Strafverteidigertag Rechtspolitik

Das Strafvereitelungskartell

NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten. Von Ingo Müller

 

Der Schrei nach Bestrafung der Täter ist heute, 75 Jahre nach den Verbrechen Nazi-Deutschlands lauter als je zuvor. Jahrzehntelang herrschte da allerdings Schweigen.

Nachdem das Landgericht München am 12. Mai 2011 den ehemaligen ukrainischen Hilfswilligen Ivan Demjaniuk wegen Mordbeihilfe in 28.060 Fällen zu fünf Jahren verurteilt hatte (das Urteil wurde nicht rechtskräftig – Demjaniuk starb zehn Monate später), das Landgericht Lüneburg am 15. Juli 2015 den 94-jährigen ehemaligen SS-Unterscharführer Oskar Gröning zu vier Jahren verurteilt (der BGH verwarf am 28. November 2016 die Revision) und das Landgericht Detmold den ebenfalls 94-jährigen Ex-Wachmann Reinhold Hanning wegen 170.000-facher Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt hatte, kündigt die Ludwigsburger Zentrale Ermittlungsstelle weitere zwölf Verfahren gegen Hochbetagte an. Mit diesem furiosen Finale wird die Strafverfolgung gegen NS-Verbrecher beendet.

Begonnen hatte sie am 13. Januar 1941. Auf der in London tagenden »III. Interalliierten Konferenz« beschlossen Delegierte aller von Deutschland besetzten Staaten – Belgien, Frankreich, Holland, Jugoslawien, Luxemburg, Norwegen, Polen und der Tschechoslowakei –: »Zu den Hauptzielen der Alliierten gehört die Bestrafung der für diese Verbrechen Verantwortlichen«. In ihrer »Moskauer Erklärung« vom 1. November 1943 übernahmen Roosevelt, Churchill und Stalin, diese Forderung, wobei sie damals noch dazu neigten, die »Erzverbrecher« Hitler, Goebbels, Göring, Himmler, Ribbentrop und Keitel kurzerhand zu erschießen und Strafprozesse nur für die zweite Garnitur durchzuführen.

Dass es anders kam und auch die überlebenden Führungspersonen einen fairen Prozess bekamen, ist den Vereinigten Staaten zu verdanken und vor allem dem Architekten der Nürnberger Prozesse, dem Richter am Supreme Court Robert H. Jackson. Allerdings hatte man in Moskau beschlossen, nur exemplarisch einigen Hauptübeltätern gemeinsam den Prozess zu machen und die restlichen Straftäter in den Ländern verurteilen zu lassen, wo sie ihre Taten begangen hatten.

Am 18. Oktober 1945 wurde der Hauptkriegsverbrecherprozess im Plenarsaal des Berliner Kammergerichts eröffnet, wo ein Jahr zuvor der Volksgerichtshof unter seinem Präsidenten Roland Freisler gegen die Attentäter des 20. Juli 1944 verhandelt hatte. Der dann in Nürnberg fortgeführte Prozess gegen 22 Angeklagte endete am 1. Oktober 1946 mit zwölf Todesurteilen, sieben Verurteilungen zu Freiheitsstrafen und drei Freisprüchen. Da sich die mittlerweile vier Siegermächte bei dem Verfahren restlos zerstritten hatten, führten amerikanische Militärgerichte zwölf Folgeprozesse gegen einzelne Berufsgruppen (Ärzte und Juristen), Organisationen (Einsatzgruppen, Auswärtiges Amt, OKW) und Wirtschaftsunternehmen (Krupp, Flick und I.G. Farben) allein durch.

Diese Verfahren stießen in der deutschen Bevölkerung auf totales Unverständnis, in juristischen Zeitschriften wurden sie völlig totgeschwiegen und unter deutschen Juristen stießen sie auf fast einhellige Ablehnung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie dem 1933 amtsenthobenen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch und dem hessischen Justizminister Georg-August Zinn, polemisierte die Rechtswissenschaft noch lange gegen die Verfahren. Einem jungen Strafrechtler sicherte seine 1952 erschienene Habilitationsschrift mit dem Titel »Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerrecht« einen beispiellosen Aufstieg in der Strafrechtswissenschaft Nachkriegsdeutschlands. Für ihn waren die Prozesse »ein trübes Kapitel aus den dunkelsten Stunden des deutschen Volkes« und er fand es »unerträglich, wenn genau gleich liegende Sachverhalte mit zweierlei Maß gemessen werden«, worin die Behauptung liegt, die Alliierten hätten nicht weniger Verbrechen begangen als Nazi-Deutschland. Oradour und Lidice waren »rechtmäßige Repressalien« und »im übrigen ist es (allein) Sache des Staates, dem der Beschuldigte angehört, darüber zu entscheiden, ob gegen ihn ein Strafverfahren durchgeführt werden soll«. Der junge Habilitand kommt zu dem »vernichtenden Urteil«, dass die Prozesse allein dazu geführt wurden, die »gegen Deutschland geführte Politik durch ein Gerichtsverfahren zu rechtfertigen«. Es war der spätere langjährige Direktor des renommierten Freiburger Max Planck-Instituts, Hans-Heinrich Jescheck.

Solche Auffassungen entsprachen dem Zeitgeist. Die politischen Parteien überboten sich im Kampf für Kriegs- und andere Nazi-Verbrecher, weil sie – wohl nicht zu Unrecht – annahmen, das Ansprechen der Untaten sei unpopulär und koste Wählerstimmen. In entsprechenden Bundestagsdebatten führte der CDU-Abgeordnete Eduard Wahl, Verteidiger im IG-Farben-Prozess vor dem Nürnberger Militärtribunal und Zivilrechtsprofessor in Heidelberg, das Wort. Auch die Sozialdemokraten wollten nicht abseits stehen. Ihr Fraktionssprecher für Kriegsgefangenen- und Heimkehrerfragen, der Pfarrer Hans Merten, forderte 1952 im Bundestag: »Wir müssen Schluss machen mit jeder Diskriminierung von Deutschen ..., Schluss mit der Rechtspraxis, deren Grundlagen von dem Willen zur Rache und zur Vergeltung diktiert worden sind«. Als er dies zur »Herzensangelegenheit des ganzen deutschen Volkes« erklärte, schloss er erneut hunderttausende überlebende Opfer von diesem aus.

