Smer, nicht Crème
Indem sich die Dirne wegwirft, lässt sie das hohe Lied der Liebe erklingen, und der Freier, der sie verachtet, bekennt: dass es um unser Liebes- und Geschlechtsleben elendig bestellt ist. 16 Sexualwissenschaftliche Thesen zur Prostitution von Volkmar Sigusch
1. Die Lage ist offenbar paradox. Wird den Moralisten im Land geglaubt, geht heutzutage die größte Gefahr von Sexarbeit und Pornografie aus, nicht von Börsenspekulation, Waffenhandel oder religiösem und politischem Fundamentalismus. Die Prostituierten seien sittlich gefallen, die Bordellbetreiber asozial und kriminell, die Freier haltlos bis tierisch. Es wird also so getan, als sprenge das alles den Rahmen dessen, was Fakt und Sitte ist. Tatsächlich aber fällt nichts aus dem Rahmen. Denn wo leben wir eigentlich? Jeden Tag hören wir, dass und wie sich das Politik und Mediensystem beinahe restlos und das Wissenschafts , Therapie und Kultursystem immer weitgehender dem Wirtschaftssystem unterordnen. Im Augenblick erweist sich beispielsweise die Vorstellung, Universitäten seien Einrichtungen, in denen nicht Impact Faktoren der Veröffentlichungen oder Verwertungs-Chancen der Forschungsergebnisse privilegiert sind, sondern das Denken, als eine der letzten Illusionen. Auch die anderen Systeme müssen den Ökonomie-Objektiven genüge tun, sind von ihnen zumindest gezeichnet. Selbst das Religionssystem muss wirtschaften, setzt neuerdings Werbestrategen ein. Und die Medizin ist in Gefahr, Zug um Zug zur Hure der Ökonomie zu werden. Denn Geld ist in unserer Gesellschaft das Medium, das Generalität beanspruchen kann, nicht Charité, nicht Anstand, nicht Wahrheit.
2. Die Gesellschaft, in der wir leben, ja die Welt wurde immer kapitalistischer, und die Bewegungen des Kapitals abstrahierten sich einerseits immer mehr, andererseits wurden sie immer konkreter, bis Deutschland weithin nur noch als Standort fürs Kapital erlebt wurde. Das Tauschprinzip aber lautet unverändert: Was sich verwerten lässt, wird auch verwertet. Und so stellen wir mit anachronistischem Entsetzen fest, was alles schon zum Geschäft gemacht worden ist: die Kunst, besonders überzeugend als Standortfaktor, das Elend in der Welt und unser Mitgefühl am Fernsehapparat, Eizellen und Embryonen, Kinder und Jungfrauen, das Lebendigkeitsbedürfnis von Managern, um das sich Psychotherapeuten kümmern, das Gewissen von Abgeordneten und Gerichtspräsidenten oder Lebensformen, die patentiert werden sollen. Nur ein hervorragender Fußballspieler ist, wie gerade zu lesen war, »zur Zeit unverkäuflich«. In einer Gesellschaft, in der prinzipiell alles käuflich ist und in der auch tatsächlich alles gekauft wird, was nicht niet- und nagelfest ist, in einer Gesellschaft, die alles darauf abklopft, ob es benutzt oder verwertet werden kann, ausgerechnet in einer solchen Gesellschaft wird die »käufliche Liebe« zum Skandal. Bejaht einer die hiesige Kultur im Großen und Ganzen, hat er gefälligst auch die Bordelle und die Sex-Kinos zu akzeptieren wie die Volksmusikparade im Fernsehen.
3. Widersprechen Moralvorstellungen aus untergegangenen Zeiten der seit einem Jahrhundert kursierenden Parole, nach der alles machbar ist, und bekennen sie zugleich ungewollt, dass Lust, Leidenschaft und Liebe einen unkalkulierbaren Rest enthalten, sind beide irritiert: der Makler ebenso wie der Freier. Irgendwie, ärgern sie sich, geht die Rechnung nicht auf. Vielleicht aber ist die Prostitution für die freien Marktwirtschaftler auch deshalb so anstößig, weil ihr der Anschluss an das kapitalistische Zeitalter einfach nicht gelungen ist. In ihrer altmodischen Form kann sie auf dem Niveau der einfachen Warenproduktion, des Verlagskapitalismus und der Manufaktur gedacht werden. Als hausbackene steht sie heute menschenfreundlich, anständig und überschaubar dar. Wo geht es denn so ehrlich zu? Man löhnt ein paar Scheine und darf etwas tun, was sonst nicht möglich ist. Von makellosen Leibern, sirrend auf perlweißem Sand unter rauschenden Palmen, ist nicht die Rede. Es geht oft rationeller und klarer und zerhackter zu als kulturell allgemein gefordert|1. Und nicht einmal versprochen wird etwas, was nicht zu halten ist. Das, was gekauft wird, ist nicht in Konfektpapier gewickelt, es liegt bloß.
