Strafverteidigertag Rechtspolitik

Alles Terroristen!

Im Oktober 2010 urteilte der BGH, dass die kurdische Arbeiterpartei PKK in Gänze als ausländische terroristische Vereinigung zu sehen sei [3 StR 179/10 v. 28.10.2010]. Seitdem hat sich der Kreis möglicher Beschuldigter deutlich vergrößert - vom Funktionär zum Mitglied. Jetzt endeten die ersten Hauptverhandlungen gegen mutmaßliche Angehörige der PKK mit erstinstanzlichen Verurteilungen nach § 129b StGB.
von Stephan Kuhn

 

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Die Geschichte des Umgangs deutscher Strafgerichte mit Angehörigen der PKK ist beinahe so verwirrend, wie die des türkisch-kurdischen Konflikts selbst. Bereits kurz nach dem Beginn des bewaffneten Kampfes in den kurdischen Gebieten der Türkei, setzte in der BRD Ende der achtziger Jahre auch die Verfolgung PKK-Angehöriger nach §129 StGB ein. Während einfache Anhänger zunächst straffrei blieben, wurde den in Deutschland tätigen Führungskadern der Organisation vorgeworfen, eine inländische kriminelle Vereinigung innerhalb der PKK zu bilden. Die Tätigkeit der Vereinigung erfolgte nach Ansicht der Bundesanwaltschaft und der ihr folgenden OLG-Senate unter systematischer Verletzung hiesiger Strafgesetze, namentlich gegen Strafvorschriften des Asylverfahrens- und Aufenthaltsgesetztes verbunden mit Passfälschungen, durch Nötigungen, Erpressungen, Freiheitsberaubungen und Körperverletzungen zum Beitreiben von »Finanzen« oder als Teil der PKK-eigenen »Straf- und Disziplinargewalt«.

Mit der Verschärfung des Bürgerkrieges in der Türkei im Jahr 1993 sah die deutsche Rechtsprechung dann innerhalb des europäischen Funktionärskörpers der PKK die Entwicklung hin zu einer terroristischen Vereinigung, weil Mitglieder und Sympathisanten auf deren Weisung hin Brandanschläge auf türkische Geschäfte, Banken, Vereinslokale, Gebetsräume und andere Einrichtungen in Deutschland verübten. Durch Verfügung des BMI vom 22.11.1993 wurde jegliche Betätigung für die PKK oder ihre Unterorganisationen strafbewehrt verboten, sodass nunmehr auch einfache Anhänger, Sympathisanten oder Unterstützer sich etwa durch das Zeigen von Öçalanbildern oder »Apo«-Rufe nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG strafbar machten. Die Umsetzung einer Anweisung Öçalans von August 1996, Gewaltaktionen in Europa zu unterlassen, bewegte die Bundesanwaltschaft dazu, zu ihrer Anklagepraxis der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zurückzukehren. Die Strafbarkeit einfacher Anhänger nach dem VereinsG blieb jedoch bestehen.

Diese Rechtspraxis fand mit dem Urteil des BGH vom 28.10.2010 ein jähes Ende: Angesichts der hierarchischen und zentralistischen Organisationsstruktur der PKK liege nahe, dass es sich bei ihr um eine Vereinigung handele, deren maßgebliche Willensbildung außerhalb Deutschlands stattfinde. Daher sei mit ihren Mitgliedern nicht nach § 129 StGB, sondern nach §§ 129a, b StGB zu verfahren, was zur Folge habe, dass ihre Strafverfolgung einer ministeriellen Verfolgungsermächtigung nach § 129b Abs. 1 S. 3 StGB bedürfe.
Eine Argumentation, die nur vermeintlich strafbegrenzend wirkt. Tatsächlich brachte der Beschluss eine Verdoppelung des Strafrahmens von fünf auf zehn Jahre Höchststrafe mit sich und hob zugleich die Unterscheidung zwischen einfachen Mitgliedern (bzw. Anhängern) und Führungskadern auf: Wer sich in Kenntnis von Zielen, Programmatik und Methoden dieser Organisation anschließe und in ihr betätige, könne nicht alleine deshalb nicht als Mitglied der Vereinigung eingestuft werden, weil er kein führender Funktionär sei. Der Kreis potenziell Beschuldigter ist dadurch enorm angewachsen: 13.000 Mitglieder hat die PKK nach Angaben der Bundesregierung in Deutschland.|2

