Zahlenspiele

Die NSA-Affaire lehrt: Auch deutsche Nachrichtendienste müssen einer Revision unterzogen werden. von Martin Roddewig

 

Martin Roddewig: Zahlenspiele, in: Freispruch, Heft 4, Januar 2014

Mit Zahlen haben sie es nicht so, die deutschen Anti-Terror-Kämpfer. 322 Terroristen habe man dank der durch das digitale Informationssystem INPOL ermöglichten Rasterfahndung ermitteln können, behauptete 1979 der damalige BKA-Präsident Horst Herold während einer Anhörung des Bundestages. Es könnten aber auch nur 280 gewesen sein, schränkte er zugleich ein. So genau wisse man das nicht. Weshalb Herold aber auf die Millionen verschlingende Digitalisierung setzte, das wusste er genau. Bereits 1974 schwärmte er in einem Referat mit dem Titel »Künftige Einsatzformen der DV im Bereich der Polizei«, dass INPOL nicht nur den lästigen Föderalismus der deutschen Polizeiorganisation aushebeln könne, sondern auch eine umfassende Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens ermögliche. »Zugleich mit dem Wachsen des INPOL-Systems, das die kriminalpolizeilichen Informationsbedürfnisse voll abdeckt, werden regionale polizeiliche Informationssysteme entstehen, für die in vielen Großstädten bereits taugliche Modelle existieren. Diese Regionalsysteme kommunizieren zwar mit INPOL und den kommunalen oder regionalen Datenbanken für das Einwohner-, Kfz-Zulassungs-, Sozial-, Gesundheits- oder Bauwesen, arbeiten im übrigen aber autonom. Sie wiedervereinigen die bisher arbeitsteilig getrennten Polizeifunktionen der Verkehrsüberwachung, der Einsatzlenkung und Kriminalbereitschaften.«

Im Juli 2013 behauptete der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich, mit Hilfe des US-Spähprogrammes PRISM seien 45 Terroranschläge verhindert worden, fünf davon in Deutschland. Der Direktor der NSA, die immerhin PRISM entwickelt hat und einsetzt, General Keith Alexander, wusste nur von 42 Anschlägen. Wenig später musste auch Friedrichs Ministerium die Zahlen relativieren: Es seien wohl eher fünf »Vorfälle« gewesen. So genau wisse man das nicht. Und wenn man es wüsste, man dürfte es nicht sagen. Wir wissen: Nachrichtendienstliche Quellen wollen geschützt werden. Weshalb Friedrich die NSA verteidigt, das weiß er aber genau. Deutsche Nachrichtendienste nutzten und nutzen gerne die von befreundeten Diensten gewonnenen Informationen - ob es digitale Daten oder Erkenntnisse sind, die vermutlich aus dem US-Renditionprogramm stammen. Zuviel Kritik könnte nicht nur zu Verstimmungen zwischen den Diensten führen; es könnten auch Fragen gestellt werden nach den Ausspähungen und Datensammlungen deutscher Nachrichtendienste. Zwar sind diese nach allem, was bekannt ist, im internationalen Vergleich nicht wirklich satisfaktionsfähig. Gegen die umfassenden technischen und finanziellen Möglichkeiten der Nachrichtendienste der USA oder bspw. Chinas sind die deutschen Programme - wieder: soweit man überhaupt davon weiß - eher provinziell.