Eine vom Länderrat, dem Vorläufer des Bundesrats, errichtete und von der Bundesregierung übernommene »Zentrale Rechtsschutzstelle« unter Leitung des zum hohen Beamten ernannten Verteidigers in fünf Nürnberger Prozessen, Hans Gawlik, hatte die Aufgabe, Entlastungsmaterial für die von den Alliierten Verurteilten zu sammeln und Eingaben und Begnadigungsanträge zu deren Gunsten zu koordinieren. Die Bemühungen der Bundesregierung blieben nicht erfolglos. »Geradezu in einem Gnadenfieber«, wie Robert M. W. Kempner, einer der Ankläger von Nürnberg, anmerkte, wurden die Strafen erlassen. 1953 befanden sich die meisten Verurteilten schon wieder auf freiem Fuß, der letzte wurde 1958 entlassen. Allein Albert Speer und Baldur von Schirach blieben bis 1966 und Rudolf Hess bis zu seinem Tod 1987 inhaftiert. Da die deutschen Behörden die Verurteilungen der Alliierten nicht anerkannten, wurden sie nicht ins Strafregister eingetragen. Die Verurteilten galten als nicht vorbestraft und bekamen ihre Beamtengehälter oder -pensionen weiterhin, für die Haftzeit wurden sie ihnen nachgezahlt. Der im Nürnberger Juristenprozess zu lebenslangem Zuchthaus verurteilte Staatssekretär Franz Schlegelberger wurde 1950 aus Gesundheitsgründen vorläufig, 1951 endgültig entlassen und bekam 280.000 DM Pensionsnachzahlung, zu einer Zeit, als das Durchschnittsgehalt eines Arbeiters 200 Mark betrug.

Ganz im Gegensatz dazu blieben die Folgen der Volksgerichtshofsurteile bestehen. Die Witwen der hingerichteten Attentäter bekamen weder Pensionen noch Renten, Kriegsopferentschädigungen oder Lastenausgleich. Die Vermögensbeschlagnahmen blieben in Kraft. An der Rechtmäßigkeit von Volksgerichtshofsentscheidungen bestand damals nicht der geringste Zweifel.

Bereits erste Versuche, nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft Täter und Opfer namhaft zu machen, waren in Deutschland auf erbitterten Widerstand gestoßen. Nachdem die Amerikaner gegen Ende des Krieges umfangreiche Fotodokumentationen über die Konzentrationslager erstellt hatten, richtete der Münchner Kardinal Faulhaber schon am 2. Mai 1945 einen Rundbrief an den bayerischen Diözesanklerus, in dem zwar zugestanden wurde, dass es in Buchenwald und Dachau Unmenschlichkeiten gegeben habe, hätte man freilich die furchtbaren Leiden gefilmt, »die durch Fliegerangriffe über unsere Städte kamen«, so wäre das Ergebnis nicht weniger schrecklich, »als die Bilder, die jetzt in den Konzentrationslagern aufgenommen werden.«

Selbst ausgesprochene Haupttäter leugneten ihren Anteil an dem Unrecht. Ernst Kaltenbrunner, als Chef des Reichssicherheitshauptamts Nachfolger von Reinhard Heydrich, gestand zwar zu, dass im Dritten Reich Verbrechen begangen worden waren, behauptete jedoch steif und fest: »Ich hatte keinen Anteil an ihnen«. Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz von 1942-45 behauptete gar, von NS-Untaten überhaupt nichts gewusst zu haben. Mit ihnen konfrontiert, zeigte er sich in seiner »innersten Seele erschüttert«. Der im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zum Tode Verurteilte blieb dabei: »Ich sterbe unschuldig«. Auch Führer von Einsatzkommandos, die den Massenmord planmäßig organisiert hatten, behaupteten, lediglich »ihre Pflicht getan« zu haben. Werner Braune, im »Einsatzgruppenprozess« zum Tode Verurteilter und einer der wenigen, die später nicht begnadigt wurden, äußerte: »Gehorsam und Treue ... haben mich unter den Galgen gebracht ... Mein Kampf ging um Wahrheit und Recht«.

Vor allem das Euthanasiepersonal, dem auch die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz besonderes Verständnis entgegenbrachte, war ganz verfolgte Unschuld. Schwester Pauline Kneißler, die fünf Jahre lang in Grafeneck und Hadamar Tausende Behinderte »abgespritzt« hatte, schrieb 1947 – sie war zu vier Jahren Haft verurteilt worden–: »Mein Leben war Hingabe und Aufopferung, ... nie war ich hart zu Menschen... Dafür muss ich heute leiden und leiden.« Und Dr. Adolf Wahlmann – im Hadamar-Prozess am 21. März 1947 zum Tode verurteilt, berichtete in seiner Verteidigungsrede: »Wenn ich nach Weilmünster kam, im Jahr 1940, da wurde ich als Jesus Christus der Anstalt bezeichnet, weil ich durch mein liebevolles Wesen eben den Eindruck hervorgerufen habe.«

