Strafverteidigertag Rechtspolitik

Dokumentation im Ermittlungsverfahren

Wenn die vom Bundesjustizminister einberufene Expertenkommission Reformvorschläge für das Strafverfahren vorbereitet, sollte ein Punkt mit höchster Dringlichkeit auf ihrer Agenda stehen: Eine gesetzliche Regelung zur Dokumentation von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren. von Jasper von Schlieffen

 

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Die Frage, in welcher Art und Weise Vernehmungen von Beschuldigten oder Zeugen im Ermittlungsverfahren zu dokumentieren sind, ist nach geltendem Recht nur äußerst rudimentär geregelt. Für polizeiliche Vernehmungen im Ermittlungsverfahren sind in § 163 Abs. 3 (Zeugen) und § 163 a Abs. 1, 2 und 4 StPO (Beschuldigte) Regelungen getroffen, die keinerlei Vorgaben zu der Art und Weise der Dokumentation der Vernehmung enthalten. Für ermittlungsrichterliche und staatsanwaltliche Vernehmungen sind in den §§ 168, 168a StPO Möglichkeiten der wörtlichen Dokumentation vorgesehen.

In der Praxis wird von der Möglichkeit einer akustischen oder audiovisuellen Aufzeichnung der Vernehmung, die aufgrund digitaler Technik kostengünstig möglich ist und eine Wortlautdokumentation der Vernehmung ermöglicht, praktisch kein Gebrauch gemacht, obgleich das Gesetz diese Dokumentationsformen auch für polizeiliche Vernehmungen nicht ausschließt. Polizeiliche Vernehmungen, die im Ermittlungsverfahren vorherrschend sind, werden vielmehr regelmäßig in der Weise dokumentiert, dass der Vernehmungsinhalt von den Vernehmungsbeamten selbst durch Aufschreiben oder per Diktat durch Protokollkräfte festgehalten wird. Diese geradezu archaische Dokumentationstechnik verleiht dem Vernehmungsbeamten eine unangemessene Definitionsmacht über den Inhalt des Vernehmungsprotokolls. Sie hat zur Folge, dass vielfach Fragen nicht wortgetreu, sondern vereinfacht protokolliert werden, Vorhalte im Protokoll gar nicht oder nur durch den Hinweis »auf Vorhalt« gekennzeichnet werden, ohne dass er Inhalt des Vorhaltes nachvollziehbar wird und schließlich dass die Antworten der befragten Personen in einer zusammenfassenden und paraphrasierenden Form, mithin nur selektiv protokolliert werden.

Dies hat nichts mit dem Vorwurf der bewussten Verfälschung des Protokollinhaltes zu tun, vielmehr ist die Filterung des Aussageinhaltes auf normative und psychologische Grundbedingungen der Vernehmungssituation zurückzuführen. Rasch/Hinz haben bereits 1980 in einer Studie zum Einfluss der gesetzlichen Mordmerkmale auf kriminalpolizeiliche Erstvernehmungen bei Tötungsdelikten herausgefunden, dass bei den vernehmenden Beamten die Tendenz besteht, eine möglichst abgerundeten Sachverhalt herauszuarbeiten, der an den Kriterien des § 211 StGB orientiert ist.|1 Auch dem Vernehmungsbeamten ist bewusst, dass das von ihm in dieser Form gefertigte Protokoll die Vernehmungssituation nicht originalgetreu, sondern nur ausschnittsweise abbildet. Sein Bemühen ist deshalb darauf gerichtet, die von ihm als wichtig erachteten Aspekte der Vernehmung in das Protokoll aufzunehmen. Den Prüfungsmaßstab für das, was wichtig ist, bildet der gesetzliche Tatbestand. Angaben des Vernommenen, die sich als relevant für die Subsumtion unter dem gesetzlichen Tatbestand erweisen, finden danach am ehesten Eingang in das polizeiliche Vernehmungsprotokoll.
Zu dieser, durch die Aufgabenstellung des Polizeibeamten vorgegebenen Norm bei der Dokumentation des Vernehmungsinhaltes, gesellt sich ein weiterer psychologischer Faktor, der zu einer Verzerrung der Dokumentation führt. Eine Vernehmung ist kein »offener« Prozess. Vielmehr wird der Vernehmungsbeamte je nach Stand des Verfahrens zum Zeitpunkt der Vernehmung bereits ein bestimmtes Bild von der Tat gewonnen und daraus bestimmte Ermittlungshypothesen über den Ablauf der Tat, die Person des Täters und die Motive zur Tat entworfen haben. Diese bewusst oder unbewusst vorhandenen Hypothesen bilden den archimedischen Punkt der Vernehmung, die der Überprüfung dieser Hypothesen dient. In der rechts- und sozialpsychologischen Forschung ist bekannt, dass das Testen sozialer Hypothesen, wie einer Ermittlungshypothese, einer Reihe von Mechanismen unterliegt, die systematisch die Bestätigung einer Hypothese begünstigen.|2 Infolgedessen kommt es bei der herkömmlichen Protokollierung zu Verzerrungen durch selektive Erfassung des Aussageinhaltes und verbaler oder nonverbaler Einflussnahmen des Befragenden.