War die von 1993 bis 1996 dauernde »terroristische Episode« noch durch eine tatsächliche qualitative Veränderung der in Deutschland stattfindenden Bezugstaten der PKK begründet, so ist die aktuelle Wiedergeburt als terroristische Vereinigung einzig und allein der neuen Rechtsprechung des BGH geschuldet. Diese wiederum stützt sich ausdrücklich auf die Einführung des § 129b StGB zum 30.9.2002 (!)|3. Der zu Grunde liegende Gesetzentwurf zielte ursprünglich auf die Realisierung der Verpflichtung der BRD aus der Gemeinsamen Maßnahme des EU-Rates vom 21.12.1998 (Abl. EG Nr. L 351/1) ab. Der Vorentwurf des BMJ sah demgemäß auch nur die Erstreckung der §§ 129, 129a StGB auf Vereinigungen in den Mitgliedstaaten der EU vor. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 entschloss sich der Gesetzgeber noch im Gesetzgebungsverfahren zu einer Ausdehnung der Vorschriften auch über die EU hinaus. Der schließlich Gesetz gewordene § 129b StGB bestimmt die Geltung der §§ 129 und § 129a StGB auch für Vereinigungen in jeglichem Ausland. Zur Verfolgung von Taten, die sich auf eine Vereinigungen außerhalb der EU beziehen, bedarf es allerdings eines spezifischen Inlandsbezugs|4 und der Erteilung einer Verfolgungsermächtigung durch das BMJ.

Gerade am Beispiel der PKK zeigt sich, welche Probleme die hierin angelegte Globalisierung des deutschen Staatsschutzstrafrechts mit sich bringt. Nun geraten, da den Anklagen zufolge der maßgebende Vereinigungswille außerhalb der Deutschlands gebildet wird und der Schwerpunkt der Strukturen sowie das eigentliche Aktionsfeld in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran liegt (BGH a.a.O.) auch die dort begangenen Taten in den Fokus deutscher Gerichte. Nicht mehr die hier begangenen Pass- und Urkundsdelikte, Körperverletzungen und Nötigungen sind die Bezugstaten, für die der hiesige Kader organisationstrafrechtlich haften muss, vielmehr soll dieser sich nun für Gefechtshandlungen und vermeintliche Anschläge in einem viele tausend Kilometer entfernt stattfindenden Konflikt vor deutschen Oberlandesgerichten verantworten. Da Krieg aber im Wesentlichen darin besteht, Menschen zu töten und Mord und Totschlag terroristische Straftaten im Sinne des § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB sind, wird der wie eh und je in der Hauptsache mit Spendensammeln, Vertrieb von Publikationen und der Organisation von Veranstaltungen in Deutschland beschäftigte Kader nun vom Kriminellen zum Terroristen. Der Zusammenhang zwischen bestrafter Straftat und strafender Rechtsordnung geht durch die vorgenommene Auswechslung der Bezugstaten verloren.