In der Regel folgten die Gerichte dieser Selbsteinschätzung der Beschuldigten. Als das Landgericht Köln im Juli 1954 gegen zwei frühere Gestapo-Leiter der Stadt (Sprinz und Schäfer) sowie gegen den Judenreferenten der Dienststelle (Matschke) verhandelte, nahm es ihnen ab, sie hätten bei dem Zusammentreiben der 11.500 Kölner Juden und bei deren Deportation in 14 Transporten nicht gewusst, welches Schicksal ihnen drohte, denn »Planung und Befehl wurden unter Decknamen und Tarnbezeichnungen an die nachgeordneten Dienststellen weitergegeben«. Sogar die Gestapo-Chefs hätten »damals angenommen, dass die Juden in ein Zwangsreservat gebracht würden, ähnlich dem der Indianer in den USA.« Zwar hatten sogar Sekretärinnen der Polizei als Zeuginnen bekundet, schon im Sommer 1942 hätten urlaubende Soldaten von Massenerschießungen erzählt und jeder habe gewusst, »dass die Juden in den Tod gingen.« Dieses »private« Wissen war in den Augen des Gerichts jedoch unmaßgeblich. Rechtlich zähle allein, »dass die Angeklagten dienstlich nicht über das Schicksal der Juden informiert waren.« Gestapo-Chef Sprinz, »ein korrekter und sauberer Beamter«, bekam wegen 8.500-facher »Freiheitsberaubung im Amt« drei Jahre Gefängnis, sein Vorgänger Schäfer – bei ihm waren es »nur« 3.000 Personen – entsprechend nur ein Jahr. Dem Judenreferenten Matschke, einem fanatischen Nazi, hielt das Gericht zugute, dass er »ehrlich an den damaligen Staat geglaubt … [habe und] für ihn beim Zusammenbruch eine Welt zusammengestürzt« sei. Ergebnis: zwei Jahre Haft.

Wegen der »Entjudung« des Gaues Franken und der Verfrachtung von 4.754 Menschen in Viehwaggons, wofür die Gestapo sinnigerweise den »Fäkalienversandbahnhof« von Schweinau ausgesucht hatte, verhandelte das Landgericht Nürnberg Anfang der fünfziger Jahre (das Verfahren dauerte insgesamt von 1949 bis 1953) gegen sieben Gestapo-Führer. Hauptangeklagter war der Nürnberger Gestapo-Chef Dr. Martin. Obwohl die Angeklagten, denen das weitere Schicksal der Deportationen natürlich auch unbekannt war, behauptet hatten, ihre Aktion sei rechtmäßig gewesen, der spätere Präsident Israels, Chaijim Weizmann, habe ja Hitler im Auftrag aller Juden den Krieg erklärt, ging das Gericht davon aus, dass die Angeklagten unter Zwang gehandelt hätten. Ihre Handlungsweise, dass sie nämlich »Juden und politisch Verfolgten gegenüber immer anständig und menschlich auftraten«, beweise, dass sie ihre Aufgabe »nicht frohen Herzens erfüllten«. Den Angeklagten wurde ja zugute gehalten, dass ihnen nicht bewusst war, dass sie bei der Ausrottung ihrer Opfer halfen und da sie wussten, wie sehr »die Juden in Deutschland dauernden Schikanen ausgesetzt waren,... konnten die Angeklagten sich sagen, dass die Juden in den neuen Siedlungsgebieten im Osten mindestens kein schlimmeres Los erwarten könne.« Eine Überlegung, die an Zynismus kaum zu übertreffen ist, wenn man bedenkt, dass die Repressionen gegen Juden im Reichsgebiet gerade von der Gestapo ausgingen. Insbesondere Gestapo-Chef Dr. Martin sorgte nach Auffassung des Nürnberger Landgerichts »mit der Autorität seiner Stellung dafür, dass bei der Evakuierung die Juden in charakter- und menschenwürdiger Weise behandelt« wurden, er sei »im Interesse der Juden« tätig geworden und brauchte daher nicht das geringste Unrechtsbewusstsein zu haben, da »das Bestreben zu helfen und zu mildern nicht als Unrecht angesehen werden kann.« Konsequenterweise wurden alle freigesprochen.
Nach Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949, nachdem man die auf der Potsdamer Konferenz beschlossene Entnazifizierung mehr abgebrochen als beendet hatte, herrschte allgemein die Auffassung, die Nazi-Untaten seien genug gesühnt. Anfang der fünfziger Jahre stellte man deren Verfolgung praktisch ein; 1950 gab es noch 908 Verurteilungen, 1955 nur noch 21. Man kann in den Gründungsjahren eine allgemeine Schlussstrichmentalität beobachten. Von dieser waren alle drei Staatsgewalten erfasst – und sie arbeiteten perfekt zusammen.

Bereits in der Gesetzgebung fand das Bemühen, möglichst viele Nazi-Verbrecher ungeschoren davonkommen zu lassen, seinen Niederschlag, sogar schon im Grundgesetz. Obwohl, wahrscheinlich sogar weil die schon erwähnte Moskauer Erklärung vorsah, dass die Kriegsverbrecher an die Staaten auszuliefern seien, in denen sie ihre Strafen begangen hatten, übernahm der parlamentarische Rat aus Art. 112 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung die Regelung, dass kein deutscher Staatsbürger ans Ausland zur Bestrafung ausgeliefert werden dürfe, aber im Gegensatz zu Weimar wurden die Verbrechen des Krieges nicht von der Regelung ausgenommen.

Zusammen mit dem »Generalvertrag« zwischen der Bundesrepublik und den drei westlichen Besatzungsmächten, mit dem der Bundesrepublik die Souveränitätsrechte zurückgegeben werden sollten, trat der Überleitungsvertrag, mit vollem Titel »Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen« vom 26. Mai 1952 in Kraft. Dieser verbot an unscheinbarer Stelle deutschen Gerichten, Straftaten zu verfolgen, deren »Untersuchungen … von den Strafverfolgungsbehörden der betreffenden Macht … endgültig abgeschlossen« worden waren.

