Strafverteidigertag Rechtspolitik

Alles Terroristen?

Die türkische Regierung geht mit aller Härte nicht nur gegen Demonstranten vor, sondern auch gegen StrafverteidigerInnen. von Gilda Schönberg

 

Druckversion

Von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert finden seit Jahren zahlreiche Strafverfahren gegen Anwältinnen und Anwälte in der Türkei statt. Erst mit den Protesten rund um den Istanbuler Gezi-Park im Juni 2013 ist ein breiteres Bewusstsein entstanden, mit welch autoritären Mitteln die türkische Regierung unter Erdoĝan gegen die kritische Öffentlichkeit im eigenen Land vorgeht. So wurden im November 2011 bei dem bislang zahlenmäßig größten Angriff auf die Anwaltschaft insgesamt 46 AnwältInnen in verschiedenen Provinzen der Türkei unter dem Vorwurf der Unterstützung bzw. Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppierung (KÇK) in Gewahrsam genommen, von denen sich 36 bis zum ersten Verhandlungstag im Juli 2012 in Untersuchungshaft befanden. Aktuell sind immer noch 15 dieser KollegInnen in Untersuchungshaft.

KÇK Verfahren

Nach den Kommunalwahlen Ende März 2009 erhielt die Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) in den kurdischen Provinzen der Türkei einen erheblichen Stimmenzuwachs, stellte in zahlreichen Kommunen die Bürgermeister und war verstärkt in den Gemeindeparlamenten vertreten. Die DTP wurde im Dezember 2009 vom türkischen Verfassungsgericht verboten und organisierte sich neu in der Partei des Friedens und der Demokratie (BDP). Bereits im April 2009 begann eine seit den 1990er Jahren einmalige Repressionswelle gegen zumeist kurdische Politiker, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Anwälte: die sogenannte »KÇK-Operation«. KÇK steht für »Union der Gemeinschaften Kurdistans« (Koma Çivaken Kurdistan), ein auf Initiative des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öçalan gebildeter Dachverband, der nach Ansicht zahlreicher Vertreter von Staatsanwaltschaft, Justiz und Sicherheitsbehörden den städtischen Arm der PKK darstellt. Teile der BDP sehen die KÇK als ein Organisationsmodell zur Förderung einer basisdemokratischen Organisierung. Bereits in dem ersten sog. KÇK Verfahren, das in Diyarbakir geführt wird, befinden sich seit Dezember 2009 acht Anwälte in Haft, unter ihnen auch der Rechtsanwalt Muharrem Erbey, der im November 2012 in Abwesenheit in Berlin mit dem Ludovic-Trarieux Menschenrechtspreis geehrt wurde.

Im September 2011 wurde bekannt, dass der türkische Geheimdienst Verhandlungen mit Vertretern der PKK führt. Nach dem vorläufigen Scheitern der Gespräche erklärte Ministerpräsident Reccep Tayip Erdoĝan gegenüber der Presse einen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit der Anwälte Öçalans und dem Kampf der PKK in den Bergen. Damit war bereits abzusehen, dass Öçalans Anwälte zur Zielscheibe staatlicher Angriffe würden. Am 22. November 2011 dann wurden 46 AnwältInnen in verschiedenen Städten der Türkei verhaftet sowie vier Nicht-Juristen, die mit einen Anwaltsbüro in Verbindung stehen (ein Journalist, eine Anwaltsgehilfin und zwei Fahrer). Gegen 36 AnwältInnen sowie den im gleichen Verfahrenskomplex verhafteten Journalisten wurde Untersuchungshaft angeordnet.
Im April 2012 wurde Anklage gegen die Anwälte beim »Gericht für Schwere Straftaten« in Istanbul erhoben. Diese Gerichte für Schwere Straftaten sind an die Stelle der früheren Staatssicherheitsgerichte getreten, die 2004 u.a. auch auf Druck der EU abgeschafft wurden, wobei sich weder inhaltlich noch personell viel verändert hat. Die Anklageschrift umfasst 944 Seiten und trägt nach Aussage des Istanbuler Rechtsanwaltes Erçan Kanar eher Züge eines politischen Pamphletes als die eines an Straftatbeständen orientierten Vorwurfes. Formal wird den Angeklagten der Verstoß gegen Art. 314 Abs. 1 und 2 tStGB vorgeworfen. Hiernach wird mit Freiheitsstrafen von 10 bis 15 Jahren bestraft, wer eine militärische bewaffnete Organisation gründet oder führt, sowie mit 5 bis 10 Jahren Freiheitsstrafe, wer einer solchen Organisation angehört.

