Strafverteidigertag Rechtspolitik

Alternativen zum Abstinenzparadigma

Das BMJV hat einen Entwurf für ein ‚Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, des Jugendgerichtsgesetzes und der Strafprozessordnung‘ vorgelegt, der u.a. auch einen Vorschlag für eine Erweiterung der Möglichkeiten für eine Zurückstellung suchtbedingter Freiheitsstrafen enthält. Leo Teuter hat für uns Stellung genommen.

 

Völlig zu Recht wird in dem Referentenentwurf des BMJV zu erweiterten Rückstellungsmöglichkeiten Suchtbedingter Freiheitsstrafen die aus der BGH-Entscheidung vom 4. August 2010 [AZ.: 5 AR (Vs) 22/10] resultierende Rechtslage korrigiert. Dieser Änderungsentwurf wird von den Strafverteidigervereinigungen ausdrücklich begrüßt und ist dringend notwendig. Leider brauchte er sechs Jahre und greift ganz erheblich zu kurz.

Nun ist eine hier vorzulegende Stellungnahme zu dem Referentenentwurf aus verschiedenen Gründen ungeeignet, alle Schwachstellen des BtMG oder auch nur der Rückstellungsregelungen der §§ 35, 36 BtMG zu thematisieren. Im Folgenden soll deshalb zunächst nur ein – in der Praxis allerdings zentraler – Aspekt, der im unmittelbaren Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Änderung der Strafprozessordnung steht, genauer beleuchtet werden: die sogenannte Kausalität. Denn ohne die Unterscheidung des Gesetzes, ob eine konkrete Straftat aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit der Angeklagten begangen wurde oder nicht, könnte es das nunmehr zu beseitigende Problem augenscheinlich gar nicht geben.

Dabei soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass – jedenfalls theoretisch – auch betäubungsmittelabhängige Personen Straftaten begehen können, deren Ursache nicht oder nicht primär in der Abhängigkeitserkrankung zu suchen ist. Dies ist allerdings die absolute Ausnahme.

»Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Drogenabhängigkeit als ‚psychischen und zuweilen auch physischen Zustand, der sich aus der Wechselwirkung zwischen einem lebenden Organismus und einer Droge ergibt und sich äußert im Verhalten und in anderen Reaktionen, die stets den Zwang einschließen, die Drogen dauernd oder in Abständen zu nehmen, um deren psychische Wirkung zu erleben und das durch ihr Fehlen mitunter auftretende Unbehagen zu vermeiden.«|

Diese Definition ist richtigerweise noch zu ergänzen:
»Die wesentlichen Elemente der Drogenabhängigkeit sind die folgenden vier Kriterien:
• ein unbezwingbares Verlangen nach der Droge;
• die Tendenz zur Dosissteigerung;
• die seelische und/oder körperliche Abhängigkeit;
• schädliche Auswirkungen für das Individuum und die Gesellschaft.«|

Demnach unterliegen Drogenabhängige also einem Zwangssystem, einem ‚unbezwingbaren Verlangen‘, das nicht heute auftaucht und morgen verschwindet, sondern alle Lebensbereiche umfasst. Im amerikanischen DSM-5 ist dieser Zustand folgendermaßen beschrieben und gleichzeitig erklärt:
»Allen diesen [psychotropen, L.T.] Substanzen ist gemein, dass sie bei exzessivem Konsum direkt das neuronale Belohnungssystem [im Gehirn, L.T.] aktivieren, welches auch an der Verstärkung von Verhaltensmustern sowie an der Konsolidierung von Gedächtnisspuren beteiligt ist. Die Aktivierung des Belohnungssystems kann so ausgeprägt ausfallen, dass normale Alltagsaktivitäten vernachlässigt werden. […] Zu beachten ist, dass Sucht in dieser Klassifikation nicht als diagnostischer Begriff verwendet wird, obwohl er in vielen Ländern zur Beschreibung schwerer Probleme bei zwanghaften und gewohnheitsmäßigen Konsum von Substanzen üblich ist. Der neutralere Begriff Substanzkonsumstörung wird verwendet, um die große Variationsbreite der Störung von einer leichten bis zu einer schwergradigen Ausprägung eines andauernden, wiederholt rückfälligen, zwanghaften Substanzkonsums zu beschreiben.«|

Im § 35 BtMG findet bekanntlich in diesem Zusammenhang der Begriff der »Betäubungsmittelabhängigkeit« des Täters Verwendung. Nur unter dieser Voraussetzung besteht überhaupt die Möglichkeit, sich einer der Rehabilitation dienenden Behandlung zu unterziehen und deshalb die verhängte Freiheitsstrafe zurückgestellt zu bekommen. Von der Vorschrift des § 35 BtMG sind also gerade nicht die leichten Fälle der Substanzkonsumstörungen und schon gar nicht die Konsumformen, die gesundheitlich unbedenklich sind, erfasst. Insoweit ist § 35 BtMG mangels Therapiebedürftigkeit von vornherein nicht einschlägig. Es geht also immer nur um Betäubungsmittelabhängigkeit.