Damit einher geht zugleich eine (Unrechts-)Wertung des Konflikts innerhalb der kurdischen Gebiete durch deutsche Gerichte. Gegenstand »klassischer« PKK-Verfahren waren Verstöße gegen deutsches Strafrecht auf deutschem Boden. Dies galt für die mitgliedschaftliche Betätigung wie für die Bezugstaten. In der Folge konnten sich deutsche Gerichte zwar nicht mit gutem Gewissen aber mit einigem Recht auf den Standpunkt stellen, Hintergründe und Gestalt des sich in der Türkei abspielenden Konflikts gingen sie nichts weiter an, änderten jedenfalls nichts an der Pflicht der Angeklagten, sich in Deutschland an die hiesigen Strafgesetze zu halten. Dies hat sich geändert: Zwangsläufig geraten die innenpolitischen Verhältnisse in der Türkei in den Blick deutscher Gerichte. Mitverhandelt wird daher auch die Frage der Legitimität des von der PKK geführten Kampfes. Jede deutsche Verurteilung besagt, der bewaffnete Kampf der Kurden in der Türkei und auf ihn bezogene gewaltlose Tätigkeiten seien Terrorismus - und legitimiert damit unterschwellig zugleich, dass der türkische Staat auch zehntausende von friedlichen Kurden als Terroristen behandelt.

Dies führt nicht zuletzt zu der widersprüchlich Situation, dass Gerichte Mitglieder der PKK verurteilen, dem Kampf der Kurden in Feststellungen zum Hintergrund der Bezugstaten zugleich eine gewisse Nachvollziehbarkeit verleihen. So heißt es in einem der bislang mit schriftlichen Gründen vorliegenden Urteilen u.a.:

»[K]urdische Politiker und kurdische Parteien [sind] in der Türkei immer wieder der Verfolgung ausgesetzt. ... Bei Demonstrationen für ein kurdisches Selbstbestimmungsrecht ging und geht der türkische Staat häufig mit exzessiver Gewalt bis hin zu Tötungen gegen Demonstranten vor… Der türkische Staat führte die Auseinandersetzung mit der PKK mit großer Härte. So setzte die türkische Armee bei Kämpfen mit der PKK-Guerilla in den 90-er Jahren chemische Kampfmittel ein und tötete damit Kämpfer der PKK. ... In den 90-er Jahren wurden ca. 3200 kurdische Dörfer und Weiler samt dem landwirtschaftlichen Inventar zerstört, um der PKK Rückzugsmöglichkeiten und logistische Unterstützung durch die Zivilbevölkerung zu verwehren. Die Zivilbevölkerung wurde zwangsumgesiedelt... Mitte der 90-er Jahre gab es zahlreiche Fälle des sog. »Verschwindenlassens«, d.h. Personen wurden unter dem Vorwurf festgenommen, Mitglieder oder Unterstützer der PKK zu sein und verschwanden später spurlos, ohne zuvor die Freiheit erlangt zu haben. Im selben Zeitraum kam es auch immer wieder zu extralegalen Hinrichtungen vermeintlicher PKK-Sympathisanten. Auch im Zeitraum von Januar 2004 bis Dezember 2011 wurde in der Türkei staatlicherseits systematisch gefoltert, d.h., dass trotz des Verbots von Folter und Misshandlung die Vorgesetzten derartige Aktionen duldeten, trotz einer Vielzahl von Beschwerden nichts in Richtung Bestrafung unternahmen und eine Wiederholung nicht verhinderten. In der Türkei herrschte eine weitgehende Straflosigkeit der Folter.«