Damit wollten die Siegermächte offensichtlich verhindern, dass deutsche Gerichte ihre Verurteilungen aufhoben. Die Klausel hatte aber die absurde Folge, dass sämtliche Naziverbrecher, die von den Alliierten zum Teil nur milde bestraft oder gar auf freien Fuß gesetzt worden waren, weil damals das Beweismaterial nicht reichte, endgültig frei kamen. Die Regelung betraf nämlich nach der extremen Auslegung des Bundesgerichtshofs in seiner Grundsatzentscheidung zum Fall Georg Hempen auch diejenigen 1.314 Straftäter, die französische Militärgerichte in Abwesenheit wegen der Ermordung von 80.000 französischen Juden und der Erschießung von 29.000 Geiseln und anderen Zielpersonen verurteilt hatten. Diesen Tätern bot der Überleitungsvertrag dreifachen Vorteil:
Die Abwesenheitsurteile waren in der Bundesrepublik nicht vollstreckbar, das Grundgesetz (Artikel 16 Abs. 2) verbot die Auslieferung von Deutschen ans Ausland und der Vertrag schloss eine Bestrafung in Deutschland aus. Natürlich fühlte sich Frankreich düpiert und drängte auf den Abschluss eines Zusatzabkommens, das wenigstens die in Abwesenheit Verurteilten von dem Strafverfolgungsverbot ausnahm. Dieses Zusatzabkommen wurde über zehn Jahre in den verschiedenen Ministerien hin und her geschoben, bis es dann am 2. Februar 1971 zwischen der französischen und der bundesdeutschen Regierung geschlossen wurde. Seine Ratifizierung im Parlament wurde aber wieder Jahr um Jahr verschleppt. Als der Bundestag das Zusatzabkommen 1975 endlich ratifiziert hatte, stimmte der Bundesrat ihm aber nur zu, soweit es »Mordhandlungen betrifft«. Bei allen anderen Straftaten, wie etwa Todschlagsdelikten, blieb es endgültig bei der Unverfolgbarkeit, obwohl hier ein gesetzliches Hindernis der Strafverfolgung entgegen standen hatte, die Verjährung, also nach § 69 StGB (heute § 78 b) geruht hatte.

Als wirksamstes Mittel, die Verfolgung von NS-Verbrechen zu verhindern, erwiesen sich die Verjährungsvorschriften. Traditionell verjährten in Deutschland Straftaten, auf die Todesstrafe oder lebenslanges Zuchthaus stand, in 20 Jahren. 1943 war diese Vorschrift praktisch aufgehoben worden, die Staatsanwaltschaft konnte auch nach Ablauf der Frist die Strafverfolgung einleiten, wenn Todesstrafe oder lebenslanges Zuchthaus zu erwarten war. Mit dem Dritten Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 strich der Bundestag jedoch diese Vorschrift und führte die Verjährung auch für Mordtaten ausdrücklich wieder ein.

Da die Besatzungsmächte der deutschen Justiz verboten hatten, Nazi-Verbrechen zu ahnden, die außerhalb Deutschlands begangen worden waren, hatte deren Verjährung geruht. Das Strafgesetzbuch sieht das vor, solange ein gesetzliches Hindernis der Verfolgung entgegensteht. Nachdem die Bundesrepublik mit dem Deutschland-Vertrag ihre volle Souveränität bekommen hatte und die Verbrechen ohne Einschränkung hätten verfolgt werden können, beschloss der Bundestag in einem Ersten Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts, dass alle von den Besatzungsmächten gehemmten Verjährungsfristen zum 31. Dezember 1956 abgelaufen seien. Damit waren sämtliche Straftaten aus dem Dritten Reich außer Mord und Totschlag verjährt, bevor sie verfolgt werden konnten. Am 8. Mai 1960 ließ der Bundestag sogar noch sang- und klanglos den Totschlag verjähren.

Erst als Mitte der sechziger Jahre sogar die Verjährung der Mordtaten des Dritten Reichs bevorstand und damit die Möglichkeit für Mengele, Barbie, Gestapo-Müller und andere in Lateinamerika Untergetauchte zurückzukehren, sich ihrer Taten zu brüsten und Anhänger um sich zu scharen – die deutsche Öffentlichkeit war inzwischen durch den Jerusalemer Eichmann-Prozess (1960) und den Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963/65) aufgerüttelt – beschloss der Bundestag gegen den erbitterten Widerstand des Bundesjustizministeriums, dass die Berechnung der Verjährungsfristen erst 1950 beginnen solle, weil ja bis dahin deutsche Gerichte die Mehrzahl der NS-Straftaten nicht hatten aburteilen dürfen und die Verjährung geruht hatte. Justizminister Ewald Bucher (FDP), ehemaliger SA-Mann und NSDAP-Mitglied, trat aus Protest zurück.

1969 hatte die Situation sich kaum geändert, daher beschloss man nun, die Mord-Verjährungszeit auf 30 Jahre zu verlängern, also bis 1979. Erst als auch dieses Datum näher rückte, wurde der Mord für unverjährbar erklärt.

Wenn es in den fünfziger und sechziger Jahren doch zu einzelnen Verfahren kam, dann hat die Justiz mit Rechtskonstruktionen dafür gesorgt, dass die Täter glimpflich davonkamen. Eine davon war, fast alle Täter zu Gehilfen herabzustufen. Das Landgericht Hannover verurteilte zum Beispiel einen NS-Täter, der etliche Morde eigenhändig begangen hatte, als »Mordgehilfen«, als bloßen Helfer des eigentlichen Täters. Seinen Vorgesetzten, der ihm die entsprechenden Befehle gegeben hatte, verurteilte das Gericht als »Anstifter«. Da es zwischen diesen beiden keinen weiteren Akteur gab, blieben die Morde Taten ohne Täter. In der Folgezeit bürgerte sich ein, entsprechend dem nationalsozialistischen Führerprinzip nur die führenden und sämtlich bereits toten Naziführer als Täter zu bezeichnen und alle anderen als Gehilfen. Das Schwurgericht Ulm beschreibt im August 1958 in seinem Urteil zum Einsatzgruppenprozess zum Beispiel die brutale Ermordung von 4.000 Menschen im litauischen Grenzgebiet durch SS-Einsatzgruppen, um dann festzustellen: »Die Urheber für die Maßnahmen ... sind nach den tatsächlichen Feststellungen des Schwurgerichts Hitler, Himmler, Heydrich.« Die Angeklagten wurden sämtlich als Gehilfen zu niedrigen Zuchthausstrafen verurteilt.

