Strafverteidigertag Rechtspolitik

Wahrheit für alle

Da wir nun ins »postfaktische« eingetreten sein sollen, lohnt ein Rückblick auf das faktische und präfaktische Zeitalter. Was unterscheidet sie? Ein Gastbeitrag von Stefan Ripplinger.

 

Nach der Meinung vieler leben wir in der Epoche des »Postfaktischen«. Das soll heißen, dass es auf Fakten und Wahrheit nicht mehr ankomme. Der Wahlkampf von Donald Trump scheint es bewiesen zu haben. Der Mann log das Blaue vom Himmel herunter und wurde dennoch gewählt.
Auch die europäischen Rechten spülen eine Schmutzflut von Unwahrheiten und Halbwahrheiten durch ihre Kanäle. Daran, ob das so neu ist, kann einer, der mit »Bild«-Zeitung und RTL aufgewachsen ist, allerdings seine Zweifel haben. Und da »post« soviel heißt wie »nach«, fragt sich, was davor war. Das müsste das faktische Zeitalter gewesen sein. Es wird wohl nicht erst begonnen haben, als ein Mann im Werbefernsehen ausrief: »Fakten, Fakten, Fakten!«

Das war Helmut Markwort, die Inkarnation der in ihrem Speck glänzenden Provinz. Die Fakten, Fakten, Fakten in seinem Magazin »Focus« sind vor allem Listen, Listen, Listen: die besten Reha-Kliniken, die besten Universitäten, die besten Geschenke. »So schenken Sie richtig. Die besten Tipps für sie und ihn.« Darüber, welchen Wert solche Tipps haben, lässt sich streiten, doch darüber nicht, dass das vor und nach diesen Listen im »Focus« Veröffentlichte auch nicht viel faktischer als das ist, was andere Medienkonzerne verbreiten lassen, zumindest nicht weniger tendenziös.
Der »Focus« stellte sich früher den Flüchtlingen entgegen als die liberalen Blätter, er bedient den Wutbürger besser, der sich ja nicht gegen Fakten an sich sträubt, sondern nur gegen diejenigen, die ihm nicht passen – etwa das Sinken der Kriminalitätsrate – oder diejenigen, die die Verwaltung des Landes gutheißt.

Doch die Verwaltung ist über Kritik nicht erhaben. Ihre Fakten wählt sie stets so, dass sie einen »Sachzwang« ergeben. Gemeint ist damit ein Verhau von Daten, die als einzelne gar nicht zu bezweifeln sind und in der Summe ein bestimmtes Handeln unumgänglich machen sollen. Ein Beispiel: Die Ausgaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales liegen bereits bei 41,81 Prozent des Gesamthaushalts. Die Ausgaben für Arbeitslosengeld II, vulgo Hartz IV, betragen 37 Milliarden, wie sollte da der Hartz-IV-Satz höher ausfallen dürfen als 409 Euro monatlich? »Wir wollen nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen«, sagt Wolfgang Schäuble.

Das klingt logisch, aber nur, wenn man sich einige Fragen verbeißt: Kann einer von 409 Euro leben? Wie kommt es überhaupt, dass Menschen auf dieses Arbeitslosengeld angewiesen sind? Wer ist für ihre Lage verantwortlich? Warum kann nicht mehr eingenommen werden? Usw.
Entlang dieser Fragen lassen sich gegen die Fakten, die die Verwalter ins Feld führen, andere Fakten stellen, nämlich solche, die die Lage der Verwalteten berücksichtigen. Obwohl die Wirtschaft floriert und der Staat Überschüsse in Milliardenhöhe erzielt, liegt die Armutsquote in Deutschland konstant bei 15 Prozent und ist die Armut der Alten sprunghaft gestiegen, ein immer größerer Teil der Gesellschaft wird abgehängt. Wer mit Belegen für solche Entwicklungen ankommt, ruft damit wiederum die Freunde des deutschen Unternehmertums auf den Plan, die beispielsweise feststellen, dass der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit in einer Ökonomie angibt, in Deutschland relativ gleich geblieben ist. Und so streiten sich die Faktenhuber aller Parteien vermutlich bis zum jüngsten Gericht.

Beide Seiten erkennen an, dass es die Fakten sind, die den Ausschlag geben. Was soll das sein, ein Fakt? Es ist ein Satz, der wahr ist, weil er mit einem Sachverhalt übereinstimmt oder »korrespondiert«. Daher nennt man diese Auffassung von Wahrheit »Korrespondenz«. Ihre feste Burg hat die Korrespondenztheorie im Positivismus, der Wissenschaftsabteilung des zu Wohlstand gekommenen Bürgertums. Inhaltlich bietet der Postivismus nicht viel mehr als breit geschlagene Aufklärung, er lässt nichts gelten als Fakten, Fakten, Fakten, wenn er mit ihnen auch sorgfältiger umgeht als Helmut Markwort.

Der Positivismus hat, das ist ihm zugute zu halten, kräftig ausgefegt und viel Überflüssiges aus der Diskussion beseitigt, aber auch nicht viel mehr übrig gelassen als Plattitüden und Pragmatismus. Er ist wie ein Rechner, in den Daten eingespeist werden und der Daten ausgibt. Frag ihn, wieviel der Hartz-IV-Satz unter diesen oder jenen Bedingungen im nächsten Jahr beträgt, aber frage ihn nicht, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Er kennt nicht einmal das Wort »Gesellschaft«.

