Generalrevision

Die Regelungen zur Untersuchungshaft gehören grundlegend reformiert. Martin Rubbert macht Vorschläge, wie eine solche Reform aussehen könnte.

 

Martin Rubbert: Generalrevision. Reformvorschläge für das Untersuchungshaftrecht, in: Freispruch, Heft 5, September 2014

Zum 1. Januar 2010 kam es nach langer Zeit wieder zu Änderungen im 9. Abschnitt der StPO (»Verhaftungen und vorläufige Festnahme«). Eine Generalrevision der Regelungen zur Untersuchungshaft blieb aus. Es wurden lediglich die in Folge der Förderalismusreform im Jahre 2006 und der daraus resultierenden Länderzuständigkeit für die Regelung des Vollzuges der Untersuchungshaft notwendigen Regelungen getroffen und der »letter of rights« gesetzestechnisch umgesetzt. Schwerpunkt war der neu geschaffene § 119 StPO sowie die Einführung des mittelbar mit der Untersuchungshaft in Zusammenhang stehenden § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO. Die Gelegenheit für die seit Jahren reklamierte|1 grundlegende Reform des Haftrechts verstrich ungenutzt.

I. Die Haftgründe

1. Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO)

Statistische Erhebungen haben gezeigt, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr regelmäßig 90 Prozent aller Haftanordnungen begründet. Statistisch liegt die durchschnittliche Bearbeitungszeit einer Haftsache bei 20 Minuten.|2 Die bei der Annahme von Fluchtgefahr erforderliche Prognoseentscheidung trifft der Haftrichter - die mangels weiterer Voraussetzungen oft eine Mischung aus Bauchentscheidung und Erfahrung darstellt. Eine gesetzgeberische Neukonzeption der »Fluchtgefahr« ist notwendig und erfordert Konkretisierungen und die Formulierung von Anhaltspunkten für die Prognoseentscheidung. Hierbei sollten Grundlagen für die Formulierung von Anforderungen aus einer - bislang fehlenden - Empirie erarbeitet werden. Allen bisherigen Auswertungsversuchen|3 fehlt es an einer belastbaren Evaluierung. Es liegen insbesondere zur Frage, ob bei einer Person zu Recht Fluchtgefahr angenommen und diese inhaftiert wurde, keine interpretierbaren Zahlen vor. Eine Bewertung, ob und unter welchen Umständen begründet Fluchtgefahr angenommen wurde, könnte aber bei einer Auswertung der Fälle möglich werden, in denen Personen, deren jeweiliger Haftbefehl mit Fluchtgefahr begründet wurde, bei fortbestehender Fluchtgefahr wegen nicht ausreichender Beschleunigung des Verfahrens unter Aufhebung des Haftbefehls aus der Haft entlassen wurden. In diesen Fällen könnte die Richtigkeit der getroffenen Prognosen überprüft und Kriterien für Prognoseentscheidungen zur »Fluchtgefahr« gefunden werden. Diese Erkenntnisse können sodann in eine Begrenzung bzw. Konkretisierung der »Fluchtgefahr« umgesetzt werden, um die Subsumtion unter »Fluchtgefahr« aus dem Bereich des Bauchgefühls heraus zu nehmen. Das Rückgängigmachen der 1972 erfolgten Streichung der »namentlich« bei der »Fluchtgefahr« zu berücksichtigenden «Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegen stehen« aus § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO a.F.) ist nicht ausreichend konkret.

2. Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO)

Verdunkelungsgefahr wird in Haftbefehlen deutlich seltener angenommen als Fluchtgefahr. Dennoch hat sie zumindest im Zusammenspiel mit § 119 Abs. 1 StPO praktische Relevanz. Im Rahmen der nach aktueller Gesetzeslage erforderlichen Prüfung auch von Gefahren für im Haftbefehl nicht benannte Haftgründe stützen sich viele Beschränkungen auf eine im Haftbefehl nicht ausgewiesene Verdunkelungsgefahr. § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO muss eingegrenzt werden, so dass Verdunkelungsgefahr nur bei einer durch konkrete Tatsachen begründeten Befürchtung angenommen werden kann, es werde ohne die Inhaftierung in Zukunft zu Einflussnahmen auf Beweismittel kommen. Es muss klargestellt sein, dass auf zurückliegende (tatimmanente) Handlungen zur Begründung nur dann zurückgegriffen werden kann, wenn sich konkret zukunftsorientierte Anhaltspunkte aus diesen Handlungen ergeben.

3. Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO)

Dieser Haftgrund muss gestrichen werden. Er stellt einen offensichtlichen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz|4 dar, zumal nach der Rechtsprechung letztlich auch hier mit Abschwächungen das Vorliegen eines Haftgrundes erforderlich ist.|5 Der geschaffenen Begründungserleichterung - und dieses Haftgrundes - bedarf es letztlich nicht.

