft eingegrenzt werden.

Idealerweise gehört der Spurenleger dabei einer Minderheit an - ergibt das DNA-Profil in Niedersachsen, dass der Spurenleger blond bis rotblond, weiß, in etwa blauäugig (aber zumindest nicht braunäugig) ist und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus Nordeuropa stammt, dann ist diese Information, was die Ermittlung möglicher Tatverdächtiger anbetrifft, einen Blumentopf wert. Ergibt dieselbe Spur in einem niedersächsischen Dorf (sagen wir beim Harz) mit jahrhundertelanger Inzest und einer kleinen, aber verbissen angefeindeten Flüchtlingsunterkunft, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen dunkelhäutigen Spurenleger mit braunen Augen und schwarzen Haaren handelt, dessen Vaterschaftslinie statistisch gehäuft irgendwo zwischen Istanbul und Teheran vorkommt, dann sieht die Sache schon anders aus. Peter Pfaffelhuber geht in seinem Beitrag genauer darauf ein.

Damit ist auch bereits ein Teil des Problems benannt: Herkunftsanalysen sind - wie die Analyse äußerer Merkmale (Auge-, Haut- und Haarfarbe) - nur dann eine möglicherweise sinnvolle Ergänzung von Ermittlungen, wenn die Spur nicht aus einer Mehrheitsbevölkerung stammt. Anders formuliert: Sie dienen der Identifizierung von Minderheiten. Dies ist umso problematischer, als die Zuverlässigkeit der verschiedenen Analysen stark variiert und wissenschaftlich sehr unterschiedlich eingeschätzt wird (siehe auch hierzu den Beitrag von Peter Pfaffelhuber in diesem Heft). Aussagen zur sog. biogeographischen Herkunft werden auf der Grundlage einer vergleichsweise kleinen Datenbasis bestimmt, sind ungenau (Kontinentalbestimmung) und letztlich »historische Forschung«. Im Zuge steigender Mobilität von Menschen bereits seit Beginn der Industrialisierung sagen die mit hohem technischem Aufwand analysierten Daten der Vaterschaftslinien nur noch wenig über das tatsächliche Erscheinungsbild und die Herkunft einer Person aus. In klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada oder Israel, aber auch bereits in Städten wie London oder Paris, sogar in Berlin-Spandau ist die von Rassisten perhorreszierte Durchmischung von Herkunftslinien längst erfreulich weit fortgeschritten. Welche »biogeographische Herkunft« aber hat die Tochter eines koreanischen Vaters und einer spanischen Mutter, deren Vater wiederum ein durchreisender Australier war und dessen Mutter noch die genetische Spur eines irischen Missionars in sich trägt? Und was würde sie für die Ermittlungen in einem Gewaltdelikt bringen?

Was bedeutet aber umgekehrt die Information, dass die am Tatort eines Gewaltdeliktes gefundene Spur zu einer hohen Wahrscheinlichkeit (über 90 Prozent) von einem schwarzhaarigen Mann stammt, der mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (um die 50 Prozent bezogen auf die Vaterschaftslinie) einem vorderasiatischen Land »entstammt«? Nur hartgesottene Funktionäre der Polizeigewerkschaften würden behaupten, dass eine solche Information zu einem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen diese nicht entscheidend in eine Richtung lenkten, unabhängig davon, wie unterschiedlich die Wahrscheinlichkeitsaussagen tatsächlich sind.

Kosten und Nutzen sind selbstverständlich auch bei der Einführung neuer Ermittlungsmethoden zu kalkulieren, oder - anders formuliert - der Gewinn muss den möglichen Schaden rechtfertigen. Dieser Schaden ist größer, als die Befürworter der Einführung der erweiterten DNA-Analyse gerne glauben machen möchten, wie Carsten Momsen in seinem Beitrag nahelegt. Nicht zuletzt greift - im Unterschied zur bisher zulässigen DNA-Analyse, die sich auf den nichtkodierenden Bereich beschränkt - die erweiterte DNA-Analyse auch auf den kodierenden Bereich zu.

Der Preis, der für »Kommissar Wattestäbchen« zu entrichten wäre, ist hoch - die meisten Parteien in Deutschland sind offenbar aber nur allzu bereit, ihn zu zahlen. Neben Bayern wird die aktuelle Initiative maßgeblich von der grün-schwarzen Landesregierung Baden-Württembergs getragen. Auch sozialdemokratische Politiker vor allem aus Baden-Württemberg haben sich bereits für eine erweiterte DNA-Analyse ausgesprochen. Im Wahlprogramm der Unionsparteien zur Bundestagswahl 2017 (i.O. »Regierungsprogramm«) wird die erweiterte DNA-Analyse explizit genannt. Wie zäh der Widerstand der Liberalen bei einer möglichen schwarz-gelben Koaltion nach der Bundestagswahl ausfallen wird, darf sich jeder anhand des FDP-Wahlkampfes (»Digital first. Bedenken second.«) selbst ausrechnen.
Auch die Medien stehen der erweiterten DNA-Analyse vielfach nicht nur positiv gegenüber, sondern sehen in der Kritik daran sogar »Täterschutz«. Sarah Weitz und Nicholas Buchanan beschreiben in ihrem Beitrag die medialen Diskurse über die erweiterte DNA-Analyse.

Die erweiterte DNA-Analyse wird also mit großer Wahrscheinlichkeit kommen. Horst Herolds Traum einer »Verobjektivierung des Strafverfahrens« wird sie uns indessen nur scheinbar näherbringen - nicht zuletzt, weil die Fehleranfälligkeit der Methode mit der Erweiterung steigt. Zuletzt aber steht am Ende auch jeder fehlerfreien Analyse immer deren Bewertung.

Thomas Uwer ist Geschäftsführer des Organisationsbüros der Strafverteidigervereinigungen.

 

Thomas Uwer: Kommissar Wattestäbchen, in: Freispruch, Heft 11, September 2017

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