Sogar Täter, die aus freiem Antrieb, ohne Auftrag oder Befehl gemordet hatten, stuften die Gerichte als bloße »Gehilfen« ein. Ein abschreckendes Beispiel dafür bietet das Urteil des Landgerichts Gießen vom 3. Dezember 1963 gegen Theodor Pillich, ehemals Angehöriger einer Pioniereinheit, die an der Massentötung nicht beteiligt war. Als er einen Tag Urlaub hatte, bat er darum, »diesen Urlaub nützlich verbringen« und bei Massenerschießungen mitmachen zu dürfen. Das Gießener Urteil schildert in grauenhaften Details, wie Pillich zum Beispiel zwei Kleinkinder, die sich an den Beinen ihres Vaters festklammerten, erst von diesem losschoss, um dann den Vater zur Hinrichtung zu führen, dass er Polizeibeamte, die sich bei dem Massaker abseits hielten, antrieb und sie an ihre »Pflichten« erinnerte. Er hatte seinen Fotoapparat mitgebracht, knipste eifrig und ließ sich mit »Trophäen« in der Art eines Großwildjägers ablichten. Die Fotos zeigte er nach der Aktion stolz im Casino herum, und sie wurden ihm zum Verhängnis, als man sie später bei einer Hausdurchsuchung fand, in einem Album mit dem Titel »Die schönsten Tage meines Lebens«. Das Gericht verurteilte auch ihn nur wegen Beihilfe zum Mord, weil er angeblich »ohne eigenen Tötungsvorsatz« gehandelt hatte. Da man ihm immerhin 162 Fälle nachweisen konnte, wurde die im Gesetz vorgesehene Mindeststrafe von drei Jahren erhöht: um ganze drei Monate.

Entsprach die Bewertung des objektiven Tatbestands schon dem nationalsozialistischen Führerprinzip, so werteten die Gerichte, vor allem bei der Beurteilung der Taten von Ärzten und Juristen, den beiden akademischen Berufen mit dem höchsten Organisationsgrad in der NSDAP, deren Angehörige im Dritten Reich die Lizenz zum Töten bekamen, Nazi-Gesinnung als Schuldausschließungsgrund. Fanatischer Nationalsozialismus, in den fünf Nachkriegsjahren noch für besonders verabscheuungswürdig erachtet, galt bald nachdem die Alliierten sich aus der Vormundsrolle zurückgezogen hatten, drei Jahrzehnte lang als Vorsatz- oder Schuldausschließungsgrund.

So sprach das Landgericht Kassel am 28. März 1952 Edmund Kessler und Fritz Hassenkamp frei, zwei Richter des Sondergerichts Kassel, das am 20. April 1943 einen ungarischen Ingenieur wegen sogenannter Rassenschande mit einer abenteuerlichen Rechtskonstruktion zu der im Gesetz gar nicht vorgesehenen Todesstrafe verurteilt hatten. Das Landgericht verneinte den Rechtsbeugungsvorsatz, da die beiden »überzeugte, ja fanatische Nationalsozialisten waren« und daher »die Möglichkeit der Rechtsblindheit, basierend auf politischer Verblendung… nicht auszuschließen« war.

Den »Euthanasie«-Ärzten Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke und Klaus Endruweit wurden über 10.000 Morde in den Tötungsanstalten Bernburg, Sonnenstein und Brandenburg zur Last gelegt. Aber als überzeugte Nazis waren sie »davon ausgegangen, dass sie nur bei der Tötung von Geisteskranken mitwirkten,… deren Tötung erlaubt war. Da hiermit die Schuld entfällt, waren die Angeklagten freizusprechen.«

Das Landgericht Frankfurt am Main sprach noch am 6. Juni 1972 den »Euthanasie«-Arzt Dr. Kurt Borm frei, da er zwar »objektiv Beihilfe zur Tötung von mindestens 6.652 Geisteskranken geleistet,… (jedoch) nicht nachweisbar schuldhaft gehandelt« hatte, da ihm als fanatischem Nationalsozialisten »unwiderlegbar das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit« gefehlt hatte. Dafür sprach nach Meinung des Gerichts auch, dass er »aus einem Beamtenhaushalt stammte, in dem erfahrungsgemäß eine staatstreue Gesinnung geherrscht« habe.

Dieses »Nazi-Privileg« genossen freilich nur die beiden genannten Akademiker-Berufe.
In großer Zahl waren nach dem Krieg Denunzianten verurteilt worden, meist einfache Leute, denen aber allen, nach ständiger Rechtsprechung, der Unrechtscharakter des Volksgerichtshofs hätte klar sein müssen, denn dass die Justiz damals »mit politischen Gegnern… unbarmherzig verfuhr, (war) im Volke hinreichend bekannt«.| Als jedoch der ehemalige Abteilungsleiter im Propagandaministerium, Dr. jur. Hans Theodor Froehlich angeklagt war, der einen befreundeten Kaufmann wegen defätistischer Äußerungen angezeigt hatte, woraufhin dieser zum Tode verurteilt wurde, sprach das Landgericht Hamburg ihn am 8. Mai 1964 frei, mit der verblüffenden Begründung, »dass der Angeklagte als Jurist und überzeugter Nationalsozialist (durchaus)… der Ansicht gewesen sein kann, ein Gericht des Dritten Reichs setze kein Unrecht und begehe weder Rechtsbeugung noch Totschlag.«|

