Strafverteidigertag Rechtspolitik

Haftfortdauerbeschlüsse konventionswidrig?

Ist ein Richter, der bei der Anordnung der Untersuchungshaft das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts bejaht hat, in der Hauptverhandlung unvoreingenommen? Der EGMR hält dies zumindest für fraglich. Es wird Zeit für eine gesetzliche Regelung der Vorbefassung meint Andreas Schwarzer.

 

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In Deutschland erscheint es selbstverständlich, dass ein Richter, der bereits über die Frage der Untersuchungshaft zu entscheiden hatte, auch das Urteil sprechen kann. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat jedoch bereits mit Urteil vom 24.5.1989 im Fall Hauschild gegen Dänemark entschieden, dass es einen Verstoß gegen Art. 6 Abs.1 MRK darstellen kann, wenn ein Richter, der zuvor über »besonders begründete Verdachtsmomente« zu entscheiden hatte, an der Urteilsfindung mitwirkt (Az.: 11/1987/134/188, in: EuGRZ 1993, 122-130; Deutschsprachige Sammlung EGMR Bd. 4, 295 ff. ).

Danach kann die Unparteilichkeit eines Gerichtes zweifelhaft sein, wenn die Unterschiede zwischen Urteil und den in der Haftfrage zu beurteilenden Verdachtsmomenten gering sind. Die dänischen Vorschriften sehen vor, dass Untersuchungshaft nur bei »besonders begründeten Verdachtsmomenten« angeordnet und aufrechterhalten werden darf. Im Fall Hauschild, der sich mehrere Jahre in Untersuchungshaft befand, wurden diese besonderen Verdachtsmomente sowohl von dem Richter erster Instanz als auch den Berufungsrichtern in einer Vielzahl von Beschlüssen bejaht, nachdem die Haftfrage nach dänischem Recht alle vier Wochen zu überprüfen ist. Der EGMR sah die Unparteilichkeit sowohl des Richters erster Instanz, als auch der Berufungsrichter als nicht gewahrt an, da die Unterschiede bei der Beurteilung der Haftfrage und den in beiden Instanzen zu entscheidenden Fragen äußerst gering waren. Die »besonders begründeten Verdachtsmomente« nach der dänischen Vorschrift (§ 762 II Dän.GVG) wurden so definiert, dass der Richter davon überzeugt sein müsse, dass ein »sehr hoher Grad an Klarheit« hinsichtlich der Schuldfrage bestehe.

Angesichts dieses Umstandes sei die Unparteilichkeit der zuständigen Richter zweifelhaft erschienen. Deshalb sei die Besorgnis der Befangenheit objektiv gerechtfertigt (a.a.O. Rn. 51 ).
Besteht nun zwischen der dänischen Vorschrift und dem »dringenden Tatverdacht« in § 112 StPO ein Unterschied? Meines Erachtens nicht. Auch bei Bejahung des »dringenden Tatverdachtes« legt ein Richter einen »sehr hohen Grad der Klarheit« des Tatvorwurfes zugrunde. Nach deutscher Definition setzt der dringende Tatverdacht eine »große Wahrscheinlichkeit« voraus, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat. Somit besteht kein wesentlicher Unterschied zu der dänischen Regelung, die als konventionswidrig befunden wurde.

Die genannte Entscheidung des EGMR hat in Deutschland allerdings keinerlei Beachtung gefunden. Dies dürfte auch daran liegen, dass mit der Entscheidung im konkreten Fall keinerlei Konsequenzen verbunden waren und das Urteil des dänischen Gerichtes trotzdem aufrecht erhalten wurde. Die Verurteilung wurde - trotz des festgestellten Konventionsverstosses - als begründet angesehen, was zwar als merkwürdiges Ergebnis erscheint, an der Grundsatzentscheidung aber nichts ändert. In den skandinavischen Ländern hat die Entscheidung jedoch offenbar zu Konsequenzen geführt. So ist dem Autor positiv bekannt, dass die norwegischen Verfahrensregeln aufgrund dieser Entscheidung entsprechend angepasst wurden.

