Strafverteidigertag Rechtspolitik

Sicherheit im Wahlkampf

Die innere Sicherheit droht zu einem zentralen Thema des kommenden Bundestagswahlkampfs zu werden.
Das wird rechte Parteien wie die AfD nur weiter stärken.
Ein Kommentar von Mandy Schultz.

 

»Wir haben im vergangenen Jahr die Kontrolle verloren«
(Rainer Wendt am 22.7.2016 bei N-24)

Rainer Wendt weiß, wie es ist, wenn man die Kontrolle verliert. Irgendwann im Sommer muss im Hause Wendt das Ritalin ausgegangen sein, denn seit Ende Juli sondert der umtriebige Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) apokalyptische Meldungen im Minutentakt ab:

»Die Polizisten sind enttäuscht von der Politik« (Augsburger Allgemeine); »Wendt fordert geschlossene Heime für straffällige Flüchtlinge« (Handelsblatt); Rainer Wendt: »Ein unkalkulierbares Risiko« (Volksstimme Magdeburg); Polizeigewerkschaftschef Wendt: »In Deutschland fühlen sich Kriminelle wohl« (Focus-Online); »Das musste schiefgehen«: Chef der Polizeigewerkschaft kritisiert Flüchtlingspolitik (Huffington Post); Deutschlands Sicherheit bedroht? »Burkas machen den Menschen Angst« (n-tv); Flüchtlingsdebatte: Wendt attackiert »Grapscher, Schläger, Räuber, Clanchefs« (WAZ); Rainer Wendt: »Ernsthafte Strafverfolgung findet in Deutschland meist gar nicht statt« (Wirtschaftswoche)...

Und so geht das immer weiter, Tag für Tag, Woche für Woche. »Deutschland«, so Wendts mantrahaft wiederholte Botschaft, »ist in Gefahr« – bedroht von Flüchtlingen, Burkas, Falschparkern, Taschendieben, Grapschern, Nordafrikanern, Schlägern, Trickbetrügern, Terroristen, Familienclans – und deren Verbündeten in der Kuscheljustiz und unter den »Volksvertretern«.

»Haben Sie einen Einbruch, eine Körperverletzung oder einen Betrug begangen, einen Menschen als Raser im Straßenverkehr getötet oder sind Sie Profi im Taschendiebstahl – bleiben Sie gelassen. [...] Sie finden jemanden, der Ihnen bescheinigt, dass Sie eigentlich ein feiner Mensch sind. Oder dass Sie irgendwie traumatisiert sind, vernachlässigt, zu wenig geliebt oder zu viel verstanden werden. Oder umgekehrt. Vielleicht haben die Eltern sich getrennt oder zu früh geheiratet, irgendwas. Und dann passiert, was hunderttausendfach passiert. Nämlich nichts. Der Rechtsstaat fühlt mit ihnen und gibt ihnen Ratschläge, Ermahnungen oder Trainingseinheiten mit auf den Weg. Im Namen des Volkes. Und auf seine Kosten natürlich.«
Wendt ist für uns in den Abgrund gesprungen und befindet sich im freien Fall.|1

Damit ist er nur leider nicht alleine. An jeder Ecke oder besser: an jedem Wahlkampfstand findet sich einer, der den Teufel an die Wand malt und wie Wendt anprangert, was angeblich »hunderttausendfach passiert«. »Die Scharade vom Untergang«, wie Leo Löwenthal solche von Wendt so gerne bemühten Motive nannte, wird derzeit allerorten gegeben. Sie scheint so verlockend, weil »alle konkreten, furchterregenden Erlebnisse, die die Zuschauer gehabt haben mögen, aufgelöst [werden] im Getöse der drohenden Katastrophe. Konfrontiert mit einem solchen unvermeidlichen Schicksal, können die Zuschauer sich nur völlig ohnmächtig fühlen.«|2

Im Berliner Wahlkampf hat die CDU – auf der Flucht vor der AfD – einen »Sicherheitswahlkampf« geführt, der unter dem Motto »Starkes Berlin« alle Züge autoritärer Aggression trug, und damit vor allem die stereotypen Denkmuster jener Rechten bestätigt, denen sie die Wähler damit abspenstig machen wollte. Die Wahlkampfstrategen der Partei wollten oder konnten offenbar nicht sehen, dass das von jeder Kenntnis um belastbare Daten zur Kriminalitätsentwicklung befreite Untergangsgerede sich zuallererst gegen sie selbst richtet. Denn wer wählt schon eine Partei, die mit der Angst vor Kriminalität Werbung macht, aber in der vergangenen Legislaturperiode nicht nur mitregierte, sondern in Person ihres Spitzenkandidaten sogar den Innensenator und damit den unmittelbar Verantwortlichen für die angeblichen Sicherheitsprobleme stellte?
Auch für den publizierenden Funktionär der Polizeigewerkschaft wird es kaum besser laufen. Wer seine autoritären Thesen teilt, der wusste auch ohne sein Dazutun bereits, dass es ‚schlecht steht um Deutschland‘.

