Strafverteidigertag Rechtspolitik

Prisoners on strike

Am 9. September begann in den USA ein landesweiter Gefangenenstreik, bei dem es um die Rechte arbeitender Gefangener und deren Haftbedingungen geht. Die Geschichte der industriellen Ausbeutung von Strafgefangenen reicht zurück bis in die Zeiten der Sklaverei. Ein Bericht von Anton Landgraf.

 

Das Pre-Release Center im Süden von Cleveland im US-Bundesstaat Ohio liegt in einer unwirtlichen Gegend. Wer in diese Haftanstalt kommt, soll auf seine Entlassung vorbereitet werden. Umgeben von Autobahnzubringern und Verwaltungsgebäuden handelt es sich um einen Ort, den man zweifellos schnell verlassen möchte. Die Demonstrierenden, die sich am 9. September vor dem Eingang der Anstalt versammelt hatten, wirkten daher auch etwas verloren mit ihren Protestschildern, und ihre Rufe nach einem »Ende des Sklavensystems« gingen fast im Getöse der Highways unter. Dennoch war die Kundgebung, die in ähnlicher Form etwa zur gleichen Zeit vor vielen anderen Gefängnissen der USA stattfand, ein besonderes Ereignis.
Anlass war ein landesweiter Streik von Gefängnisinsassen, der linken Wochenzeitung The Nation zufolge der größte in der US-Geschichte. Der Streik, an dem sich Insassen aus mindestens 40 Anstalten beteiligten, wurde in 24 Staaten organisiert und vom Free Alabama Movement (FAM) angeführt, einer von Häftlingen geleiteten Initiative.

Die Koordination des landesweiten Streiks übernahm das Incarcerated Workers Organizing Committee (IWOC), das zur International Labor Union gehört. »Dies ist ein Aufruf, um die Sklaverei in Amerika zu beenden«, heißt es in einem Streikmanifest, das landesweit verbreitet wurde. Darüber hinaus sollte mit »Arbeitsniederlegungen, Hungerstreiks und Sitzstreiks« auch gegen Langzeitisolierung, unzulängliche Gesundheitsversorgung, Überbelegung, gewalttätige Angriffe und das miserable Essen protestiert werden. Das Datum des Streiks erinnerte dabei an den Jahrestag der Revolte im Attica-Gefängnis in Buffalo (New York), wo am 9. September 1971 die Insassen des Hochsicherheitsgefängnisses gegen schlechte Haftbedingungen aufbegehrten. Der Aufstand wurde am 13. September gewaltsam niedergeschlagen, 32 Gefangene und zehn Geiseln wurden dabei getötet. An den Haftbedingungen hat sich seitdem nur wenig geändert.

Der landesweite Streik ist der vorläufige Höhepunkt zahlreicher Proteste in den vergangenen Jahren. So beteiligten sich in Kalifornien 2013 über 30.000 Häftlinge an einem Hungerstreik, um eine Reform der Langzeiteinzelhaft durchzusetzen. In diesem Jahr kam es zu Arbeitsniederlegungen in Haftanstalten in acht verschiedenen Bundesstaaten.

Einen genauen Überblick zu erhalten ist schwierig, weil viele Gefängnisse eine Nachrichtensperre verhängt haben und gegenüber der Außenwelt abgeriegelt wurden.

»Es ist der größte Gefängnisstreik in der Geschichte«, sagt Ben Turk vom IWOC, »aber die Informationen darüber sind sehr lückenhaft und sporadisch.« In den Medien wurde kaum über die landesweite Aktion berichtet. Für die Streikenden ist das ein großes Problem, denn sie sind nicht in der Lage, jenseits ihrer Unterstützer und Familieangehörigen eine größere Öffentlichkeit auf die Zustände in den Gefängnissen aufmerksam zu machen. »Eine Gesellschaft, die ein Prozent der Bevölkerung in Gefängnisse steckt, hat aber die Verantwortung zu wissen, was mit diesen 2,4 Millionen Menschen geschieht«, meint deswegen Ethan Zuckermann, der am Center Civic Media am Massachusetts Institute of Technology (MIT) arbeitet und einer der wenigen öffentlichen Stimmen ist, die sich zu dem Streik äußern. »Es gibt nur weniger Reporter, die sich mit der Situation in den Gefängnissen beschäftigen«, schreibt er in seinem Blog. In der Regel können sie mit den Insassen nicht oder nur in Begleitung von Wärtern sprechen.