4. Versuchen Prostitution und Zuhälterei, sich an den Gang der Weltwirtschaft anzuschließen, versinken sie im Inhumanen: Sextourismus, Menschenhandel, Adoptionsprostitution. So werden – zum Beispiel – unter christlichem Schein in den ärmsten Ländern Kinder adoptiert und anschließend in Westeuropa verkauft. Ein Zweck ist die gewinnträchtige Zuhälter-Prostitution, der andere das Komplettieren unfruchtbarer Ehen zur Familie. Weil ihr jener Schuss an Mystifikation, an Warenfetischismus fehlt, der alles in einem anderen Licht erscheinen lässt, ist die Prostitution in jeder Form skandalös. Ihr fehlt einfach, ob hausbacken oder bemüht modern, die gutbürgerliche Gediegenheit. Nicht die unbezahlbaren Callgirls, nicht die unantastbaren Straßenmädchen, nicht die Rolex, nicht die 12-Euro-Uhr von Aldi, das Schweizer Chronometer, das dazwischen liegt, müsste her. Das wäre gutkapitalistisch. Doch wo sind die gepflegten Häuser, am günstigsten selbstverwaltet, in denen gescheite, witzige, einfallsreiche Frauen und Männer darauf warten, ihre eigenen Neigungen möglichst erregend mit denen ihrer Kunden und Kundinnen zusammenfallen zu lassen? Das Angebot ist in der Regel deprimierend und muss auch so sein, aus seelischen Gründen ebenso wie aus kulturellen.
5. Bei uns bilden alle Sphären des Sexuellen eine Einheit: die des ungelösten Widerspruchs.|2 Isoliertes Reizmoment und übers ganze Leben geworfene Liebe, Prostitution und Ehe, Triebdurchbruch und Beziehung koexistieren. Die eine Sexualform zieht Dasein und Berechtigung aus der anderen. Auf der Wahrheit besteht dann jede für sich allein. Die Prostitution gestattet es anderen Sexualformen, sich selber als hochwertig misszuverstehen. Ihre bloße Existenz gibt Beziehung und Reiz das Recht, sich als nichtprostitutiv zu gebärden. Je geldgieriger und brutaler die Prostitutionsformen sind oder erscheinen, desto selbstloser und mitfühlender stehen all die anderen da: Ehe, freie Liebe, Partnertausch, Gruppensex usw. Die kleine Wahrheit der niederen Prostitution aber ist, dass unsere Lust ohne Tabu und Verbot, ohne Angst und Erniedrigung nicht gedacht werden kann. Deshalb fördern die Moralpolitiker das Dirnenwesen, wenn sie die Prostitution verrufen und verbannen. Sie sind wirklich die amtierenden Dienstmänner der kleinbürgerlichen Sexualideologie, die sich in der Vergangenheit durch Pathologisierung und Folter, durch Mord und Totschlag bis auf die Knochen für immer diskreditiert hat.
6. Die, die die kleinbürgerlichen Sexualideologie am Kochen halten, beleidigen tagein, tagaus Frauen mit niederen Blicken und wollen uns weismachen, der durch sein kulturelles Herkommen zur Enthaltsamkeit verdammte junge Mann werfe sie bei Dr. Müller. Sie inszenieren ein sexistisches Standgericht nach dem anderen, sie stiften überall zu moralischer und geistiger Prostitution an und sorgen sich um die Würde jener Frauen, die es körperlich tun. Sie setzen weibliche Körperteile in der Werbung ein und sind betroffen, wenn sich einer so darauf stürzt, wie sie es gerne hätten. Sie treiben das Eros-Center aus der City und ersetzen es durch ein Kauf-Handel-Makel-Center. Sie lassen sich von Flick und Flack Bargeld in den Smoking schieben und nennen die schwer verdiente Mark der Prostituierten schmutzig. Auf der sozialen Rangskala stehen WC-Wärterinnen, Dirnen und Fabrikarbeiterinnen am einen Pol, Filmschauspielerinnen, Publizistinnen und Gattinnen gutsituierter Herren am anderen. Die einen gelten als Smer, die anderen als Crème. Oft wird sich nicht einmal entscheiden lassen, wo die Schinderei größer ist. In Bordellen und Sex-Kinos wird von Männern über einen Teil des Körpers der Frau verfügt, in Fabriken und Filmstudios erklärtermaßen über alles: Körper, Seele, Geist. Die Dirne wird oft wie ein Ding behandelt, doch der Filmstar, der sich auf Geheiß des Produzenten alle Zähne ziehen lässt, über dessen Mimik, Figur, Sprechweise, über dessen öffentliches und nichtöffentliches Leben von anderen direkt verfügt wird, ist zum Rohstoff geworden.