Das tollste Stück spielte sich jedoch 1968 ab. Rechtzeitig bevor die zweite große Diskussion um die Verjährung von Nazi-Verbrechen begann – sie war vorauszusehen, denn ohne abermalige Gesetzesänderung, wären nach dem 31. Dezember 1969 sämtliche Morde des Dritten Reichs ungesühnt geblieben –, führte ein »Irrtum« des Gesetzgebers zur vorzeitigen Verjährung fast all dieser Morde. Als das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz (EGOWiG) am 1. Oktober 1968 in Kraft trat, enthielt dessen Artikel 6 Nr. 1 eine Tretmine. Mit dem unscheinbaren Gesetz, das der Bundestag ohne Debatte einstimmig verabschiedete, wurde ein neuer § 50 Abs. 2 ins Strafgesetzbuch eingefügt: »Fehlen besondere Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale), welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer, so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern«. Bis zu diesem Gesetz war nach § 49 Abs. 2 StGB die Strafe des Tatgehilfen »nach demjenigen Gesetz festzusetzen, welches auf die Handlung Anwendung findet, zu welcher er wissentlich Hilfe geleistet hat«. Die Strafe konnte ermäßigt werden, musste aber nicht, sie blieb prinzipiell dieselbe wie für die Haupttat – bei Mord lebenslänglich –, daher verjährte die Tat nach damals geltendem Recht in zwanzig Jahren. Das Neue am § 50 Abs. 2 StGB bestand darin, dass die Strafe eines Mordgehilfen, dem persönlich keine niederen Motive nachzuweisen waren, nun gemildert werden musste, von lebenslanger auf höchstens 15jährige Freiheitsstrafe. Da man aber Taten mit einer Höchststrafe von 15 Jahren am 8. Mai 1960 hatte verjähren lassen, waren die Verbrechen sämtlicher Nazi-Mordgehilfen – und Gehilfen waren ja nach ständiger Rechtsprechung außer Hitler, Himmler und Heydrich nahezu alle – auf einen Schlag rückwirkend seit dem 8. Mai 1960 verjährt.

Die Konsequenzen dieser gesetzgeberischen Fehlleistung wurden am 20. Mai 1969 offenbar, als der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs im ersten Verfahren einer groß angelegten Prozessserie um das Reichssicherheitshauptamt in einem Grundsatzurteil entschied, dass durch die neue Vorschrift die ungeheuren Verbrechen, die dort ausgeheckt worden waren, verjährt seien.

Der Senat kassierte eine Entscheidung des Kieler Landgerichts vom März 1968, das einen Beamten des Judenreferats beim Polizeikommandeur von Krakau verurteilt hatte, mit folgender Begründung: »wie das Schwurgericht feststellt., wusste der Angeklagte, dass die Opfer allein aus Rassenhass umgebracht wurden. Er hatte jedoch selbst nicht diesen niederen Beweggrund, sondern gehorchte... nur den Befehlen, obwohl er sie als verbrecherisch erkannt hatte. Solche Beihilfe zum Mord ist nach der neuen Fassung des § 50 Abs. 2 StGB... verjährt.«

Mit diesem Urteil platzte die größte in der Bundesrepublik geplante Prozessserie, die gegen die Beamten des Reichssicherheitshauptamts, der Mordzentrale des Dritten Reichs. Elf Staatsanwälte und 23 Polizeibeamte hatten in Berlin 150.000 Ordner ausgewertet und das Material zu drei Hauptkomplexen sortiert. 2.700 Zeugen waren namhaft gemacht und 18 Verfahren gegen 300 Beschuldigte bis zur Anklagereife vorbereitet worden. Mit dem erwähnten Einstellungsbeschluss setzte der Bundesgerichtshof ein Zeichen; bald darauf stellte auch das Landgericht Berlin ein Verfahren gegen sieben leitende Beamte des Reichssicherheitshauptamtes ein. Wer als Mörder mit »eigenem Täterwillen« noch in Frage kam, zum Beispiel Dr. Werner Best, Organisator der SS-Einsatzgruppen für Polen, Otto Bovensiepen, als Chef der größten Gestapo-Leitstelle in Berlin verantwortlich für die Deportation der 35.000 Berliner Juden oder Bruno Streckenbach, Amtschef im Reichssicherheitshauptamt und Einsatzgruppenleiter für ganz Russland, brachte Atteste bei, die ihm Verhandlungsunfähigkeit bescheinigten. Dabei bedurfte es zur Verfahrenseinstellung gar keiner Verhandlungsunfähigkeit, es genügte, dass diese vielleicht einträte. So stellte das Oberlandesgericht Hamm das Verfahren gegen den SS-Obersturmbannführer Helmut Bischoff, der sich immer sehr erregte, wenn jemand seine Taten »Morde« nannte, vorsorglich ein, da ihm »bei Fortsetzung der Hauptverhandlung der Vorwurf, sich des Mordes schuldig gemacht zu haben, in einer Form wird gemacht werden müssen«, die möglicherweise »eine exzessive Blutdrucksteigerung erwarten lässt«.

Wie kam es zu all diesen Ergebnissen, zu dem perfekten Zusammenspiel von Gesetzgebung, Administration und Justiz? Es lohnt sich, gerade zum Frankreich-Komplex die Akteure und Drahtzieher im Hintergrund anzusehen. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um ein regelrechtes Netzwerk in Verwaltung und Parlament zu konstatieren. Hier arbeiteten zwei Zirkel Hand in Hand, die von Anfang an auf eine Generalamnestie für Nazi-Verbrechen drängten: Die Nürnberger Verteidiger und die ehemals im besetzten Frankreich Tätigen, die selbst an den Verbrechen beteiligt waren.

