Strafverteidigertag Rechtspolitik

Verlorene Unschuld(svermutung)

Die Bundesregierung hat ein drittes Opferrechtsreformgesetz auf den Weg gebracht, das Geschädigten im Strafverfahren mehr professionelle Opferbetreuer zur Seite stellt und die Unschuldsvermutung weiter untergräbt. Von Anette Scharfenberg

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Ende Januar 2015 hat die Bundesregierung einen Entwurf für ein »Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren« (3. Opferrechtsreformgesetz) vorgelegt, der die Richtlinie des europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Strafverfahren sowie die Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI vom 25. März 2001 (Opferschutzrichtlinie) umsetzen soll. Zudem soll den Anforderungen aus Art. 31 Buchstabe a des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention) nachgekommen werden und über die eigentliche Richtlinienumsetzung der Opferschutzrichtlinie hinausgehend das geltende Instrumentarium der Opferschutzregelungen in einzelnen Bereichen erweitert werden.|1 Die europäische Opferschutzrichtlinie ist bis zum 16. November 2015 von den Mitgliedstaaten umzusetzen.

Mit dem Gesetzesentwurf, der bereits vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, den Bundesrat durchlaufen hat und bereits zur öffentlichen Anhörung von Sachverstänigen vor den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz gebracht wurde, setzt der Gesetzgeber die seit Mitte der achtziger Jahre begonnene Entwicklung zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren fort.

Historisch betrachtet begann die Wandlung des Geschädigten zum Opfer, des passiven Zeugen zum aktiven Verfahrensbeteiligten, mit dem Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren vom 18.12.1986 (Opferschutzgesetz), das die Beteiligungsrechte der Verletzten, der Nebenklage und das Adhäsionsverfahren neu regelte. Zehn Jahre zuvor wurde bereits durch Einführung des Opferentschädigungsgesetzes, welches Leistungen im Rahmen des Sozialrechts für Geschädigte von Straftaten und ihre Hinterbliebenen regelte, die Position von Geschädigten – allerdings außerhalb des Strafverfahrens – gestärkt. Nach Verbesserungen zum Zeugenschutz und der Einführung des Täter-Opfer-Ausgleichs wurden durch das 1. Opferrechtsreformgesetz 2004 die Verfahrens – und Informationsrechte von Geschädigten gestärkt und die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Angeklagte verbessert. Das Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe von 2006 verbesserte die Möglichkeiten von Geschädigten, Ersatz für entstandene materielle Schäden zu erlangen. Das 2. Opferrechtsreformgesetz brachte 2009 Verbesserungen für die Nebenklage und die Beiordnung eines kostenfreien »Opferanwalts«. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs aus dem Jahr 2013 wurden insbesondere die Rechte kindlicher und jugendlicher Opfer von Sexualstraftaten weiter gestärkt, die Verjährungsregelungen zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche ausgedehnt und die strafrechtliche Verjährung gehemmt.|2 Daneben enthalten zwischenzeitlich die Richtlinien für das Straf-und Bußgeldverfahren (RiStBV) eine Vielzahl von opferschützenden Vorschriften als Handlungsanleitungen und detaillierte Anweisungen zum Zeugenschutz für Staatsanwaltschaften und die Kriminalpolizei.

Kernstück des 3. Opferrechtsreformgesetzes nun ist - neben der Erweiterung und Neustrukturierung der Hinweis– und Belehrungspflichten gegenüber Verletzten ab dem Zeitpunkt der ersten Kontaktaufnahme mit der zuständigen Behörde, erweiterten Auskunftsrechten von Verletzten über den Verfahrensstand, dem Recht auf Hinzuziehung eines Dolmetschers für nicht deutschsprachige Verletzte und dem Recht auf Übersetzung von Aktenteilen, die für die Wahrnehmung prozessualer Rechte wesentlich sind - die Neufassung des § 48 Abs. 3 StPO, durch die Geschädigten mit »besonderer Schutzbedürftigkeit« in Umsetzung von Art. 18 und 22 der Opferschutzrichtlinie besondere Schutzmaßnahmen gewährt werden, sowie die Einführung einer »psychosozialen Prozessbegleitung« (§ 406 g StPO-E).