7. Wie sollte entschieden werden, wer entwürdigter ist? In den Bordellen und Peepshows geht es jedenfalls unmittelbarer und sauberer zu als in den Verlagen, Funk-, Kranken- oder Kaufhäusern und sonstigen Betrieben. Dort gibt es, sofern überhaupt, eine verlogene Distanz zu den Zwecken, gepaart mit jener impotenten Geilheit der Männer, welche jedem Außenstehenden widerwärtig ist. Wenn schon würdelos, dann ist es der Politiker, der sich von seinen Zuträgern minderjährige, drogenabhängige Mädchen vom Straßenstrich an einen verschwiegenen Ort bringen lässt, um gleichzeitig öffentlich die Unantastbarkeit der Ehe zu beschwören. Oder jener, der seine Ehefrau mit dem entsicherten Gewehr bedroht, weil sie mit einem anderen Mann Blicke getauscht hat. Wer tagsüber nadelgestreift und staatstragend daherredet, nachts aber durch die Hurenwinkel streift, wer vor der laufenden Kamera heterosexuelle Sauberkeit einklagt und sich von gedungenen Schleppern an der Autobahn junge Männer zum homosexuellen Verzehr aufgabeln lässt, wer so normal gestört ist, der sollte schweigen, wenn es um Anstand und Sitte geht.
8. Heuchelei und Verblendung sind allgemein. Eine Leiche hat jeder im Keller, sagt der Volksmund. Die Leiche meint das reale Übertreten der sexuellen Tabus und Regeln, ohne das unsere Sexualität gar nicht zu denken wäre. Sie ist mehr oder weniger lebendig. Der Keller steht für das, was lebensgeschichtlich vergangen ist, mehr aber noch für das seelisch Unbewusste, das zur Gegenwart gehört.|3 Meint einer über sein Triebleben nichts als die reine Wahrheit zu sagen, ist er nicht von dieser Welt, hat schon geleugnet. Wer Politiker oder sonstwen persönlich bloßstellt, zollt dem Vernichtungsmechanismus seinen Tribut, der gang und gäbe ist, dem er selber unterliegt. Er macht blutig wahr, was der fetischistische Verblendungszusammenhang verdeckt: dass es keine Intimität gibt, keinen generellen Schutz vor der Durchleuchtung und Verfolgung. Die Devise, das Geschlechtsleben eines Politikers öffentlich auszuschlachten, ist jener verschwistert, nach der alle Perversen an die Wand zu stellen sind.
9. Existiert die finanzielle Unabhängigkeit der Bankiersgattin in der Form eines Dispositionskredits, verdient sich die Prostituierte ihren Lebensunterhalt selber. Oft ernährt sie außerdem noch ein Kind und/oder einen Mann. Es ist fraglich, welche Frau sich in lichten Momenten besser fühlt. Die Ärztin oder Ingenieurin muss hundertmal gescheiter, fleißiger und angepasster sein als ihre männlichen Kollegen (was gleichzeitig gar nicht möglich ist), ohne je bestimmte Positionen erreichen zu können (wie viele Universitäts-Frauenkliniken werden von einer Frau geleitet?). Demgegenüber verzichtet die Prostituierte auf Karriere und Herrschaftswissen, jedenfalls seit dem Ende des Hetären- und Mätressenwesens. Dabei wissen wenige Frauen so gut wie Prostituierte, am ehesten noch Psychoanalytikerinnen, wie klein und lächerlich das männliche Geschlecht ist, wie dicht die größte Stärke bei der größten Schwäche liegt, wie zusammengeschweißt Normales und Perverses, Gewöhnliches und Ungewöhnliches sind.