Unerträglich ist insbesondere die Ausweitung des Haftgrundes auf die Versuchs-, Teilnahme- und Teilnahmeversuchsstrafbarkeit.|6

4. Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO)

Bei allein auf die subsidiäre Wiederholungsgefahr gestützter Untersuchungshaft handelt es sich um eine präventiv vollzogene Freiheitsstrafe, die die Unschuldsvermutung verletzt und den Unterschied zwischen Strafe und Maßregel verwässert. Die Durchsetzung von Strafzielen des materiellen Strafrechts setzt voraus, dass die Straftat rechtskräftig festgestellt ist. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr muss abgeschafft werden.

II. Alternativen zur Untersuchungshaft

Der Katalog der in § 116 StPO vorgesehenen Haftverschonungsauflagen sollte um die Möglichkeit des Einsatzes einer elektronischen Fußfessel erweitert werden. Die hierdurch für den Beschuldigten entstehenden Beschränkungen der Freiheit sollten als »Hausarrest« in die nach § 51 Abs. 3 StGB auf die gegebenenfalls zu vollstreckende Strafe anzurechnenden Freiheitsentziehungen mit aufgenommen werden.
Nach einer Evaluierung von Erfahrungen von Erfahrungen mit Kautionen vor allem im anglo-amerikanischen Rechtsraum sollte gesetzlich klar gestellt werden, dass die Stellung einer Kaution auch durch Dritte geeignet sein kann, die Fluchtgefahr bei höherer Straferwartung zu beseitigen.

III. Die Dauer der Untersuchungshaft

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage des Beschleunigungsgebotes sollte in § 121 StPO umgesetzt werden. Es sollten zeitliche Obergrenzen - absolut oder als Richtgrößen - eingeführt werden. Die zwingende Aufhebung des Haftbefehls sollte bei Ablauf eines Jahres zwischen Verhaftung und Anklageerhebung oder Ablauf von drei Monaten zwischen Anklageerhebung und Beginn der Hauptverhandlung erfolgen müssen. Außerdem sollte eine absolute Obergrenze für die Dauer der Untersuchungshaft bis zum Abschluss der ersten Instanz gesetzlich bestimmt werden.
Das Haftkontrollverfahren gem. §§ 121, 122 StPO sollte auch nach Beginn und während der laufenden Hauptverhandlung fortgesetzt werden - unabhängig vom Willen oder dem Engagement der Verfahrensbeteiligten der laufenden Hauptverhandlung und entgegen § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO. Eine Streichung des § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO wäre auch angesichts der veränderten Unterbrechungsmöglichkeiten des § 229 Abs. 1 StPO (3 Wochen statt 10 Tage) und der hierin bereits angelegten »Entschleunigung« des Verfahrens gerechtfertigt.

IV. Vollzug der Untersuchungshaft

Nach aktueller Rechtslage können Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO auch auf im Haftbefehl nicht genannte Haftgründe - wie insbesondere die Verdunkelungsgefahr - gestützt werden. Eine strengere Kontrolle dieser Beschränkungen, welche wiederum mit einer Gefahr für den jeweiligen Haftgrund begründet werden müssen, ist aber nur dann gewährleistet, wenn entscheidend für diese »Gefahren« wiederum nur die im Haftbefehl benannten Haftgründe sein dürfen. Soweit den obigen Anregungen zur zukünftigen Ausgestaltung der »Verdunkelungsgefahr« in § 112 Abs. 1 Nr. 3 StPO entsprochen wird, sind Weiterungen der Anwendung dieses Haftgrundes bei Erlass von Haftbefehlen nicht zu erwarten, dagegen aber eine stärkere Umsetzung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des § 119 Abs. 1 StPO. Dieser Zustand ist der Inzident-Prüfung nicht offen gelegter Haftgründe - mit wenig Prüfungstiefe - vorzuziehen.

V. Verteidigung und Untersuchungshaft

Bereits ab einer vorläufigen Festnahme, spätestens aber zum Zeitpunkt der Vorführung vor dem Haftrichter, muss dem Beschuldigten ein Verteidiger zur Seite gestellt werden, um eine effektive Verteidigung gegen die drohende Freiheitsentziehung sicher zu stellen. Eine entsprechende Änderung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist erforderlich.

Rechtsanwalt Martin Rubbert ist Vorsitzender der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V..

Anmerkungen:

1 : vgl. LR-Hilger, vor § 112, Rdn. 70, dort Fn. 214/215
2 : vgl. Nobis, »Plädoyer zur Abschaffung des Haftgrundes der Fluchtgefahr«, StraFO 2013, 318, 323.
3 : vgl. Nobis, »Plädoyer zur Abschaffung des Haftgrundes der Fluchtgefahr«, StraFO 2013, 318, 323.
4 : vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 112, Rdn. 37.
5 : vgl. KK-Graf, StPO, § 112, Rdn. 42.
6 : vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 112, Rdn. 36; dagegen: Schlothauer/Weidner, Rdn. 618.


 

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