Untersuchungen belegen das Ausmaß des Verlustes an relevanten Details.|3 Dieser Missstand ist den Strafverfolgungsbehörden durchaus bewusst: Auf der 18. Juni-Tagung für forensische Psychiatrie und Psychologie 2014 in Berlin stellte eine beim LKA Hamburg tätige Psychologin heraus, dass die Protokollierung von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren häufig problematisch, weil unvollständig sei, ein tatsächlich nicht stattgefundener Frage-Antwort-Verlauf der Vernehmung protokolliert und mitunter entscheidende Vor- und Zwischengespräche in Vernehmungspausen überhaupt nicht protokolliert würden. Auf diese Weise seien die suggestiven Einflüsse durch den Befrager und die für die aussagepsychologische Beurteilung hochwichtige Aussagequalität nicht zuverlässig zu beurteilen. Dies könne beispielsweise zur Folge haben, dass nicht sicher feststellbar sei, ob in der Vernehmung offenbartes etwaiges Täterwissen tatsächlich vom Beschuldigten stamme.
Das in der Form der konsekutiven Paraphrasierung gewonnene Vernehmungsprotokoll ist daher nicht ein spiegelgetreues Abbild der stattgefundenen Vernehmung, sondern ein durch die Aufgabenstellung des Vernehmungsbeamten und seine Ermittlungshypothesen bedingtes Konstrukt.

Diese hochgradig fehleranfällige Dokumentationstechnik ist angesichts der enormen Bedeutung, die Vernehmungsprotokollen aus dem Ermittlungsverfahren für das gesamte weitere Verfahren zukommt, nicht akzeptabel. Vernehmungsprotokolle bilden noch im Ermittlungsverfahren vielfach die Grundlage für schwerwiegende Grundrechtseingriffe bis hin zu Freiheitsentziehungen. Bei der Prüfung derartiger Anordnungen wird die Validität des Vernehmungsprotokolls in aller Regel nicht ansatzweise in Frage gestellt. Auch im Zwischenverfahren ergeht fast ausschließlich eine Entscheidung nach Aktenlage, in der die Authentizität von Vernehmungsprotokollen nicht in Frage gestellt oder überprüft wird. Die Vernehmungsprotokolle aus dem Ermittlungsverfahren wirken aber auch weit in die Hauptverhandlung hinein, da sie nicht nur im Rahmen von Verständigungsgesprächen die Grundlage einer frühen richterlichen Einschätzung bilden, sondern auch im Fall einer streitigen Hauptverhandlung das durch die Aktenlektüre geprägte Bild des Richters vom Sachverhalt bestimmen. Empirische Untersuchungen zum sogenannten Inertia-Effekt belegen, dass die richterliche Überzeugungsbildung denselben konfirmatorischen Prozessen beim Testen sozialer Hypothesen-Testen unterliegt, die auch bei polizeilichen Vernehmungen wirken.|4

Auch wenn psychologisch gesteuerte kognitive Prozesse bei der Informationsaufnahme dadurch nicht prinzipiell geändert werden, ist zu fordern, dass Vernehmungen im Ermittlungsverfahren in Anbetracht ihrer enormen Bedeutung für das gesamte Strafverfahren audiovisuell dokumentiert werden. Diese Dokumentation sollte die gesamte Kommunikation zwischen Vernehmer und Vernommenen in der Vernehmungssituation umfassen, also nicht nur die eigentliche Vernehmung, sondern auch sogenannte Vorgespräche oder Pausengespräche. Nur auf diese Weise können später in der Hauptverhandlung der Verlauf und Inhalt von Vernehmungen aus dem Ermittlungsverfahren eindeutig nachvollzogen und langwierige und häufig hochgradig kontrovers geführte Vernehmungen von Vernehmungsbeamten vermieden werden.

Die Forderung nach vollständiger audiovisueller Dokumentation von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren ist ein Gebot der Sachaufklärung. Die vollständig dokumentierte Aussage gibt nicht nur der richterlichen Überzeugungsbildung eine verlässlichere Grundlage, sondern auch den aussagepsychologischen Sachverständigen, für deren Einschätzung vor allem der Erstaussage großes Gewicht zukommt. Dabei geht es um die Beurteilung des qualitativen und quantitativen Detailreichtums der Aussage, des Vorliegens möglicher Fehlerquellen und der Aussagekonstanz. Auch hier liegt auf der Hand, dass dem Sachverständigen durch eine audiovisuell dokumentierte Aussage valideres Untersuchungsmaterial an die Hand gegeben wird. Aus den genannten Gründen ist man beispielsweise in England schon längst dazu übergegangen, Vernehmungen im Ermittlungsverfahren audiovisuell zu dokumentieren.|5

Auch Kostengründe dürften für die Einführung einer entsprechenden Dokumentationspflicht sprechen, denn Digitaltechnik ist in hoher Qualität und kostengünstig verfügbar. Die Anschaffungs- und Betriebskosten dürften weit unter den möglichen Einsparungen liegen, wenn auf Schreibkräfte verzichtet werden kann und das zeitaufwändige Diktieren entfällt.
Aus den genannten Gründen ist der Forderung von Deckers|6 zu folgen, dass Vernehmungen im Ermittlungsverfahren jedenfalls dann audiovisuell zu dokumentieren sind, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung i.S.d. § 140 StPO vorliegt.

Jasper von Schlieffen ist Geschäftsführer des Organisationsbüros.

Anmerkungen:

1 : vgl. Rasch/Hinz, Kriminalistik 1980, 377 ff.
2 : dazu Schulz-Hardt/Köhnken, Wie ein verdacht sich selbst bestätigen kann, Praxis der Rechtspsychologie 10, SH 1, 2000, 60ff.; vom Schemm/Köhnken, Voreinstellungen und das Testen sozialer Hypothesen, in: Volbert/Steller, Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 322ff.
3 : vgl. Deckers, Dokumentation im Strafverfahren, StraFo 2013, 133, 136
4 : Schünemann, Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter? Zur empirischen Bestätigung von Perseveranz- und Schulterschlusseffekt, StV 2000, 159ff.
5 : vgl. Milne/Bull, Psychologie der Vernehmung, 2003
6 : siehe oben, Anmerkung 3

Jasper von Schlieffen:
Dokumentation im Ermittlungsverfahren, in: Freispruch, Heft 5, September 2014

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