10. Gibt es keine allgemeine Moral, die in der Wirklichkeit fundiert ist, steht nichts über dem anderen, das Stundenhotel nicht über dem Debütantinnenball, die Peepshow nicht über der Pressekonferenz der Kanzlerin. Das ist traurig, aber wahr. Es ist wie bei allem, was heute als Sexualität gilt, ob nun das Mysterium der Liebe oder der perverse Triebdurchbruch und alles, was dazwischen liegt: Nichts ist moralischer, natürlicher als das andere. Das imaginäre Menschliche überwintert am ehesten dort, wo es das dumpf grollende gesunde Volksempfinden bewusst nicht vermutet, unbewusst aber doch, wie der Aufschrei beweist. So hat die Perversion oft nicht die Maske des falschen Glücks aufgesetzt, hält durch größere Unmittelbarkeit und Leibnähe eine Distanz zu den Zwecken, welche der normalen Sexualität gebricht. Die große Liebe aber klagt die harmonische Möglichkeit des Sexuellen ein. Solange sie so wenig existiert wie ein allgemein moralischer Zustand, können nur die gröbsten Verletzungen und Übergriffe negativ sanktioniert werden, und zwar auf eine individualistisch-anachronistische Weise. Mit Moral aber hat das nichts zu tun. Jene Juristen, die mit ihren modernen Paragrafen der realen Entkopplung von Moral und Recht genügen wollen, ahnen das schon lange.
11. Nur scheinbar hat die Prostitution nichts mit Triebverzicht und Affektkontrolle, mit Pflichterfüllung und Gehorsam zu tun. Tatsächlich gründet sie darauf. Der Griff der »schmutzigen« Dirne läuft wie der Griff der »sauberen« Geliebten auf dasselbe hinaus: Genussfeindschaft im Genuss. Alle verbreiteten Sexualformen haben letztlich dieselbe soziale Funktion. Man darf schwach und fahrlässig, ein Versager sein, ohne gleich bestraft zu werden. Man kann sich verkriechen vor der Kälte, die draußen alles erstarren lässt. Wie das Mysterium der Liebe erinnert die Prostitution daran, dass es keine bisherige Gesellschaft vermochte, unsere Antriebe und Sehnsüchte mit dem realen Leben in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Indem sich die Dirne wegwirft, lässt sie das hohe Lied der Liebe erklingen, und der Freier, der sie verachtet, bekennt: dass es um unser Liebes- und Geschlechtsleben elendig bestellt ist. Doch das Bekenntnis ist von flüchtiger Natur. Sonst könnten die Gatten einander nicht mehr lieben. Sinnliche und zärtliche Strömungen fielen nicht nur in Handlung und Gefühl auseinander, sondern auch im Kopf. Der Konflikt könnte nicht mehr verdrängt und in der Verdrängung gehalten werden, die Dirne wäre nicht mehr so leicht als Projektionsschirm zu benutzen, der Bordellgänger verlöre den Status des ungezogenen Jungen.
12. Die Prostitution wird als Ablaufrinne benutzt, die die Reinheit der Paläste garantiert. So formulierten es die Kirchenväter, und so lautet noch immer die Weisheit der Schulsoziologie. Weil alle installierten Sexualformen nur als fetischisierte in unser Bewusstsein dringen, ist es so beschwerlich, von der Prostitutionsfrage zur Frauenfrage und von dieser zur Lebensfrage aufzusteigen. Einiges aber liegt auf der Hand: Das Lob der Ehe ist zugleich das Lob der Prostitution. Deshalb sollten unsere Hetero-Ehe-Realpolitiker der Prostitution geben, was ihr nach dieser Logik gebührt: den besonderen Schutz der Verfassung. Sollen Frauen aus sexueller Erniedrigung herausgebracht werden, muss damit in gesellschaftlichem Maßstab begonnen werden, zunächst im Ökonomischen und Sozialen. Jede andere Forderung ist Peep-Moral.
13. Besonders verachtenswert ist das Einprügeln auf die schwächsten der Frauen: die illegalen aus armen Ländern, die durch Prostitution bei uns ihre Familien überleben lassen wollen. Als vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland die Fantasie aufkam, die Zwangsprostitution würde extrem zunehmen, versetzten rechte Politiker und Ordnungsbeamte die Ärmsten der Armen, die illegalen Prostituierten, in Angst und Schrecken und schoben sie ab. Hätten sie etwas Wirksames gegen Mädchenhandel und Zwangsprostitution machen wollen, hätten sie den illegalen Frauen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erteilen müssen, ja sie hätten ihnen sogar eine neue Identität einräumen müssen, um auf diesem Weg, sofern vorhanden, an die drahtziehenden Mädchenhändler heranzukommen. Doch abgrundtief verlogene Politiker inszenierten für die Öffentlichkeit das exakte Gegenteil: Sie hetzten Hunderte von jungen Männern als Polizisten durch die Bordelle und marschierten selbst fürs Fernsehen mit erigiertem Zeigefinger durchs Milieu.
