Strafverteidigertag Rechtspolitik

Kein »verkappter Linker« - aber... ?

Über den ehemaligen Generalbundesanwalt und späteren
CDU-Rechtspolitiker Max Güde

 

Vor Gericht werden nur selten Freundschaften geschlossen, mitunter aber recht seltsame. Im November 1957 muss sich Victor Agartz vor dem Dritten Strafsenat des Karlsruher Bundesgerichtshofes wegen »Landesverräterischer Konspiration« nach dem damaligen § 100d StGB verantworten. Victor Agartz: Antifaschist, einer der Achitekten des Deutschen Gewerkschaftsbunds nach dem Krieg, einer der prominentesten Politiker der SPD, 1946 Generalsekretär des Deutschen Wirtschaftsrats für die britische Zone, 1947 Leiter des Verwaltungsamts für Wirtschaft des amerikanischen und britischen Besatzungsgebietes, Marxist. Sein Verteidiger: Ein Studienfreund, Gustav Heinemann, der frühere Bundesinnenminister und spätere Bundespräsident. Der Ankläger: Max Güde, Generalbundesanwalt, von 1939 bis zu ihrem Ende Mitglied der NSDAP.

Agartz hatte für die von ihm gegründete Zeitschrift »Wiso - Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften« auch Abonnenten in Ostberlin gewonnen, unter anderem den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund. Agartz wird denunziert, einer seiner Mitarbeiter bei der Geldübergabe beobachtet und mit 21.000 DM am Grenzübergang Helmstedt verhaftet.  

Es sieht nicht gut für ihn aus, auch wenn in Agartz‘ Zeitschrift nichts Konspiratives gefunden wird: Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hält der Haftrichter Agartz nicht nur der Konspiration für dringend verdächtig, sondern auch der Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation (seinem Verlag) und der bewussten Zuwiderhandlung gegen das KPD-Verbot.

20 Jahre später, auf dem Höhepunkt der Berufsverbots-Welle, erinnert Max Güde an den Prozess: »In einem langen Gespräch waren Heinemann und ich uns einig, daß Agartz zwar verurteilt werden könnte (…). Aber wir waren uns ebenso einig, daß eine Verurteilung von Rechts wegen nicht geboten und nicht rechtspolitisch nicht erwünscht war. (…) Wenn er verurteilt worden wäre, wäre es eine Verdachtsstrafe gewesen.« Ein Geldkoffer macht noch keinen Gefährder.

Das Verfahren endet überraschend mit einem Freispruch, für Agartz aber noch lange nicht: Wenig später schließt ihn die SPD wegen parteischädigenden Verhaltens aus und folgt damit dem DGB, der Agartz sicherheitshalber schon vor dem Urteil die Leibrente gestrichen hatte. Agartz stirbt vergessen 1964.

Der freundschaftliche Kontakt zwischen Güde und Heinemann aber bricht nicht ab. 1961 wechselt Güde in die Politik und wird Bundestagsabgeordneter für die CDU. Justizminister, wie die Presse spekuliert, zwar nicht, stattdessen widmet er sich der Großen Strafrechtsreform. Mitglied im Sonderausschuss: Gustav Heinemann. Beide konzentrieren sich auf die Reform des politischen Strafrechts. Das Ziel des 8. Strafrechtsänderungsgesetzes war, so Güde, eine Konsequenz aus den politischen Prozessen der 1950er Jahre: »Der Grundsatz, daß lediglich der Ungehorsam gegen ein vorausgegangenes Verbot verfolgt werden durfte, galt damit für den ganzen Bereich politischer Parteien und Vereinigungen.« Und ein solches Verbot kann nur das Bundesverfassungsgericht aussprechen. »Damit war einem beharrlichen Anliegen der Strafjustiz Rechnung getragen, die aus der ersten Front des politischen Kampfs herausgenommen werden wollte.«

Ein Erfolg war die Reform seiner Meinung dennoch nicht. 1978 resümiert Güde leicht verbittert, das 8. Strafrechtsänderungsgesetz sei »auf eine verwirrende Weise ohne klare Wirkung geblieben«: »Sie [die Verwaltungsbürokratie] hat an der aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Vorstellung vom politischen Feind festgehalten; danach bestand die grundlegende Gefahr schon in der gedanklichen und ideologischen Gegensätzlichkeit. Aber es zeigte sich, dass der Staat des 20. Jahrhunderts sich übernahm, wenn er meinte, Gedanken, Ideen und Ideologien bekämpfen zu können, statt sich nüchtern auf die Verfolgung von schädlichen Handlungen zu beschränken.«

Dieses auf den Radikalenerlass gemünzte Fazit zieht Güde in einem Vortrag zur Gründung der Gustav-Heinemann-Initiative, deren Mitbegründer er zwei Jahre nach Heinemanns Tod wird – der einzig überraschende Name neben weniger überraschenden wie Erhard Eppler, Helmut Gollwitzer, Johannes Rau, Eberhard Jäckel und Walter Jens. In der Erklärung zur Gründung der Initiative heißt es: »Nur in einem freiheitlichen Staat kann sich gesellschaftliche Solidarität entfalten. Nur in einer solidarischen Gesellschaft wächst der Mut zur Freiheit.« Max Güde – ein verkappter Linker?

Wohl kaum. Frühe Äußerungen des 1902 in Donaueschingen geborenen Güde zeichnen das Bild eines durch und durch Konservativen. Die Grundpfeiler seiner Welt sind der Katholizismus und die 1933 untergegangene badische Republik mit ihrer durch Volksabstimmung angenommenen Verfassung, die er mehrfach als Gegenpol zum »preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat« bezeichnet.