Diese Widersprüchlichkeit ist in der Normstruktur der §§ 129a, b StGB angelegt. Sie rührt entstehungsgeschichtlich daher, dass die §§ 129, 129a StGB ursprünglich auf die BRD und damit auf die Verhältnisse innerhalb eines formalen Rechtsstaats zugeschnitten waren.|5 Aufgrund der dabei vorausgesetzten rechtsstaatlichen Hegung des Gewaltmonopols ist es nur konsequent, dass § 129a Abs. 1 StGB keine terrorismusspezifische Begehungsform der Tötungsdelikte voraussetzt. Der ursprünglich vorgesehenen Erweiterung des Anwendungsbereichs der §§ 129, 129a StGB auf die anderen Mitgliedsstaaten der EU steht unter diesem Gesichtspunkt nichts entgegen. Ganz anders stellt sich dies jedoch für die darüberhinausgehende Ausdehnung des Anwendungsbereichs dar. Außerhalb der EU können nur die wenigsten Staaten als Rechtsstaaten im Sinne des Grundgesetzes bezeichnet werden. Viele von ihnen sind von staatlicher Willkür, innen- und außenpolitischer Instabilität und in der Folge von bewaffneten Konflikten unterschiedlichster Intensität geprägt. Vereinigungen, denen gegenüber hinreichender Verdacht der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale der §§ 129a Abs. 1, b StGB anzunehmen ist, existieren daher nahezu weltweit und eine Vielzahl von ihnen erhält auch Unterstützung aus den Diasporagemeinden im Einwanderungsland BRD.

Eine streng am Legalitätsprinzip ausgerichtete Normanwendung ist von deutschen Sicherheitsbehörden daher gar nicht zu leisten. Sie ließe sich auch nur unter Zugrundelegung der Prämisse legitimieren, dass der Bestand jedes Staates unabhängig von seiner Verfasstheit einen Eigenwert darstelle, der durch deutsches Strafrecht zu schützen sei. Angesichts der Wertebezogenheit des Grundgesetzes und der historischen Erfahrungen der Dekolonisierung wollte und konnte der Gesetzgeber soweit nicht gehen. Entsprechend heißt es in der Gesetzesbegründung, dass es Vereinigungen geben könne, deren Bestrebungen keinen erhöhten Grad der Missbilligung verdienten, ein solcher könne »unter Umständen dann zu verneinen sein, wenn gewaltsamer Widerstand, z.B. einer Freiheitsbewegung, auch unter Verstoß gegen strafrechtliche Normen als verstehbare Reaktion auf staatliche Willkür erscheint«.|6 Damit hat die ungelöste Frage der Abgrenzung von Freiheitskämpfern und Terroristen Eingang in bundesdeutsche Strafprozesse gefunden.

Dass dies Probleme mit sich bringen könnte, dämmerte dem Gesetzgeber bereits: »Auf der Ebene von Tatbestand oder Rechtswidrigkeit«, hieß es damals, »können solche Fälle minderer Strafwürdigkeit bzw. weichenden Strafbedürfnissen nicht mit der gebotenen Bestimmtheit ausgeschieden werden«.|7 Der Gesetzgeber räumte also bereits ein, einen den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots und damit des Grundgesetzes entsprechenden Tatbestand für außereuropäische Vereinigungen nicht formulieren zu können. Die naheliegende Konsequenz, die Einführung einer solchen Strafnorm besser zu unterlassen, zog er indes nicht. Stattdessen stellte er die zentrale Wertungsfrage der Abgrenzung von verstehbarem Widerstand und Terrorismus dem Tatbestand und damit dem eigentlichen Strafprozess in § 129b Abs. 1 S. 3 bis 5 StGB voran. Taten, die sich auf eine Vereinigung außerhalb der EU beziehen, dürfen nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz verfolgt werden. Das Ministerium soll zwar bei der Entscheidung über die Ermächtigung in Betracht ziehen, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen. Doch ist die Entscheidung selbst weder begründungspflichtig noch gerichtlich überprüfbar.|8 Selbst nach Ansicht des BGH-Richters Dr. Schäfer kommt den Ermessensleitlinien daher im Ergebnis kaum mehr Bedeutung zu als die eines wohlklingenden, möglicherweise die Beruhigung der Öffentlichkeit bezweckenden Programmsatzes.|9 In kaum zu überbietender Ehrlichkeit ist der dies thematisierender Antrag der Verteidigung in einem der Verfahren mit der Begründung abgelehnt worden, die Einordnung einer Vereinigung als terroristische Vereinigung oder Befreiungsbewegung sei letztlich keine juristische Frage, sondern eine (außen-)politische Wertung. In der Tat: Die strafrechtliche Verfolgung|10 der Unterstützung der PKK einerseits, andererseits die Nichtverfolgung der Unterstützung der Freien Syrischen Armee|11 oder libyscher Rebellengruppen|12 mag nachvollziehbare außenpolitische Gründe haben. Rechtlich, insbesondere tatbestandsimmanent, begründbar ist sie nicht.