Die rührigsten Verteidiger der dreizehn Nürnberger Verfahren hatten sich im »Heidelberger Kreis« organisiert: Rudolf Aschenauer, Otto Kranzbühler, Hans Laternser, Helmut Becker sowie fünf weitere Nürnberger, unter ihnen Hans Gawlik, der in nicht weniger als fünf Nürnberger Verfahren verteidigt hatte. Gawlik war mittlerweile Chef der bereits erwähnten, schon vor Gründung der Bundesrepublik eingerichteten Zentralen Rechtsschutzstelle, die 1950 dem Bundesjustizministerium und 1953 – auch im Hinblick auf die Strafprozesse in Frankreich – dem Auswärtigen Amt angegliedert wurde. Aufgabe der mit 17 Planstellen ausgestatteten Dienststelle war, die Verteidigung aller im Ausland angeklagten NS-Täter zu organisieren und zu bezahlen. Im Vorfeld des Jerusalemer Eichmann-Prozesses führte dies zu Irritationen. Das Auswärtige Amt ging selbstverständlich davon aus, dass Eichmanns Verteidiger Robert Servatius – Gawliks Kollege im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (Fritz Sauckel), im Ärzteprozess (Karl Brandt), Wilhelmstraßen- und Pohl-Prozess – von der Bundesregierung bezahlt würde. Im Kanzleramt fürchtete man eine schlechte ausländische Presse und legte ein Veto gegen die Bezahlung ein. Schließlich half der Staat Israel den Deutschen aus der Verlegenheit und bezahlte selbst Eichmanns Verteidigung.

Zum Heidelberger Kreis zählte auch Rudolf Aschenauer, Nürnberger Verteidiger Otto Ohlendorfs im Einsatzgruppenprozess, Gründer und langjähriger Vorsitzender der »Stillen Hilfe«, einer Organisation alter Kameraden, die vor allem Fluchthilfe für gesuchte Nazi-Verbrecher organisierte. Nicht dazu zählte Rechtsanwalt Ernst Achenbach, der jedoch Mittelpunkt eines zweiten Zirkels zur Strafvereitelung war. Achenbach, Verteidiger im IG-Farben-Prozess und im Wilhelmstraßen-Prozess, war selbst von 1939 bis 1943 als Leiter der politischen Abteilung der deutschen Botschaft in Paris mit »Judenangelegenheiten« befasst. Er war von 1957 – 1976 FDP-Bundestagsabgeordneter und Berichterstatter des Auswärtigen Ausschusses für das Zusatzabkommen mit Frankreich, welches er dort über vier Jahre verschleppen konnte. Im Hauptberuf betrieb Achenbach in Essen eine Anwaltspraxis, die sich zum Zentrum der Bestrebungen für eine Generalamnestie für Nazi-Täter entwickelte. In der Praxis Achenbach arbeitete für einige Jahre Dr. Werner Best, SS-Obergruppenführer, Chef des Hauptamtes I des von ihm selbst aufgebauten Reichssicherheitshauptamts, 1940 bis 1942 Chef der gesamten Verwaltung im besetzten Frankreich – daher kannte er Achenbach. Ab 1942 war Best Reichsbevollmächtigter im besetzten Dänemark, wo er eng mit dem obersten Wehrmachtsrichter dort, Ernst Kanter, zusammenarbeitete, inzwischen als Ministerialdirigent im Justizministerium unter anderem mit der Überprüfung der Auslandsvorwürfe gegen deutsche Richter befasst. Als Kanter zum Präsidenten des Politischen Strafsenats des Bundesgerichtshof aufrückte, wurde sein Nachfolger im Justizministerium Eduard Dreher, früher Ankläger beim Sondergericht Innsbruck, jetzt einflussreicher Strafrechtstheoretiker, Verfasser des meistbenutzten Kommentars zum Strafgesetzbuchs sowie zahlreicher Strafgesetze, auch des erwähnten § 50 Abs. 2, der, »irrtümlich« ins Gesetz geraten, einer Generalamnestie gleichkam.

Was Achenbach auf der parlamentarischen Ebene betrieb, tat Hans Gawlik auf der exekutiven. Im Justizministerium arbeitete er mit seinem Nürnberger Verteidigerkollegen, dem Verfasser des Standardwerks zum Gnadenrecht Johann Georg Schätzler, zusammen und mit Kanter sowie dessen Mitarbeiter und Nachfolger Ministerialdirigent Dreher. Im Auswärtigen Amt war Gawlik dem Leiter der Rechtsabteilung, Rudolf Thierfelder, unterstellt, der während der französischen Besetzung als Mitarbeiter der Gruppe Justiz der Militärverwaltung ebenso an Geiselerschießungen beteiligt war, wie der Erste Staatsanwalt beim Militärbefehlshaber Walter Bargatzky, mittlerweile Ministerialdirektor im Bundesministerium des Inneren und kurzzeitig sogar Staatssekretär im Gesundheitsministerium.

Bargatzky war stets für entlastende Expertisen gut und arbeitete als Vizepräsident des Roten Kreuzes eng mit Gawlik zusammen. Wenn die Zentrale Rechtsschutzstelle von Strafverfahren erfuhr, teilte sie das dem Roten Kreuz mit, das die Betreffenden daraufhin warnte und ihnen ein Untertauchen ermöglichte, zum Beispiel Klaus Barbie und dem ehemaligen Kommandanten des Sammellagers Drancy, Alois Brunner. Die Stille Hilfe organisierte dann die Flucht, wie sie es auch für Barbie, Eichmann, Mengele, Erich Priebke, Josef Schwammberger und viele weniger Bekannte getan hatte.

Es gab allerdings auch Gegenkräfte in Deutschland, denen zu verdanken ist, dass es trotz aller genannten Aktivitäten zu einem Verfahren wegen der Besatzungsverbrechen in Frankreich kam. Vor allem lenkten die Aktionen des Ehepaares Klarsfeld das öffentliche Interesse auf den Frankreich-Komplex, am spektakulärsten, wenn auch etwas unspezifisch, die Ohrfeige Beate Klarsfelds für Bundeskanzler Kiesinger auf dem CDU Parteitag am 7. November 1968. Sie brachte ihr ein Jahr Freiheitsstrafe ein (erst ohne, dann mit Bewährung).