Darüber, in welcher Gesellschaft sie leben wollen, dürfen, wenigstens im Prinzip, die Wahlberechtigten abstimmen. Das nennt sich bekanntlich »Demokratie« und ist ein Überbleibsel aus der frühen Phase der Aufklärung, als die Wahrheit noch nicht allein das war, was sich den Sachzwängen fügt, sondern auch das, was allgemein anerkannt und gewünscht ist. Das ist eine ganz andere Auffassung von Wahrheit, gewissermaßen eine »präfaktische«, die Philosophen sprechen von »Konsens«.
Nach der Konsenstheorie ist Wahrheit das, was für wahr zu halten eine bestimmte Gruppe übereingekommen ist. Beispielsweise herrscht breiter Konsens darüber, dass die Erde um die Sonne wackelt oder dass man Menschen nicht einfach totschlagen sollte. Gründe dafür müssen nicht unbedingt genannt werden. Anders als sich das Jürgen Habermas in den 1970er-Jahren vorstellte, sollte die Gruppe, die sich da einigt, keineswegs eine von Sachverständigen, sondern idealerweise die ganze Gesellschaft, das ganze Wahlvolk sein.

Es wäre gewiss nicht hilfreich, das Volk darüber abstimmen zu lassen, ob es irgendetwas vor dem Urknall gab oder nicht. Aber zu allen Fragen, die es selbst betreffen, sollte es doch etwas zu sagen haben. Mitunter hat eine Wahrheit einen korrespondierenden und einen konsensualen Aspekt. Den Satz »Bezieher von Hartz IV müssen früher sterben« werden die einen statistisch prüfen und dann zu den Akten heften, den andern ist seine Wahrheit Ansporn für ihren Kampf.

Die Demokratie steht noch mit einem Fuß im präfaktischen Zeitalter, als es gar nicht so sehr darauf ankam, was Sache ist, sondern was wir aus einer Sache machen wollen. Und was wir aus einer Sache machen wollen, entscheidet auch darüber, um welche Sache es geht. Gerade dieser Umstand macht Demokratie vielen zum Ärgernis, insbesondere den Politprofis, die lieber da eine Expertokratie einrichten wollen, wo Hinz und Kunz sich ungebührlich einmischen. Paradebeispiel ist Chile nach dem Putsch gegen Salvador Allende, als die neoliberalen Chicago Boys die ökonomischen Geschicke des Landes lenkten (um den Rest kümmerte sich Augusto Pinochet). Als Griechenland und Italien in die Schuldenkrise gerieten, übernahmen, auf Weisung der Spitzeneuropäer, kurzerhand Wirtschaftsleute die Macht, denn sie kennen die Fakten.

Das Zeitalter des Faktischen ist immer eines der Experten. Jenseits von ihnen gab und gibt es von jeher das unberatene Fußvolk, das Legenden mehr liebt als die verkündeten Wahrheiten. Hin und wieder wagt es den Aufstand. Ob der Aufstand gegen Louis XVI. oder gegen Hillary Clinton geht, macht einen enormen Unterschied, und nicht nur, weil Louis ein ganz gemütlicher Mann war. Doch die Protestierenden sind dieselben. Wer untersucht, welche Wähler für Trump und ähnliche Kandidaten gestimmt haben, entdeckt eine entfremdete Schicht, nicht unbedingt nur Arme, aber doch vom ökonomischen und politischen Geschehen Entfremdete. Sie schauen sich seit Jahren an, wie andere für sie Politik machen, sie haben den Eindruck, sie dürfen weder mitreden noch mitwirken. Ihre wirtschaftliche Lage spannt sich zugleich an.

Von diesen Entfremdeten besondere Klugheit zu erwarten, wäre blauäugig, auch Mitleid ist fehl am Platz. Gewiss, man hätte ihnen zurufen mögen: »Wählt Bernie Sanders, der vertritt eure Interessen am besten!« Und es ist ihnen ja auch zugerufen worden. Aber es war schon zu spät, sie hatten sich in ihre Ressentiments und Rassismen heillos verheddert und sind wohl ohnehin der Vernunft nur bedingt zugänglich. Denn es war ja gerade die Herrschaft der platt-pragmatischen Rationalität, die Expertokratie, die sie entmündigt hat. Die hohle Vernünftigkeit hat die menschliche Vernunft vertrieben.

Hält die Expertokratie lange genug an, tritt fast notwendigerweise eines Tages ein Trump auf, den übrigens Dostojewski schon vor 150 Jahren vorausgesehen hat. In seinen »Aufzeichnungen aus einem Kellerloch« malt er sich »in der allgemeinen zukünftigen Vernünftigkeit« einen »Gentleman mit unvornehmer Physiognomie« aus, der die Fakten beiseitewischt: »Wollen wir nicht dieser ganzen Vernünftigkeit ohne Weiteres einen Tritt geben, bloß damit die Logarithmen zum Teufel gehen und wir wieder nach unserm einfältigen Willen leben können?«

Stefan Ripplinger ist Mitbegründer der Wochenzeitung ‚Jungle World‘ und arbeitet als Journalist und Autor. Zuletzt erschien von ihm der Essay Vergebliche Kunst (Matthes & Seitz 2016 – 100 Seiten, 10,00 €). Der obenstehende Text erschien zuerst in ND, 4./5.2.2017.

 

Stefan Ripplinger: Wahrheit für alle, in: Freispruch, Heft 10, März 2017

Alle Rechte am Text liegen beim Autoren - Nachdruck und Weiterverbreitung nur mit Zustimmung der Autoren.