Interviews in der Presse mit Ankündigungen zur Beschwerde beim EGMR werden als Beweise für eine bestimmte Gesinnung gewertet. Anträge zur Verteidigung in der Muttersprache Kurdisch und Anträge auf Beiziehung eines Dolmetschers gelten gleichermaßen als belastend.

Auch mangelt es an Angaben der konkreten Tatzeiten. Es soll um das Jahr 2011 bzw. davor gehen - eine zeitliche Eingrenzung findet nicht statt. Das ist nicht nur ein klarer Verstoß gegen die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift, sondern zugleich ein Verstoß gegen den Grundsatz »ne bis in idem«, da mehrere der Angeklagten bereits zuvor wegen der Vertretung Öçalans und der Gespräche oder vermeintlichen Weitergabe der Gesprächsinhalte angeklagt waren. So wurden z.B. gegen die bis jetzt inhaftierte Kollegin Hatice Korkut seit 2001 insgesamt 49 Ermittlungsverfahren geführt, von denen bereits 41 Verfahren mit einem Freispruch und sieben mit einer Einstellung endeten.

Der Prozessverlauf

Erstmals wurde vom 16. bis 18. Juli 2012, also fast acht Monate nach der Inhaftierung, verhandelt. Die weiteren Verhandlungstage fanden im November 2012,im Januar 2013 sowie im März und Juni dieses Jahres statt. Der nächste Verhandlungstag ist für den 17. September 2013 angesetzt.

Von den angeklagten RechtsanwältInnen waren bis zum 20.6.2013 noch 22 Kolleginnen und Kollegen in Untersuchungshaft, also weit länger als anderthalb Jahre. Abgesehen von dieser ganz extrem schleppenden Terminierung kann auch aufgrund der Vielzahl der Angeklagten und der begrenzten Verhandlungszeit von einer Gewährung rechtlichen Gehörs keinerlei Rede sein.

Im Juli 2012 fand der Prozess noch in einem Gerichtsgebäude in Istanbul statt, für die weiteren Verhandlungstage wurde er in das etwa zwei Stunden von Istanbul entfernt gelegene Silivri verlegt. Das Gerichtsgebäude in Silivri schließt an ein Gefängnis an und liegt weit ab von öffentlichen Verkehrsmitteln. Der abgelegene Charakter des Gerichtsortes erscheint dabei nicht zufällig gewählt.

Erstmals am 28. März 2013 konnten sich die Inhaftierten auf Kurdisch verteidigen, nachdem im Januar 2013 ein Gesetz zur Verteidigung in der Muttersprache verabschiedet worden war. Dies war bei den Verhandlungsterminen zuvor als wichtiges Ziel benannt worden. Für die internationalen Beobachter war dies zunächst verwunderlich, da alle Angeklagten schon aufgrund ihrer Ausbildung perfekt Türkisch beherrschen. Anderseits erscheint gerade die Forderung nach der Verhandlungsmöglichkeit auf Kurdisch mit Dolmetschern, die viele der Inhaftierten Kolleginnen und Kollegen für ihre nicht Türkischsprechenden Mandanten erhoben hatten, ein Grund für deren Verfolgung.
Die Beobachtung des Verfahrens wurde von verschiedenen europäischen Anwaltsorganisationen durchgeführt. Aus Deutschland waren bislang der RAV e.V, DAV und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. vor Ort. In einem direkten Gespräch mit freigelassenen Kolleg/innen stellten diese heraus, dass die internationale Beobachtung durch zahlreiche Berufsorganisationen als kollegiale Unterstützung für sie sehr wichtig war.