Mit Strafanzeigen, zahlreichen Demonstrationen und anderen Aktionen erreichten die Klarsfelds, dass in Frankreich schließlich Klaus Barbie, René Bousquet, Maurice Papon, Paul Touvier und zuletzt in Abwesenheit Alois Brunner angeklagt und verurteilt wurden. In Deutschland erreichten die Klarsfelds, dass am 2. Februar 1971 endlich das Zusatzabkommen mit Frankreich geschlossen wurde. Aber nach dessen Ratifizierung gingen noch einmal vier Jahre ins Land, bis die Kölner Staatsanwaltschaft Kurt Lischka – Dr. jur. und einstigen Gestapochef Kölns, in Frankreich Kommandeur der Sicherheitspolizei, des Sicherheitsdienstes der SS und Polizeichef von Paris – sowie Herbert Hagen – als Referatsleiter II, 12, im SS-Sicherheitsdienst-Hauptamt direkter Vorgesetzter Adolf Eichmanns, ab 1940 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Bordeaux (1955 dort in Abwesenheit zum Tode verurteilt) – und Ernst Heinrichsohn – in Paris als Adjutant Lischkas und mit Judendeportationen beschäftigt, mittlerweile Rechtsanwalt und Bürgermeister in Bürgstadt – anklagte. Natürlich wussten auch sie alle nicht, welches Schicksal den von ihnen deportierten drohte, auch wenn in den von ihnen gefertigten Dokumenten von »Vernichtung« und »Endlösung der Judenfrage« die Rede war. Sogar Eichmanns Vorgesetzten war der Holocaust verborgen geblieben. Aber anders als die Gerichte der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre nahm ihnen das die 15. Große Strafkammer des Landgerichts Köln 1980 nicht mehr ab. Sie verurteilte Hagen zu 12, Lischka zu 10 und Heinrichsohn zu 6 Jahren Gefängnis. Auch wenn sie 1985 alle schon entlassen wurden, muss man das Verfahren wohl als Meilenstein, als erstes Anzeichen eines Meinungswandels in der Justiz, bezeichnen.

Verblüffend übrigens, dass die Ergebnisse im »ersten antifaschistischen Staat auf deutschem Boden« sich kaum von denen Westdeutschlands unterschieden. Nach den »Waldheimer« Prozessen, in denen die DDR-Führung im Frühjahr 1950 3.400 von der Sowjetunion überstellte angebliche Nazi-Verbrecher in regelrechter Fließband-Justiz hatte verurteilen lassen (32 von ihnen zum Tode), erklärte man das Problem für erledigt. Auch hier folgte bald eine Begnadigungswelle. Bis 1955 waren alle in Waldheim Verurteilten, außer den 24 Hingerichteten, wieder auf freiem Fuß. Legt man die Kurven mit den Verurteilten-Zahlen von Ost- und Westdeutschland übereinander, sieht man exakt die gleichen Linien. Offenbar wollte man der auch in Ostdeutschland aus ehemaligen Nazi-Mitläufern bestehenden Bevölkerung nicht zuviel zumuten und führte daher in der Folgezeit nur noch einzelne exemplarische Strafprozesse gegen Nazi-Verbrecher durch.

In Westdeutschland wurden wegen NS-Verbrechen gegen 90.500 Personen Verfahren durchgeführt, rund 6.500 wurden verurteilt, der größte Teil von ihnen in den fünf Jahren vor Gründung der Bundesrepublik. Rund 84.000 Verfahren endeten mit Freispruch oder Einstellung. Was von den Prozessen übrig blieb, ist eine gewaltige Menge historischen Materials, das die Verbrechen des Dritten Reichs detailliert dokumentiert. 1958, nach dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, einem spektakulären Verfahren, das der deutschen Öffentlichkeit Einblicke in die Praxis der Massenmorde während des Krieges eröffnete, beschlossen die Justizminister der Länder, eine zentrale Stelle zur planmäßigen Erfassung der Verbrechen Nazi-Deutschlands im württembergischen Ludwigsburg einzurichten. Allerdings bekam die Stelle nur den Status einer Vorermittlungsbehörde, die nach Abschluss ihrer Ermittlungen das Verfahren an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft abzugeben hatte, die es dann allzu oft einstellte. Außerdem wurde ihre Kompetenz im Gründungsstaatsvertrag beschränkt: Sie durfte weder gegen Wehrmachtsangehörige noch wegen Justizverbrechen ermitteln. Ihr erster Direktor Erwin Schüle, ehemaliges SA- und NSDAP-Mitglied, sabotierte die Arbeit zunächst sogar nach Kräften, aber sein Nachfolger Adalbert Rückerl begründete dann ihr Renommee und schuf im Laufe der Jahrzehnte ein einzigartiges Archiv für zeitgeschichtliche Forschung.

So berechtigt die Kritik an der deutschen Justiz ist, im Laufe von 70 Jahren ist sie zu einem eindeutigen Urteil über die Vergangenheit gekommen und die Beschäftigung mit den zwölf Jahren Nationalsozialismus hat das Rechtsbewusstsein der nachwachsenden Juristengenerationen geprägt. Seit 25 Jahren führt das Fortbildungsinstitut für Richter und Staatsanwälte, die Deutsche Richterakademie, zeitgeschichtliche Aufklärungskurse durch, und bis heute finden sich für diese Ein-Wochen-Kurse mehr Interessenten, als Plätze zur Verfügung stehen. Selbst wenn es demnächst keine Strafverfahren mehr geben wird, das Thema wird die deutschen Juristen lange weiter beschäftigen, denn nichts schärft das Gefühl für Gerechtigkeit mehr als die Beschäftigung mit dem Unrecht.

Prof. Dr. Ingo Müller: Das Strafvereiteungskartell, in: Freispruch, Heft 11, September 2017

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