Bekannt wurde, dass es in zwei Haftanstalten in Florida zu Ausschreitungen kam. In einigen Anstalten, so auch in Guantánamo Bay, traten Häftlinge in einen Hungerstreik. In Virginia, Kalifornien, Ohio und South Carolina wurden Streikende in Einzelhaft genommen oder in andere Anstalten verlegt.

Gefängnisindustrie: Zwangsarbeit und privatisierter Strafvollzug

Der Protest richtet sich vor allem gegen die Zwangsarbeit, die in fast jedem Gefängnis üblich ist. In den Bundesanstalten erhalten die Beschäftigten dafür zwischen 17 und 40 Cent die Stunde, manche Bundesstaaten wie Texas oder Arkansas zahlen gar nichts. Die meisten Insassen kochen oder putzen, weil staatliche Anstalten nicht kommerziell produzieren dürfen. Allerdings stellen Insassen auch Möbel oder andere Gegenstände her, die dann in Gefängnissen oder anderen staatlichen Einrichtungen verwendet werden. Rund 900.000 Insassen müssen während ihrer Haftzeit arbeiten. Allein in den staatlichen Haftanstalten wird damit mittlerweile ein geschätzter Jahresumsatz von über zwei Milliarden US-Dollar erwirtschaftet.

In den privatisierten Haftanstalten, in denen rund zehn Prozent der arbeitenden Häftlinge einsitzen, gelten hingegen andere Regeln. Die Gefangenen arbeiten dort unter anderem für Unternehmen wie Walmart, McDonald’s oder Victoria’s Secret und erhalten dafür etwas höhere Löhne. Die privaten Gefängnisse erzielten im vergangenen Jahr insgesamt einen Umsatz von rund acht Milliarden Dollar. Bei den privaten Haftanstalten handelt es sich um Einrichtungen, die zuvor von den jeweiligen Gemeinden nicht kostendeckend betrieben werden konnten. Die lokalen Behörden verkaufen die Anstalt zumeist an die Corrections Corporation of America (CCA), die für die Schulden aufkommt. Im Gegenzug garantiert die Gemeinde eine mindestens neunzigprozentige Belegung, sonst sind sie zu Strafzahlungen verpflichtet. Dadurch stehen die Kommunen unter Druck, die Gefangenenzahlen konstant hoch zu halten.

Für alle Häftlinge gilt, dass sie nicht die üblichen Arbeitnehmerrechte in Anspruch nehmen dürfen, da ihr Verhältnis zur Gefängnisleitung nicht dem zwischen Arbeiter und Unternehmer entspricht, wie in Gerichtsurteilen bestätigt wurde. Juristisch möglich wird diese Auslegung durch den 13. Zusatzartikel der US-Verfassung. Demnach ist zwar jede Form von Sklaverei und Zwangsarbeit auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten untersagt, explizit ausgenommen sind von diesem Verbot jedoch Strafmaßnahmen für verurteilte Kriminelle.