Dies wiederum bedeutet weder, dass die Arbeit deutscher Nachrichtendienste harmlos ist, noch, dass sie nicht darum bemüht wären, auf dem internationalen Datenmarkt mitzuhalten. Der BND nutzt - wie wir mittlerweile wissen - wenigstens Teile der amerikanischen Spähsoftware. Einschränkungen sind dem Dienst dabei vor allem dadurch auferlegt, dass sie die Inlandskommunikation nur dann ausspähen dürfen, wenn dies den Vorschriften des aus der Zeit der Notstandsgesetze stammenden G-10-Gesetzes entspricht. Die Kontrolle hierüber obliegt der G-10-Kommission, deren Mitglieder vom Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages berufen werden. Die G-10-Kommission besteht aus einem Vorsitzenden, drei Beisitzern und vier Stellvertretern, die über ein Fragerecht verfügen. Ihnen muss der BND Antwort geben, sofern sie überhaupt wissen, welche Fragen sie zu stellen haben. Denn dass das fast ausnahmslos aus Abgeordneten des Bundestages bestehende Gremium auch nur ansatzweise die komplexen technischen Abläufe von digitalen Überwachungsmaßnahmen versteht und daher weiß, wonach zu fragen wäre, würde man es wissen wollen, ist sehr fraglich. Ihnen steht nicht der Tross von Softwareanalytikern zur Verfügung, der notwendig wäre, um zu verstehen, was möglich ist und wonach zu fragen wäre. Einzig dem Vorsitzenden wird abverlangt, die Befähigung zum Richteramt zu haben, die wiederum bei technischen Fragen der Onlineüberwachung bekanntermaßen alleine auch nicht weiterhilft. Von richterlicher Kontrolle, geschweige denn von einem Gleichgewicht zwischen Kontrollinstanz und ausspähender Behörde kann keine Rede sein.

Dabei geht es durchaus nicht nur um staatsgefährdende Attentate oder die geplante Ausrufung eines Kalifatsstaates in Ostwestfalen-Lippe. Zu den Katalogtaten zählen auch Landfriedensbruch, Volksverhetzung (§§ 129a - 130 StGB) und Straftaten nach § 95 Abs. 1 Nr. 8 des Aufenthaltsgesetzes. Metadaten aus der Fernmeldeaufklärung des BND werden, wie der Dienst mittlerweile eingestanden hat, an die amerikanische NSA weitergeleitet - wohl auf Grundlage eines »Memorandum of Agreement« von 2002. Nur wissen wir es nicht, denn auch das ist geheim. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz arbeitet mit der NSA zusammen. Verfassungsschutz - war da was? Der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz ist in den vergangenen Jahren, angefangen beim NPD-Verbotsverfahren und vorläufig endend beim NSU-Komplex, vor allem durch eine Serie von Pleiten, Pech und Pannen aufgefallen - um es einmal nett zu formulieren. Statt diesen Dienst einer gründlichen Revision zu unterziehen, bei der auch die Frage gestellt werden müsste, ob er überhaupt benötigt wird oder ob er mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt, wird allseits eine »Effektivierung« gefordert. Wer aber die Überwachung von Parteien wie der DKP ernsthaft »effektivieren« will, der lebt weiter in der 80er Jahren. Dass der Verfassungsschutz seit 2001 auch Islamisten auf dem Schirm hat, macht die Sache nicht besser. Hier könnte (außen)politisch viel mehr erreicht werden.

Die naheliegende Konsequenz aus den Informationen, die Edward Snowden preisgegeben hat, wäre daher, die deutschen Nachrichtendienste einer Revision zu unterziehen. Kritik an der Ausspähung durch die NSA ist berechtigt, aber sie ist auch wohlfeil. Die USA wurden mehrfach auf verheerende Art und Weise angegriffen. Deutschland wurde es nicht. Oder vielleicht doch? Fünfmal? Fünf Vorfälle? Wir wissen es nicht. Und wir können nur darüber entscheiden, ob wir die wie auch immer gearteten Programme deutscher Nachrichtendienste weiter dulden und finanzieren wollen, wenn wir darüber Auskunft erhalten. Die NSA-Affäre lehrt vor allem dies: Die deutschen »Antiterrorkämpfer« müssen wirksam kontrolliert, das BND- und G-10-Gesetz reformiert werden. Was die NSA macht, steht auf einem anderen Blatt.

 

Martin Roddewig ist Redakteur beim Fernsehprogramm der Deutschen Welle und Mitglied des DAV (Deutscher Alpenverein / Sektion München und Oberland).

 

Alle Rechte am Text liegen beim Autor - Nachdruck und Weiterverbreitung nur mit Zustimmung des Autoren. www.strafverteidigervereinigungen.org