14. Bordelle und Sex-Kinos sind nicht, wie Kritiker meinten, »extremster Ausdruck sexueller Verwahrlosung«. Das wäre ja zu schön, um wahr zu sein. Schließlich ist alles Sexuelle im Kern chaotisch, asozial, verwahrlost. Endlich wären einmal Triebe, und seien es nur die Teiltriebe des Beschauens und Zeigens, zu sich gekommen. Nein, auf der Anklagebank sitzt nicht irgendeine konsequente Blüte des objektivalen Gangs unserer gesellschaftlichen Sexualform. Verhandelt wird die sexuelle Not in der Kultur und damit diese selber. Wir alle sind genötigt, in prostitutiven Verhältnissen zu leben. Wir alle bieten feil, werfen weg, nehmen und lassen nehmen, weil das Sexuelle in die Fetische Reiz und Liebe zerfallen ist. Solange das so ist, wird es Beziehungen und Pornokonsum, Ehe und Prostitution geben, und nichts von alledem wird die ganze Wahrheit der Triebliebe sein. Verwahrlost kann nicht sein, was ohne die Fratze der Wohlanständigkeit etwas tut, was ansonsten üblich ist. Nur die Kabinen, in denen wir alle stehen, die Schlitze, durch die wir blicken, das Kommando, nach dem wir unseren Samen verplempern und unsere Beine spreizen, sind weder zu hören noch zu sehen. Wo wird Sinnlichkeit in einer für die hiesige Gesellschaftsformation wahrlich spezifischen Weise abgeschnitten und transformiert? In Peepshows, Bodellen und Sex-Kinos? Oder wenn die Sinnlichkeit in der Form der ästhetischen Abstraktion vereinheitlicht ist, um unentrinnbar an die gleißende Unzahl der Warendinge geheftet zu sein? Man braucht sich nur auf einer Automesse den heißen Blicken der jungen Männer hinzugeben, um zu ahnen, was gemeint ist|4 (vgl. Sigusch, 1984b). Sie werfen sich mit allen Zeichen der Erregung – Glanzauge, Gesichtsröte, Körperzittern usw. – in den Porsche 999 Turbo wie einst der Abbé Gédouin auf die sagenhafte Lebedame Ninon de Lenclos. Ihre Irritation ist »sexuell« und doch wieder nicht.
15. Man kann, wie Sokrates, die Einsicht gewonnen haben, in ethischen Fragen weit vom Wissen, dem wahren, sicheren und zureichend begründeten, entfernt zu sein und doch, wie er, nicht davor zurückscheuen, Lebensregeln zu sehen wie die: Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun. Vielleicht kommt das Recht, etwas als unmoralisch zu kritisieren, heute nur noch denen zu, die den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches ihrer Kritik ebenso glaubhaft wie utopisch voraussetzen, ein Verhältnis, in dem er auch »moralisch« bei sich wäre. Darauf und auf sonst gar nichts ist zu insistieren, wenn von Anstand und Sitte die Rede ist. Allen anderen, vorneweg unseren sittigen Politikern, sei aus einem besseren Schauspiel zugerufen: Was geißelt ihr die Hure, peitscht euch selbst!
16. Gegenwärtig ist unser Alltag von sexuellen Reizen ebenso gesättigt wie entleert. Das ist eine der zentralen Paradoxien der so genannten sexuellen Revolutionen der letzten fünfzig Jahre. Offenbar wird sexuelle Lust durch deren übertriebene kulturelle Inszenierung, durch deren beinahe lückenlose Kommerzialisierung und elektronische Zerstreuung wirksamer ausgetrieben, als es die alte Unterdrückung durch Verbote vermocht hat. Ein Hauptziel der Sexualreformbewegungen der Vergangenheit war, sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung zu erreichen. Jetzt aber beklagen wir das Egoistische und Unsoziale an den Transformationen, die Selfsex und Selfgender genannt werden könnten|5 (vgl. Sigusch, 2005a, 2005b). Wie gesagt: Die Lage ist durch und durch paradox.
Prof. Dr. Volkmar Sigusch ist Arzt und Sexualforscher. Er war bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft am Universitätsklinikum Frankfurt am Main.
1 : Volkmar Sigusch: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt/M. und New York: Campus 2005
2 : Volkmar Sigusch: Vom Trieb und von der Liebe. Frankfurt/M. und New York: Campus 1984
3 : Volkmar Sigusch (Hg.): Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 4., überarb. u. erweit. Aufl. Stuttgart und New York: Thieme 2007
4 : Volkmar Sigusch: Die Mystifikation des Sexuellen. Frankfurt/M. und New York: Campus 1984
5 : Volkmar Sigusch: Neosexualitäten (a.a.O.); Sigusch, Volkmar: Sexuelle Welten. Zwischenrufe eines Sexualforschers. Gießen: Psychosozial-Verlag 2005