Drogenabhängigkeit bzw. Betäubungsmittelabhängigkeit im Sinne des § 35 BtMG ist damit als hirnorganischer Dauerzustand zu verstehen, der zunächst grundsätzlich bei allen Handlungen der Drogenabhängigen von Bedeutung sein dürfte und folglich auch bei allen Straftaten zu berücksichtigen ist. Wie bereits erwähnt, mag es Ausnahmen geben, bei denen andere Aspekte eine wesentliche oder gar entscheidende Rolle spielen. Die Regel ist dies jedoch nicht.

Betäubungsmittelabhängigkeit ist vielmehr – gerade angesichts der bestehenden Prohibition – ein Krankheitszustand, der das Leben der Betroffenen insgesamt bestimmt, wenn nicht gar definiert. Ein einfaches und sehr häufiges Beispiel vermag dies zu illustrieren: Viele Drogenabhängige sind nicht mehr in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Gleichzeitig stehen sie unter dem Zwang, sich Drogen zu beschaffen und wenden dafür das (wenige) zur Verfügung stehende Geld auf. Begehen sie nun, z.B. um sich Nahrungsmittel zu beschaffen, Eigentumsdelikte, so sind diese offensichtlich die mittelbare Folge der Betäubungsmittelabhängigkeit – und dies sogar im Sinne der ‚conditio sine qua non‘-Formel: Die Betäubungsmittelabhängigkeit kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass damit auch das Eigentumsdelikt nicht erfolgt wäre.

Dieser Tatsache wird die aktuelle Rechtslage – und vor allem die Zurückstellungspraxis – in keiner Weise gerecht.

Zwar ist in der Kommentarliteratur hinsichtlich der Kausalität durchaus Erfreuliches zu lesen, wenn dort steht:
»Sowohl direkte als auch indirekte Drogenbeschaffungsdelikte reichen [für die Annahme der Kausalität, L.T.] aus. Es genügt ferner, wenn die Betäubungsmittelabhängigkeit erheblich mitursächlich für die Straftat war, wenn die Straftat sowohl zur Finanzierung des Lebensunterhalts als auch zur Beschaffung von Drogen und Ersatzdrogen diente, wenn die Betäubungsmittelabhängigkeit die Lebensweise des Drogenkonsumenten so veränderte, dass er keiner geregelten, legalen Arbeit mehr nachging, sondern von Straftaten lebte. War die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aufgrund der Drogenabhängigkeit im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert, so kann an einer Kausalität zwischen Straftat und Abhängigkeit kein Zweifel bestehen.«|

Aber selbst diese Auffassung, die nach unseren Erfahrungen in der alltäglichen Anwendungspraxis nur unzureichend Berücksichtigung findet, muss in zweierlei Hinsicht korrigiert bzw. erweitert werden. Zunächst entspricht es schlicht nicht der Rechtslage, wenn im Zusammenhang mit § 21 StGB davon gesprochen wird, es sei entscheidend, ob die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit zum Tatzeitpunkt erheblich gemindert wäre. Der Gesetzestext lässt es bekanntlich ausreichen, wenn die Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit erheblich gemindert ist.

Dies mag ein seit vielen Auflagen des Körner fortgeschriebener sprachlicher Lapsus sein oder auch nicht; wichtiger ist aber die folgende Überlegung: Nach der erwähnten Definition der WHO stehen Drogenabhängige unter einem dauernden Zwang, bzw. haben ein unbezwingbares Verlangen nach der Droge. Wie es dann möglich sein soll, dass unter dieser Maßgabe die Steuerungsfähigkeit der Drogenabhängigen nicht erheblich eingeschränkt sein könnte, erschließt sich nicht.

Damit steht fest, dass für die Straftaten von drogenabhängigen Personen, und dies sind keineswegs alle drogenkonsumierenden Personen, die erheblich geminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB und damit auch konsequenterweise die Kausalität im Sinne des § 35 BtMG mindestens die Regel darstellt. Ausnahmen sind zwar theoretisch möglich, müssten aber durch die Besonderheiten des konkreten Falls begründet werden.
Eine aus Sicht der Strafverteidigervereinigungen sinnvolle und nutzbringende Reform des § 35 BtMG würde folglich darin bestehen, diese Regelhaftigkeit der Kausalität von Straftaten drogenabhängiger Personen seitens des Gesetzgebers festzustellen und eine entsprechende Regelung in diese Vorschrift aufzunehmen. Diese könnte lauten:
»Ist die Betäubungsmittelabhängigkeit des Täters festgestellt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Tat hierauf beruht.«

Über eine solche grundlegende und gesetzliche Regelung der Kausalität im Kontext der §§ 35, 36 BtMG hinaus, wäre es dringend angezeigt, die Rückstellungsregelung des BtMG einer grundlegenden Reform zu unterziehen. Denn der Grundsatz »Therapie statt Strafe« ist sinnvoll und erfolgreich. Ihn gilt es durch entsprechende Gesetzesänderungen zu stärken.|