Besonders diese Änderungen in § 48 Abs. 3 StPO-E und die Einführung einer psychosozialen Prozessbegleitung werden zwangsläufig in Konflikt mit der Unschuldsvermutung und den Rechten des Beschuldigten oder Angeklagten geraten.

§ 48 Abs. 3 soll künftig wie folgt lauten:

»Ist der Zeuge zugleich der Verletzte, so sind die ihn betreffenden Verhandlungen, Vernehmungen und sonstige Untersuchungshandlungen stets unter Berücksichtigung seiner besonderen Schutzbedürftigkeit durchzuführen. Insbesondere ist zu prüfen,
1. ob die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen Maßnahmen nach den §§ 168e oder 247a erfordert,
2. ob überwiegende schutzwürdige Interessen des Zeugen den Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Absatz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes erfordern und
3. inwieweit auf nicht unerlässliche Fragen zum persönlichen Lebensbereich des Zeugen nach § 68a Absatz 1 verzichtet werden kann.
Dabei sind die persönlichen Verhältnisse des Zeugen sowie Art und Umstände der Straftat zu berücksichtigen. Hinweise auf eine besondere Schutzbedürftigkeit können sich insbesondere aus der Stellungnahme einer Opferhilfeeinrichtung ergeben.«|3

§ 48 Abs. 3 StPO-E soll dabei die neue Einstiegsnorm für den Umgang mit Opferzeugen werden, um die ihnen jeweils gegenübertretende hoheitliche Stelle für die besonderen Bedürfnisse des Verletzten zu sensibilisieren und die möglichst frühe Prüfung der ausdrücklich aufgeführten besonderen Schutzmaßnahmen anzumahnen. Die grundsätzlich für das gerichtliche und gem. § 161a Abs. 1 Satz 2 StPO für das staatsanwaltschaftliche Verfahren geltende Vorschrift soll durch eine Bezugnahme in § 163 Abs. 3 Satz 1 StPO auch im polizeilichen Ermittlungsverfahren Geltung erhalten.|4

Der Gesetzesentwurf enthält zugleich keine Legaldefinition, wer Verletzter im Sinne des Strafprozessrechts ist. Aus der Begründung zum Gesetzentwurf ergibt sich vielmehr, dass bewusst auf eine Definition des Begriffs des »Opfers« beziehungsweise des Verletzten verzichtet und der schwarze Peter wiederum der Rechtspraxis zugeschoben wurde, die eine Definition weiterhin aus dem »jeweiligen Funktionszusammenhang« ableiten soll. In der Praxis wird das bedeuten, dass vernehmende Polizeibeamte, Staatsanwälte und Richter schon vor der Vernehmung festlegen müssen, ob der Zeuge zugleich Verletzter ist und ihm deshalb besondere Schutzrechte zuzubilligen sind.

Die Festlegung, ob ein Zeuge zugleich Verletzter im Sinne des Gesetzes ist, wird voraussichtlich also regelmäßig bereits im Ermittlungsverfahren zu treffen sein. Völlig unabhängig von der absurd anmutenden Frage, ob vernehmende Polizeibeamte mit Hilfe einer Opferhilfeeinrichtung die besondere Schutzwürdigkeit von Zeugen klassifizieren können oder nicht, hebelt die Festlegung auf die prozessuale Position des Verletzten schon zu Beginn des Ermittlungsverfahrens die Unschuldsvermutung faktisch aus. Die Neuregelung des § 48 Abs. 3 StPO zwingt das Gericht in der Hauptverhandlung - noch vor der Vernehmung des Zeugen - bindend zu der Feststellung, dass eine Straftat stattgefunden hat, deren Opfer der Zeuge ist. Es besteht die Gefahr, dass sich Gerichte, die eine solche Feststellung treffen, der Besorgnis der Befangenheit ausgesetzt sehen.|5 Unter Beachtung der Unschuldsvermutung steht nämlich erst mit der rechtskräftigen Verurteilung fest, wer Täter und wer »Opfer« einer Straftat ist.