Das Gros jener aber, die diesen Befund als Weltsicht mit sich herumtragen, sehen den Feind nicht nur in kriminellen Clans und Flüchtlingen, sondern im Establishment, zu dem nicht nur die laut Wendt zu lasche Justiz und »Volksvertreter, denen das Volk nicht geheuer ist«|3 gehören, sondern auch Polizeifunktionäre wie er.
Dennoch steht zu befürchten, dass das Thema »Sicherheit« aller kriminologisch messbaren Realität zum Trotz auch den kommenden Bundestagswahlkampf beherrschen wird – und das weit über die Unionsparteien hinaus. Der sozialdemokratische Justizminister Heiko Maas wird nicht müde, das (strafrechtliche) Verbot all dessen vorzuschlagen, was die potentielle Wählerklientel mutmaßlich stört: von Grapschen über sexistische Werbung bis zu privaten Autorennen auf öffentlichen Straßen. Schutzlücken gibt es ja genug, weshalb auch ein Verbot des Stehpinkelns in öffentlichen Toiletten, des unberechtigten Entfernens von Einkaufswagen von Supermarktparkplätzen oder der Verunreinigung von Pfandflaschen mit Zigarettenstummeln niemanden ernsthaft verwundern könnte.

Nutzen wird ihnen allen das Thema »Sicherheit« nicht, sondern nur jenen, die in der Presse nur ‚Lügenpresse‘, in der Justiz nur ‚Kuschelpädagogik‘ und im Parlament nur eine ‚Schwatzbude‘ sehen. Den übrigen aber wird das Bild von Unsicherheit so erst richtig vermittelt.

Denn dass sich die Bevölkerung wirklich in ihrer Mehrheit stets nur mehr und härtere Strafen wünscht, ist lediglich eine Unterstellung. Der Sozialforscher Karl-Heinz Reuband bspw. hat in mehreren Untersuchungen gezeigt, dass das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung auch bei steigender Kriminalität nicht ansteigt|4 und bezeichnet »[d]ie These von einer steigenden Punitivität in der deutschen Bevölkerung [...] als ‚Mythos‘«.|5 Der Kriminologe und Strafrechtler Klaus Sessar erforschte Anfang der 90er Jahre die Strafeinstellungen in der Bevölkerung und der Justiz und kam zu dem Ergebnis, dass 66,2 Prozent der Staatsanwälte, 56,2 Prozent der Strafrichter, 43,6 Prozent der Zivilrichter aber ‚nur‘ 34,2 Prozent der nicht in der Justiz tätigen Bevölkerung in Befragungen klar punitive Einstellungen zeigten.|6 Das mag sich geändert haben. Die simple These aber, dass beim sog. »Punitive Turn« der 90er Jahre populistische Politiker wider Vernunft dem Volkswillen gefolgt seien, ist auch nicht haltbar. Vielmehr ist es die Sicherheitspolitik selbst, die das Sicherheitsbedürfnis verstärkt – wenn nicht erst weckt. Für die kommenden Monate bedeutet das wiederum nichts Gutes.

Mandy Schultz geht im Organisationsbüro ein und aus. In Freispruch, Heft 2, Januar 2013 schrieb sie über das neue Sicherheitskonzept der DFL.

Anmerkungen

1 : Möglicherweise liegt die Aufregung aber auch darin begründet, dass Wendt sein Buch »Deutschland in Gefahr« vermarkten will, das im Spätsommer erschienen ist.
2 : Leo Löwenthal, Falsche Propheten, Studien zum Autoritarismus, Frankfurt/Main 1990, 47 ff.
3 : Rainer Wendt in Focus, 14. August 2016.
4 : Reuband, Über das Streben nach Sicherheit und die Anfälligkeit der Bundesbürger für »Law and Ordner« Kampagnen, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 21, Heft 2, 1992, 139-147
5 : ders.: Steigende Punitivität in der Bevölkerung – ein Mythos?, in: NK 18, 2006, 99 – 103.
6 : Sessar, Wiedergutmachen oder strafen. Einstellungen in der Bevölkerung und der Justiz, Pfaffenweiler 1992.

Mandy Schultz: Sicherheit im Wahlkampf, in: Freispruch, Heft 9, Oktober 2016

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