Etliche Verfahrensfehler sind zu beklagen. Dazu gehörten:

- Fehlendes Akteneinsichtsrecht nach Inhaftierung der Kolleginnen und Kollegen;
- Unbestimmtheit der Anklageschrift;
- Missachtung des Beschleunigungsgebots (erst 7 Hauptverhandlungstage seit Beginn der Hauptverhandlung im Juli 2012);
- Willkürliche Haftentscheidungen, insbesondere im Hinblick auf eine nachweislich nicht bestehende Fluchtgefahr;
- Missachtung des Begründungserfordernisses (Haftentscheidungen werden nicht mit individuellen Gründen versehen);
- Rechtswidrige Erlangung von Beweismitteln (insbesondere Beschlagnahme von Verteidigungsunterlagen, Telefonüberwachung der Kanzleien etc.);
- Kriminalisierung von legaler Verteidigungstätigkeit aus politischen Gründen,

Solche Mängel zeichnen indessen nicht alleine das KÇK Verfahren aus. Auch in anderen Verfahren der jüngsten Vergangenheit gerieten AnwältInnen in ähnlicher Weise ins Visier der Justiz.

Das Verfahren gegen den Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer

Auch gegen den Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer wird ein Strafverfahren geführt. Der Vorwurf in diesem Verfahren lautet auf rechtswidrige Beeinflussung der Justiz, strafbar nach Art. 277 tStGB mit einer Freiheitsstrafe von zwei bis vier Jahren.

Im Hintergrund des Verfahrens steht eine
Erklärung, die der Präsident der Rechtsanwaltskammer im Rahmen eines anderen Strafverfahrens (dem sog. »Balyoz«-Verfahren) im April 2012 abgegeben hatte. In diesem Verfahren ging es um die Verfolgung eines Planes zur Durchführung eines Putsches durch hochrangige Militärs. Dabei waren zunächst 36 Offiziere angeklagt, zuletzt wurde in dem Verfahren gegen 367 Angeklagte verhandelt. Bereits aufgrund der Anzahl der Angeklagten war an eine an den Grundlagen der Strafprozessordnung orientierte Verhandlung kaum zu denken. Auch dieses Verfahren war beim Gericht für Schwere Straftaten in Istanbul anhängig. In einem Verhandlungstermin im März 2012 wurden die Anwälte der Angeklagten auf Anordnung des Vorsitzenden durch Polizeikräfte gewaltsam aus dem Gerichtsaal entfernt, nachdem sie sich zuvor vergebens bemüht hatten Beweisanträge zu stellen und zu Wort zu kommen. Dieser Vorfall führte dazu, dass der Vorstand der Anwaltskammer sich berufen sah, im folgenden Verhandlungstermin zu erscheinen und eine Erklärung abzugeben, in der um Respekt und Beachtung der Funktion und Rolle der Verteidigung und ein faires Verfahren gebeten wurde.

Dieser Hinweis auf das Verfahrens- und Berufsrecht wurde in der Folge durch das Gericht mit einer Strafanzeige wegen Beeinflussung der Justiz gekontert. Ebenso erstatte der Präsident der AKP-nahen Rechtsanwaltskammer aus Konya Strafanzeige.

Der erste Verhandlungstermin in dieser Sache fand am 17.Mai 2013 begleitet von einer breiten Öffentlichkeit statt. Aufgrund von Platzproblemen wurde die Verhandlung auf Oktober verschoben.