Zu diesem weitergehenden Reformbedarf gehört unter anderem auch die insgesamt missglückte verfahrensrechtliche Regelung dieser Vorschriften. Zur Illustration hierfür mag alleine der im Beschluss des BGH vom 04.08.2010 wiedergegebene Verfahrensablauf dienen. Stellt man sich vor, dies sollte ein inhaftierter drogensüchtiger Mensch alleine bewerkstelligen – die Beiordnungspraxis hinsichtlich § 140 Abs. 2 StPO analog in Vollzugssachen ist bekanntlich recht restriktiv ­–, so wird deutlich, dass hier dem Grundsatz »Therapie statt Strafe« unnötige verfahrensrechtliche Steine in den Weg gelegt werden.
Auch die grundsätzliche Ausgestaltung des § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG als Ermessensvorschrift ist bedenklich und wird von einigen Rechtspfleger*innen als Legitimation verstanden, nach persönlichem Gutdünken zu entscheiden. Wie schwierig und vielfach entsprechend entmotivierend der dann einzuschlagende Rechtsweg ist, wurde soeben bereits angedeutet.

Ebenso bedarf die Frage, welche Therapieform eine Rückstellung rechtfertigen kann, einer klärenden Regelung durch den Gesetzgeber. Die verwirrende aktuelle Rechtslage sei erneut an einem einzigen Beispiel dokumentiert. Im Standardkommentar zum BtMG heißt es zunächst wiederum recht erfreulich:
»Die Justiz hat nach dem BtMG kein Recht, einem therapiewilligen Verurteilten die Therapieform vorzuschreiben bzw. die Zurückstellung von einer bestimmten Therapieform abhängig zu machen.«|

Man könnte nach diesem Satz meinen, die Justiz zeige hier eine sinnvolle Selbstbeschränkung. Aber nur wenige Seiten später liest man in demselben Kommentar:
»Zwar kann der Verurteilte nach Beratung durch Drogenberatung und durch Therapieeinrichtungen im Rahmen eines Rückstellungsantrages eine bestimmte Therapieart und eine bestimmte Therapieeinrichtung vorschlagen. Die Auswahlentscheidung liegt aber bei der Vollstreckungsbehörde.«|

Und es folgen an dieser Stelle der Kommentierung, anders als zu die zunächst vertretene Auffassung, die Justiz habe kein Recht, dem Verurteilten Vorschriften zu machen, eine Vielzahl von obergerichtlichen Entscheidungen.

Also entscheiden Rechtspfleger*innen eben doch über Dinge, die sicher nicht Gegenstand ihrer Ausbildung waren und die obergerichtliche Rechtsprechung lässt sie gewähren. Dieser Umstand ist nicht nur bekannt, er ist dem Autor des Kommentars sogar durchaus bewusst. Denn
»ob die angetretene oder geplante Behandlung der Rehabilitation dient, kann die Justiz vielfach schwer beurteilen. Sie hat deshalb sich nicht als Therapieexperte für oder gegen eine bestimmte Behandlungsmethode einzusetzen.«|

Und wie nicht anders zu erwarten, fehlen auch zu dieser – an sich zutreffenden – Überlegung die entsprechenden Hinweise auf eine einschlägige Rechtsprechung. In der Praxis behält sich die Justiz also doch die Entscheidung vor, welche Therapie geeignet sei, so jedenfalls die obergerichtliche Rechtsprechung.
Nach unserer Auffassung kommt damit nur zum Ausdruck, welche Ungereimtheiten sich fast schon als zwingende Folge des Versuchs darstellen, einem medizinisch/psychiatrischen Problem (Betäubungsmittelabhängigkeit) mit repressiven, also strafrechtlichen Mitteln begegnen zu wollen.

Deshalb muss jede Reform des BtMG, die das Abstinenzparadigma und die darauf gegründete Prohibition nicht grundlegend überprüft und letztlich überwindet, Stückwerk und Flickschusterei bleiben. Dies gilt auch für den vorliegenden Referentenentwurf. Aber selbst die Flicken können mehr oder minder bescheiden und damit ungenügend ausfallen. Der vorliegende Referentenentwurf stellt – um im Bild zu bleiben – einen absoluten Minimalflicken dar.

Zudem ist es auffallend und im Ergebnis unzutreffend, wenn es in dem Referentenentwurf unter »C« quasi stillschweigend heißt, es gäbe zu dem nun vorliegenden Entwurf keine Alternativen. Es mag keine Alternative im Sinne einer Gesetzesänderung zu § 454 b StPO geben. Aber Alternativen zum Prohibitionsansatz des BtMG, zur bestehenden halbherzigen Umsetzung des Grundsatzes »Therapie statt Strafe«, oder auch nur zur bestehenden Kausalitätsregelung des § 35 BtMG gibt es aber sehr wohl.

Dr. Leo Teuter ist Strafverteidiger in Frankfurt/Main und Mitglied im Vorstand der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger e.V..

Leo Teuter, Alternativen zum Abstinenzparadigma, in: Freispruch, Heft 9, Oktober 2016

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