Das System der Gefängnisarbeit reicht bis zu den Zeiten der Abschaffung der Sklaverei zurück. Als Reaktion auf die Abolition gingen viele Südstaaten dazu über, massenhaft Afro-Amerikaner aus nichtigen Gründen zu verhaften und zu verurteilen. Schon Herumlungern, Fluchen, Glücksspiel oder Trinken in der Öffentlichkeit wurden mit Zwangsarbeit bestraft. Anschließend mussten sie wieder auf den Plantagen arbeiten oder sie wurden an Firmen ausgeliehen – dann nicht mehr als Sklaven, sondern als Strafgefangene. Viele Unternehmen behandelten ihre Häftlinge so schlecht, dass der Autor und Sozialreformer George Washington Cable die Strafarbeit »schlimmer als die Sklaverei« fand: Sklaven galten als Besitz, den man erhalten musste, Miethäftlinge hingegen konnten gnadenlos ausgebeutet werden. Sie schufteten im Straßenbau und wurden ausgepeitscht, wenn sie nicht genügend Baumwolle pflückten. Starben Sträflinge, holten sich die Firmen neue.
Die staatliche Vermietung von Häftlingen endete Anfang der dreißiger Jahre. Doch die Zwangsarbeit in den Knästen existierte weiter – unter Verweis auf den 13. Zusatzartikel in der Verfassung. »Häftlinge sind die am meisten ausgebeutete Gruppe in diesem Land«, meint deswegen Azzurra Crispino von der IWOC. Die Organisation fordert, dass sich Häftlinge gewerkschaftlich organisieren dürfen.

»Belohnt« werden die Insassen für ihre Tätigkeiten auch mit einem Bonussystem, mit dem sie zumindest theoretisch ihre Entlassung beschleunigen können. »Meistens arbeiten die Insassen, weil sie sonst disziplinarisch belangt und in Einzelhaft gesteckt werden oder Bonuspunkte verlieren«, erklärt Crispino.
Die Gefängnisindustrie profitierte dabei von den rapide ansteigenden Inhaftierungsraten in den vergangenen Jahrzehnten. Rund 2,4 Millionen Menschen sitzen Berechnungen der Non-Profit Organisation Prison Policy Initiative zufolge derzeit in den USA ein – damit weist das Land mit Abstand die höchste Inhaftierungsrate weltweit auf. Hinzu kommen rund 4,8 Millionen Verurteilte, deren Haftstrafen ausgesetzt sind oder die unter Bewährung stehen. China, das viermal so viele Einwohner wie die USA zählt, folgt mit 1,5 Millionen Strafgefangenen deutlich abgeschlagen.

Schwarze sind dabei im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung überproportional vertreten. Mit dem massenhaften Konsum von Crack und dem von Präsident George Bush betriebenen Krieg gegen die Drogen, der unter Präsident Bill Clinton weiter verschärft wurde, wuchs die Zahl der Insassen bis heute rapide an, obwohl die Kriminalitätsrate seit Jahren signifikant sinkt. Rund die Hälfte der Gefängnisinsassen sitzen wegen Gewaltdelikten ein, viele andere hingegen, weil sie Marihuana konsumierten, oder weil sie Bußgelder nicht bezahlen konnten. In vielen Bundesstaaten gilt zudem das sogenannte »Three-Strikes-Law«. Wiederholungstäter müssen nach der dritten Verurteilung, selbst wenn es sich um Bagatelldelikte handelt, mit zum Teil drakonischen Strafen rechnen. Eine Folge davon ist die permanente Überbelegung. So werden in den staatlichen Anstalten von Ohio 38.000 Plätze von über 50.000 Insassen belegt. Entsprechend sind die Bedingungen.

Die miserable Situation in den Haftanstalten und das aus dem Ruder laufende Strafsystem sind mittlerweile auch Wahlkampfthema. Die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, hat sich ebenso wie ihr früherer parteiinterner Konkurrent Bernie Sanders für die Abschaffung von privaten Haftanstalten und eine Reform des Justizsystems ausgesprochen. Auch republikanische Politiker kritisieren mittlerweile das US-Strafsystem als zu ineffektiv und zu teuer. Schließlich geben viele Bundesstaaten mittlerweile mehr Geld für den Strafvollzug aus als für Schulen. Ohne die fast kostenlosen Arbeitskräfte in den Anstalten wäre das ganze System nicht mehr finanzierbar.

Doch selbst wenn es zu Reformen kommen sollte, würde es lange dauern, bis Veränderungen greifen. Insbesondere die privaten Haftanstalten haben langfristige Verträge, an denen Bundesbehörden auf kurze Sicht wenig ändern können.

Anton Landgraf ist Journalist und Mitherausgeber der Wochenzeitung Jungle World.

Anton Landgraf, Prisoners on Strike, in: Freispruch, Heft 9, Oktober 2016

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