ÇHD Verfahren im Januar 2013

Am 18.1.2013 kam es erneut zur Festnahme von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, von denen sich derzeit noch neun in Untersuchungshaft befinden. Diesmal war es der »Fortschrittliche Anwaltsverein« (Çaĝdas Hukukçular Derneĝi) der in das Visier der Justiz geriet. Alle verhafteten KollegInnen sind dafür bekannt, dass sie in politischen Verfahren verteidigen und sich für die Einhaltung der Menschrechte einsetzen.
Auch hier scheint es wiederum um eine Gleichsetzung der Verteidigung mit den Mandanten zu gehen. U.a. aus dem Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer wurde bei dieser Verhaftungswelle versucht, wenigstens auf die Einhaltung der Regeln zur Durchsuchung von Anwaltskanzleien zu bestehen; hier mag auch ein Zusammenhang mit der dann zeitlich passend erhobenen Anklage gegen den Vorstand Ende Januar 2013 zu sehen sein.

Folgeverfahren gegen die Verteidigung aus dem KÇK-Verfahren

Inzwischen sind auch gegen die Verteidiger/innen aus den KÇK-Verfahren insgesamt 130 weitere Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, sich strafbar gemacht zu haben, weil sie im Rahmen ihrer Verteidigungstätigkeit die Haftentlassung ihrer Mandanten gefordert und damit die KÇK unterstützt hätten.
Die Verfolgung richtet sich damit nun bereits gegen die Verteidiger der Verteidiger. Es ist zu befürchten, dass dies ad infinitum fortgesetzt werden soll, um die Verteidigungstätigkeit nachhaltig zu beeinträchtigen oder ganz auszuschalten.

Die Verhaftung der Kolleginnen und Kollegen im Gerichtsgebäude in Çaglayan/Istanbul

Am 11. Juni 2013 wurden im Gerichtsgebäude in Çaglayan/Istanbul ca. 45 KollegInnen von Spezialeinheiten der türkischen Polizei in Gewahrsam genommen. Die AnwältInnen hatten aufgrund der massiven polizeilichen Übergriffe bei der Auflösung von Versammlungen im Rahmen des Protestes rund um den Gezi-Park von der Staatsanwaltschaft gefordert, Ermittlungen gegen die eingesetzten Polizeikräfte bzw. die Befehlsgeber einzuleiten. Bei den polizeilichen Übergriffen gegen die Demonstranten waren vier Personen getötet und nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes mehr als 8.000 Personen verletzt worden, davon 60 schwer. Dabei wurden nicht nur massiv Tränengasgrananten, Gummigeschosse und Wasserwerfer mit chemischen Substanzen gegen Menschenansammlungen eingesetzt, sondern auch zielgerichtet Tränengas in geschlossene Räume und Notquartiere geleitet.

Die verhafteten Anwälte wurden zum Teil geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Bis zur ihrer Entlassung mussten sie bis zu acht Stunden in einem Bus angeblich zur Personalienfeststellung ausharren. Als Reaktion auf dieses Vorgehen hat es am Folgetag vor dem Gerichtsgebäude eine Solidaritätskundgebung von mehreren tausend Kolleginnen und Kollegen gegeben. Welche Strafverfahren diesen Aktionen wiederum folgen werden ist noch offen.

Sicher ist, dass durch Ministerpräsidenten Erdoĝan die Kolleg/innen, sowie die Protestler des Mai/Juni 2013 als »Terroristen« und »Gesindel« bezeichnet werden. Von dieser Terminologie sollte sich die Anwaltschaft nicht schrecken lassen und das Ende der Verfolgung und Einschüchterung unserer Kolleginnen und Kollegen in der Türkei fordern.

Es ist dies nicht das erste Mal, dass gegen Verteidigerinnen und Verteidiger politische Verfahren geführt werden, und dies geschieht auch nicht nur in der Türkei. Allerdings trifft es unsere türkischen Kolleginnen und Kollegen derzeit besonders massiv. Sie benötigen unsere Unterstützung.


Rechtsanwältin Gilda Schönberg arbeitet als Strafverteidigerin in Berlin. Sie ist Mitglied im Vorstand der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. und Prozessbeobachterin in dem sog. KÇK Verfahren.

Gilda Schönberg:
Alles Terroristen?, in: Freispruch, Heft 3, August 2013

Alle Rechte am Text liegen beim Autor - Nachdruck und Weiterverbreitung nur mit Zustimmung des Autoren.