Mit der Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung für besonders schutzbedürftig Verletzte steht nun diesem Personenkreis neben der Person des Vertrauens (§ 406f Abs. 2StPO), dem Verletztenbeistand (§ 406g StPO, § 406h StPO-E) und der Nebenklagevertretung (§397a StPO) eine vierte Person zur Unterstützung im Strafverfahren zur Seite.

Die psychosoziale Prozessbegleitung soll eine weitere Form der nichtrechtlichen Begleitung für stark belastete Verletzte sein. Die Unterstützung soll sich über das gesamte Verfahren erstrecken. Ziel ist, die individuelle Belastung der Verletzten zu reduzieren, ihre sog. Sekundärviktimisierung zu vermeiden und Aussagebereitschaft zu fördern. Der psychosoziale Prozessbegleiter hat ein Anwesenheitsrecht während der Vernehmungen und in der Hauptverhandlung. Den Ländern soll es obliegen, die Personen und Stellen festzulegen, welche die psychosoziale Prozessbegleitung leisten werden. Die Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters soll auf Antrag des Verletzten in den Fällen des § 397a Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO zwingend sein, in den Fällen des § 397a Abs. 1 Nr. 1 bis 3 steht die Beiordnung im Ermessen des Gerichts und soll erfolgen, wenn die besondere Schutzbedürftigkeit des Verletzten dies erfordert. § 142 StPO gilt entsprechend bezüglich der Auswahl des psychosozialen Prozessbegleiters. Die Kosten der psychosozialen Prozessbegleitung sollen bis zu einem Höchstbetrag von 750 Euro für die Prozessbegleitung im Ermittlungsverfahren, Hauptverfahren und gegebenenfalls Berufungsverfahren als Gerichtskosten im Falle einer Verurteilung dem Angeklagten auferlegt werden.

Sollte das Gesetz in dieser Form in Kraft treten, werden Angeklagte im Falle einer Verurteilung künftig zusätzlich zu den Kosten der Nebenklage auch die Kosten für die psychosoziale Prozessbegleitung tragen müssen.

Es stellt sich die Frage, ob dem Gesetzgeber bewusst ist, dass gleichzeitig mit der voranschreitenden Beteiligung von Geschädigten im Strafverfahren die Rechtsnachteile für den Beschuldigten anwachsen. Es gibt heute bereits zwei völlig unterschiedliche Strafverfahren: solche mit und solche ohne Opferbeteiligung. Bei ersteren gelten unzählige Opferschutzregelungen, der Zeuge ist nicht mehr nur Zeuge, sondern Verletzter oder »Opfer« und hat vielfältige Möglichkeiten auf den Ausgang des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dieses Verfahren ist in Wirklichkeit ein Parteiprozess. Das Recht des Verletzten auf Akteneinsicht (§ 406 Abs. 1 StPO) führt zu massiven Problemen bei der Wahrheitsfindung, da die Aktenkenntnis des Verletzten die richterliche Sachaufklärung beeinträchtigen kann. Aus diesem Grund ist eine umfassende Einsicht in die Verfahrensakten dem Verletzten in aller Regel in solchen Konstellationen zu versagen, in denen seine Angaben zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt.|6

Aber auch die subjektive Beeinflussung der Gerichte durch die Beteiligung Geschädigter am Strafverfahren darf nicht unterschätzt werden. Kann ein Gericht in einem Verfahren, in dem der Geschädigte von Anfang an sämtliche prozessuale Möglichkeiten in Anspruch genommen hat und von demselben Gericht im Laufe der Hauptverhandlung bereits als »Opfer« festgestellt wurde, in Anwesenheit eben dieses »Opfers«, einer »Person des Vertrauens«, des psychosozialen Prozessbegleiters und der Nebenklagevertretung überhaupt noch zu einem Freispruch gelangen?

