Strafverteidigertag Rechtspolitik

Renaissance des »schwachen Geschlechts«

Die Reform des Sexualstrafrechts behauptet, die Rechte sexuell bedrängter Frauen zu stärken – und bedient dabei ein rückständiges Frauenbild, das längst überwunden sein sollte.
Von Anette Scharfenberg.

Die Wellen schlugen hoch in der Auseinandersetzung um die erneute Verschärfung des Sexualstrafrechts. Unter dem Slogan »Ein Nein ist genug« wurde eine Debatte geführt, die an Emotionalität, Vorurteilen, juristischer Unkenntnis und auch reaktionärem Rollenverständnis schwer zu überbieten war. Anfang Juli erreichte die Debatte dann ihren Höhepunkt: Während vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten Demonstrantinnen als »Team Gina Lisa« ein Ende der »Straflosigkeit« von Vergewaltigungen forderten, standen im deutschen Bundestag Frauen aller Fraktionen lächelnd und mit Tränen in den Augen, um dem einstimmig auf den Weg gebrachten Gesetzesentwurf zur Verschärfung des Sexualstrafrechts zu akklamieren. In den Medien wurde einhellig gelobt, der Grundsatz »Ein Nein ist genug« sei »endlich« im deutschen Recht verankert worden und sexuelle Handlungen gegen den Willen der Betroffenen »endlich« strafbar. Ein historischer Moment auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Oder doch nicht?

Abseits aller Ideologie stellt sich die Debatte um die vermeintliche Strafbarkeitslücke so einfach wie bestürzend dar: Es wurde einmal mehr mit breiter gesellschaftlicher Zustimmung das materielle Strafrecht verschärft — und damit einhergehend als Nebenfolge gleich auch das Ausweisungsrecht für »kriminelle Ausländer«. Der Grundsatz »Ein-Nein-ist-genug« soll auch ins Aufenthaltsgesetz überführt werden, obwohl die Koalition bereits im Januar diesen Jahres die Ausweisungsregelungen für ausländische Straftäter verschärft hat. Wer grabscht und auch noch Ausländer ist, darf kein Pardon erwarten! Diese Straftat kann zukünftig zur
Verhängung einer Freiheitsstrafe führen und eine Freiheitsstrafe, egal ob mit oder ohne Bewährung, begründet ein »schweres Ausweisungsinteresse«. Welche »Schutzlücke« damit geschlossen wird, liegt auf der Hand. Köln lässt grüßen!

Wie es sich gehört, wurden im Zuge dieses Gesetzgebungsverfahrens auch etliche »Sachverständige« um Stellungnahme gebeten — in diesem Falle fast ausnahmslos solche, die für eine Verschärfung des Sexualstrafrechts eintraten. Einige der Stellungnahmen übertrafen sich auf der Suche nach »Schutzlücken« gegenseitig in der Darstellung von Lebenssachverhalten, die beweisen sollten, dass zahllose unterschiedliche Varianten sexueller Übergriffe nach bisher geltendem Recht straflos seien. Ein Gruselkabinett jedweden denkbaren sexuellen Übergriffs gegen jedwedes denkbare Opfer. Die Idee, die dahinter steckt, ist offensichtlich getragen von dem Glauben, dass Strafrecht dazu geeignet ist, grundsätzlich zwischenmenschliche Kontakte über Normen zu regeln und menschliche Kommunikation zu ersetzen. Im Zentrum der Fürsorge steht das »sich nicht zur Wehr setzen könnende Opfer«.

Welches Frauenbild dem zugrunde liegt, wird in einer schriftlichen Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht- und Verbraucherschutz des Bundestags besonders deutlich:|1

»In der bestehenden Rechtslage ist ein Verstoß gegen die sexuelle Selbstbestimmung dann strafbar, wenn Zwang zur Überwindung eines von der betroffenen Person erfolgten oder erwarteten Widerstands ausgeübt wird. Damit ist das sexuelle Selbstbestimmungsrecht nicht von sich aus strafrechtlich geschützt, sondern nur dann, wenn es dem Grundsatz nach wehrhaft verteidigt wird. [...] Dabei wird von der falschen Prämisse ausgegangen, dass eine Person, die nicht aufgrund von z.B. Drohung oder erheblicher psychischer oder physischer Beeinträchtigung Widerstand unterlässt, grundsätzlich in der Lage ist, sich wehrhaft zu verteidigen oder sich der Situation aktiv zu entziehen, wenn sie eine sexuelle Handlung nicht möchte. Dies gelingt sicherlich im alltäglichen Zusammenleben häufig, kann und darf aber nicht als selbstverständlich angenommen werden. [...] Viele Frauen – die meisten Betroffenen sexueller Übergriffe sind weiblich – leisten in diesen Situationen keinen (massiven) Widerstand. Die Anwendung körperlicher Gewalt widerspricht der weiblichen Sozialisation, solches Verhalten gehört im Alltag in der Regel nicht zum weiblichen Verhaltensrepertoire und ist deshalb in Notsituationen für Frauen oft erst recht nicht leistbar und nicht als Handlungskonzept abrufbar.«

Das hier dargestellte weibliche Opfer entspricht einem Frauenbild, das irgendwo zwischen katholischer Mädchenschule, Singkreis und weihnachtlichem Plätzchenbacken oszilliert. Nach über 100 Jahren Frauenbewegung, Kampf um gleiche gesellschaftliche Teilhaberechte und gegen die patriarchale Idee des »schwachen Geschlechts« ist das eine Bankrotterklärung des Feminismus. Tagtäglich beweisen Soldatinnen, Polizistinnen, Kampfsportlerinnen etc., dass die weibliche Sozialisation durchaus nicht der Anwendung körperlicher Gewalt widerspricht — nicht einmal dort, wo die traditionelle patriarchale Unterdrückung von Frauen noch tiefgreifender wirkt, als im schwäbischen Pfaffenwinkel oder der Kreuzberger Oranienstraße, wie aktuell überaus beeindruckend die Kurdinnen im Kampf gegen den Islamischen Staat beweisen. Die uralte (falsche) Annahme, Frauen seien qua Geschlecht Opfer und Männer qua Geschlecht Täter, wird nicht dadurch wahr, dass man sie wiederbelebt.

Die Debatte um die Verschärfung des Sexualstrafrechts hat im Kern nur einmal mehr bewiesen, dass der Glaube, mit den Mitteln des Strafrechts seien gesellschaftliche Probleme lösbar, ein Irrtum ist. In der viktimären Gesellschaft sind nicht die Opfer, sondern die Opferschützer*innen das Problem, die hinter der Fassade der verständnisvollen Zugewandtheit in selbstgerechtem Eifer für die vermeintlich gerechte Sache kämpfend, jedes Maß verloren haben. Angesichts der Tatsache, dass im Rahmen der Diskussion um die Verschärfung des Sexualstrafrechts gerade von sogenannten »fortschrittlichen« Kreisen ohne Hemmungen auch rassistische Vorurteile geschürt wurden und ein reaktionäres Frauenbild wieder hoffähig geworden ist, bekommt die Freude der Politikerinnen über die anscheinende Stärkung des Rechtes der Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung einen sehr schalen Nachgeschmack.

In Abänderungen eines überaus beliebten Slogans der vergangenen Jahrzehnte gilt daher heute: »Gute Mädchen kommen ins Team Gina Lisa, böse Mädchen kommen überall hin!«

Anette Scharfenberg ist Vorsitzende der Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e.V.

Anette Scharfenberg: Renaissance des "schwachen Geschlechts", in: Freispruch, Heft 9, Oktober 2016

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