Nachdem im deutschen Haftrecht der »dringende Tatverdacht« die entscheidende Voraussetzung zur Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft bildet (§112 StPO), stellt sich stets die Frage, ob die Unparteilichkeit eines deutschen Richters gewahrt ist, wenn er später aufgrund der Hauptverhandlung ein Urteil zu sprechen hat. Bereits psychologisch ist es zweifelhaft, ob ein Richter, der den dringenden Tatverdacht einmal bejaht hat, diesen später verneinen kann. Ohne, dass wesentlich neue Gesichtspunkte hinzutreten, ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Richter von seiner Vorfestlegung abweicht. Der EGMR bejahte ausdrücklich, dass eine solche Situation beim Angeklagten Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters wecken könne ( a.a.O. Rn.49).

Bereits die Feststellung, dass ein Konventionsverstoß möglich ist, sollte dazu führen, diese Möglichkeit auszuschließen. Deutschland, das sich gerne als vorbildlicher Rechtsstaat gibt, sollte deshalb umgehend die Vorschrift des § 126 StPO dahingehend ändern, dass ein Richter, der an der Haftfrage mitgewirkt hat, von der Urteilsfindung ausgeschlossen ist. Zugegeben würde dies zu einem Mehraufwand führen (doppelte Einarbeitung), aber der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gebietet eine derartige Trennung. Dass sich die Haftpraxis dadurch wesentlich ändern würde, ist zu bezweifeln, aber der Grundsatz »U-Haft schafft Rechtskraft« könnte an Bedeutung verlieren.

Nur auf den Gesetzgeber zu warten könnte sich aber als müßig erweisen, weshalb diese Frage in geeigneten Fällen auch durch Gerichte geklärt werden könnte. Der Weg zum EGMR ist lang – aber mitunter nötig. Optimisten könnten damit die deutsche Justiz befassen, zumal dies erforderlich sein dürfte. Dazu gibt die Entscheidung einen Hinweis für die Praxis.
Die dänische Regierung wandte im Verfahren vor dem EGMR ein, der Instanzenzug sei nicht ausgeschöpft worden, da die Frage der Parteilichkeit nicht zuvor mit einem Befangenheitsantrag gerügt worden war. Die dänischen Vorschriften sahen (zumindest damals), im Gegensatz zu Deutschland, sogar eine gesetzliche Regelung vor, wonach der Richter nicht abgelehnt werden könne, wenn trotz Vorbefassung kein Anlass zur Annahme bestehe, der Richter könne ein besonderes Interesse am Ausgang des Verfahrens haben (§ 60 Dän. GVG). Somit wäre auch nach dänischem Recht die Vorbefassung kein Grund einer Befangenheit. Und trotzdem wandte die Regierung ein, es wäre ein Befangenheitsantrag vorzuschalten gewesen. Der EGMR hat diesen Einwand der dänischen Regierung nicht gelten lassen, obwohl behauptet wurde, in der konkreten Situation wäre ein Befangenheitsantrag das richtige Mittel gewesen (offenbar erschien der Regierung ein solcher aussichtsreich). Ein Befangenheitsantrag könnte somit auch in Deutschland das Mittel der Wahl sein.

Mit der Entscheidung im Verfahren Hauschild hat die deutsche Justiz durchaus ein Problem. Die Vorbefassung in einer Haftfrage lässt sich mit dieser Entscheidung nicht pauschal als unbeachtlich einordnen. In Deutschland gibt es nicht einmal eine gesetzliche Regelung zur »Vorbefassung«. Diese wird durch die Rechtsprechung einfach als unbeachtlich eingeordnet. Bereits dieser Unterschied zur dänischen Situation, könnte die Aussichten eines Erfolges vor dem EGMR weiter erhöhen.

Gerichte die ihre Aufgabe ernst nehmen, kommen wohl nicht daran vorbei, sich ernsthaft mit der Befangenheit auseinanderzusetzen, zumindest wenn in Haftbeschlüssen zum Tatverdacht explizit Stellung genommen wurde. Die MRK ist als völkerrechtlicher Vertrag für deutsche Gerichte bindend. Und die Auslegung der MRK obliegt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Somit sollte sich bei der Haftzuständigkeit etwas bewegen lassen.

Andreas Schwarzer arbeitet als Strafverteidiger in München und ist Mitglied im Vorstand der Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V.

Andreas Schwarzer:
Haftfortdauerbeschlüsse konventionswidrig?, in: Freispruch, Heft 5, September 2014

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