Schon jetzt ist klar, dass mit dem 3. Opferrechtsreformgesetz die Ausweitung der Beteiligung von Geschädigten am Strafverfahren nicht zu Ende sein wird. Von Opferhilfeorganisationen werden jetzt schon weitere Forderungen, wie die Möglichkeit des Täter-Opfer-Ausgleich nur bei Geständnis des Täters oder erweiterte Rechtsschutzmöglichkeiten von Verletzten bei Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO gestellt.|7 Zudem wurde bisher in der Bundesrepublik die europäische Opferschutzrichtlinie nicht bis in alle Details umgesetzt. Die europäische Opferschutzrichtlinie definiert als Opfer auch eine Person, die einen wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. Wir dürfen uns zukünftig dann wohl auf Verfahren freuen, in denen Geschädigte eines Anlagebetrugs von psychosozialen Prozessbegleitern, Personen des Vertrauens und Nebenklagevertretern begleitet und unterstützt werden.

Selbstverständlich müssen Opfer von Straftaten in einer humanen Gesellschaft Solidarität und Hilfe erfahren. Aber genauso selbstverständlich haben Angeklagte einen Anspruch auf ein faires Verfahren, in welchem die Unschuldsvermutung gilt und es das Ziel des Gerichtes ist, die Wahrheit zu erforschen. Die Durchsetzung des Strafprozessrechts mit Opferschutzrechten führt deshalb zu einem unauflösbaren Widerspruch. Ein Strafverfahren kann nicht gleichzeitig dem Täter und dem Opfer gerecht werden. Es ist an der Zeit darüber nachzudenken, ob Opfer nicht außerhalb des Strafverfahrens Genugtuung erfahren und im Strafverfahren allein die Position von Zeugen inne haben können. Opferschutzgesetze sind seit über 30 Jahren Mainstream und gesellschaftlicher Konsens. Im Laufe der Jahre hat sich eine beachtliche »Opferschutzlobby« gebildet, die sich jede Kritik an ihrer Tätigkeit verbietet. Es ist einfach, auf der scheinbar richtigen Seite zu stehen. Dabei gibt es keinerlei empirischen Nachweis darüber, ob die vielfältigen Opferschutzregelungen ihren Zweck erreichen. Eine solche Untersuchung könnte ja vielleicht zum Ergebnis kommen, dass Opfer von Straftaten in der reinen Zeugenposition weniger traumatisiert werden als durch die mannigfaltige Prozessbegleitung, die das Bewusstsein, ein Opfer zu sein, schafft und verstärkt. Und ein solches Ergebnis wäre dem Zeitgeist nicht zuträglich und politisch nicht gewollt.

Anette Scharfenberg ist Strafverteidigerin und Vorsitzende der Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e.V..

Anmerkungen:

1 : Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3.Opferrechtsreformgesetz)
2 : zusammenfassend Haverkamp: Im Labyrinth des Opferschutzes-Zum Entwurf eines Dritten Opferrechtsreformgesetz, ZRP 2015, S. 53 ff, und Markus Löffelmann: Drittes Opferrechtsreformgesetz, Recht und Politik 11/2014, 24. November 2014
3 : Referentenentwurf Art. 1 Nr.1
4: Referentenentwurf, Begründung zum Gesetzesentwurf Seite 16
5 : Deutscher Richterbund: Stellungnahme Nr. 17/14 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren
6 : HansOLG Hamburg, Beschl. vom 24.10.2014 – 1 Ws 110/14, StraFO 2015, S. 23 ff.
7 : Stellungnahme des Weißen Ring zur Anhörung im Rechtsausschuss zum 3.Opferrechtsreformgesetz

Anette Scharfenberg: Verlorene Unschuld(svermutung). Zum 3. Opferrechtsreformgesetz, in: Freispruch, Heft 7, September 2015, S. 6-8

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