Weshalb er 1939 in die NSDAP eintritt, darüber hat er sich nie geäußert. Der Partei selbst war er suspekt: »Güde ist politisch-konfessionell sehr gebunden. Sein Verkehr beschränkt sich auf diese Kreise. Seine weltanschauliche Haltung läßt sehr zu wünschen übrig, politisch ist er vollständig uninteressiert. Prozessionsteilnehmer«, heißt es in seinem NSDAP-Personalblatt aus diesem Jahr. Anders als viele Juristen nach 1945 hat Güde aus seiner Mitgliedschaft nie ein Geheimnis gemacht und seine Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen eingeräumt. »Unsere Vergangenheit ist nicht bewältigt«, sagt er in dem Vortrag »Justiz im Schatten von Gestern« im Jahr 1960, »weil wir ihr nicht mit Wahrhaftigkeit ins Auge gesehen haben. Ich sage unsere Vergangenheit, spreche also nicht nur von der der anderen, sondern von der meinen mit der der anderen zusammen. Ist es nicht wahrhaft erschreckend, daß wir, wir Staatsanwälte und Richter, objektiv zu einem Werkzeug des Unrechts, ja zu einem Instrument des Terrors gemacht wurden!«

Von einer Karriere im NS-Staat kann bei Güde allerdings keine Rede sein. Von 1933 bis 1945 ist er Amtsrichter in der kleinen Schwarzwaldgemeinde Wolfach, an einem Gericht mit nur einer planmäßigen Richterstelle. Die Aufgaben sind so überschaubar wie der Horizont seiner Klientel. »Wenn die Bauern sahen, daß ich in die Kirche ging, sagten sie ‚Grüß Gott‘, wenn ich ins Amt ging, sagten sie ‚Heil Hitler‘.«

Es ist wahrscheinlich diese Bedeutungslosigkeit seiner Tätigkeit, die nach dem Krieg Güdes Karriere beschleunigt. Im Denazifizierungsverfahren wird er lediglich als »Sympathisant« eingestuft. 1945 Staatsanwalt in Konstanz, 1947 Oberstaatsanwalt, 1950 Bundesanwalt am Bundesgerichtshof, 1957 Generalbundesanwalt. Und als solcher wird er schnell Intimfeind von Adenauers Law-and-Order-Mann, Innenminister Gerhard Schröder. Auf Schröders Credo „Wir können nur bestehen, wenn wir einen Grad härter sind als die anderen» antwortet Güde: »Dieses Prinzip ist mit dem Schock des Hasen vor der Schlange vergleichbar. Hier ist die Induktionswirkung zu beobachten, die totalitäre Staaten auf freie Demokratien ausüben.«

Nicht immer hat er wie im Fall von Victor Agartz Erfolg, meist – in spektakulären Verfahren wie gegen den ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Otto John, der plötzlich in der DDR verschwand und genauso plötzlich wiederkehrte, oder den unzähligen Verfahren gegen bekannte KPD-Funktionäre oder unbekannte Betreuer von kommunistischen Ferienfreizeiten – überbieten die Richter am politischen Sondersenat des Bundesgerichtshofes regelmäßig das von Güde geforderte Strafmaß um ein Vielfaches. Der Spiegel dokumentiert 1961 eine Anekdote: »In der Verhandlungspause wollte ein Richterkollege von Güde wissen, ob sich der Ankläger für die Angeklagten eigentlich so stark machen dürfe. Güde fragte zurück: ‚Warum eigentlich nicht?‘« Güde – doch ein verkappter Linker?
1977 kommen der FAZ erste Bedenken. Güde hatte in einem Artikel in der Stuttgarter Zeitung die Pläne einiger Landesregierungen, »K-Gruppen« wie KPD, KPD (ML) oder KBW zu verbieten, scharf angegriffen. Güdes Argument: Der Kommunismus sei heute keine Gefahr mehr und nur die Behauptung der Gefahr diene mittlerweile dazu, das verfassungsrechtliche Gebot auszuhebeln, dass niemand bestraft werden darf, wenn das nicht ausdrücklich durch ein Gesetz angeordnet ist. Und dieses Gesetz gäbe es nicht. Es ist die Variation von Güdes Leitmotiv: »Nur schädliche Handlungen darf der Staat abwehren und verbieten, nicht aber Meinungen und Ideologien.«

FAZ-Herausgeber Friedrich Karl Fromme missversteht Güde gründlich. Eingekeilt zwischen »Sowjetblock« und Eurokommunismus empfindet er schon die Staatsverdrossenheit in Deutschland als gefährlich: »Ob wir uns vor der kommunistischen Gefahr so sicher fühlen können, wie Güde meint, ist zu bezweifeln. Alle Parteien sprechen besorgt von dem Vertrauensschwund der Bürger«. Fromme hat aber auch eine Theorie für Güdes seltsamen »Vorgriff auf die Freiheit« parat: Sein Sohn habe ihn umgedreht. Das war immerhin gut recherchiert: Güdes Sohn Fritz wurde wegen Mitgliedschaft im KBW als Lehrer vom Dienst suspendiert.

1960 schrieb Güde: »Ich bin der Typus des Liberalen, der die politische Justiz verabscheut. Aber wir brauchen sie; ihre Funktion ist es, die Grenze zu ziehen zwischen dem, was der Staat sich noch gefallen lassen kann und dem, was er bestrafen muß.«

Martin Roddewig ist Fernsehjournalist und geht gelegentlich mit Mandy Schultz ins Fußballstadion. In Heft 8/2016 schrieb er über die Gerichtsberichte Uwe Nettelbecks.

Martin Roddewig: Kerin verkappter Linker, in: Freispruch, Heft 10, März 2017

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