Der politische Charakter der Entscheidung zur Erteilung einer Verfolgungsermächtigung wird insbesondere daran deutlich, dass die PYD in Syrien und die PJAK im Iran, die deutsche Strafverfolgungsbehörden als Bestandteile der PKK betrachten, nicht verfolgt werden. Nach einer Meldung des Focus vom 3. Juni 2013 gerät auch die Verfolgung der PKK künftig vielleicht ins Wanken: Da Ankara im Hinblick auf das Friedensangebot Abdullah Öçalans den militärischen Druck auf die PKK lockere und auf Aussöhnung mit den Kurden setze, solle Deutschland gnädiger mit der Organisation umgehen. »Die Türkei verlangt von uns flankierende Maßnahmen für ihren neuen Kurs«, wird ein Staatsschützer zitiert. Unabhängig davon, ob diese Meldung zutreffend ist, verdeutlicht sie, dass § 129b StGB vor allem der Exekution außenpolitischer Interessen dient.

Ist jedoch die Bestimmung von strafrechtlich relevantem Verhalten nicht mehr anhand der Unrechtstypisierung durch den Tatbestand zu leisten, sondern nur durch Rückgriff auf politischen Interessen folgende ministerielle Entscheidungen, wandelt sich der Richter »vom Mund des Gesetzes« zum »Sprachrohr der Regierung«. Die Außerkraftsetzung des Legalitätsprinzips führt in ihrer Wechselwirkung mit der Weite des Anwendungsbereichs dazu, dass § 129b StGB schon seiner Grundstruktur nach nicht auf die Gleichbehandlung gesetzlich vertypter Unrechtssachverhalte, sondern auf den Vollzug konkreter politischer Entscheidungen ausgerichtet ist. Damit verfehlt die Norm aber von Grund auf Aufgabe und Wesen des Strafrechts.

Der Auslandsbezug des § 129b StGB bringt aber auch ganz praktische Probleme mit sich und hat unmittelbare Folgen für Inhalt und Form der Beweisaufnahme: So werden die Bezugstaten, also Gefechtshandlungen und sogenannte Anschläge der PKK in der Türkei, von den OLG-Senaten bislang durch den Abgleich der Selbstbekennungen der der PKK zugerechneten Guerilla HPG mit den Berichten öffentlich zugänglicher Medien nachgewiesen. Man stelle sich zum Vergleich einmal vor, die Bezugstaten und damit der terroristische Charakter der RAF wäre allein durch Abgleich von deren Bekennerschreiben mit den Berichten der Springerpresse bewiesen worden. Solche Urkundenbeweise werden hauptsächlich im Selbstleseverfahren eingeführt. Wie in den klassischen PKK-Verfahren wird auch die Organisationsstruktur durch Urkunden in Verbindung mit der Einvernahme von BKA-Beamten belegt, die nie in der Konfliktregion waren, sondern ihre Kenntnisse allein aus der Auswertung von Urkunden und dem Studium von Urteilen erlangten. Da auch diese Urkunden durch das Selbstleseverfahren eingeführt werden und es die Gerichte teilweise als ausreichend ansehen, den Verfahrensbeteiligten kraft § 249 Abs. 2 StPO die Hausaufgabe zu erteilen, die verschriftlichten Übersetzungen der Telefon- bzw. PKW-Innenraumüberwachung zur Kenntnis zu nehmen, nehmen diese Staatsschutzverfahren zu Gunsten der Türkei immer mehr die Gestalt schriftlicher Verfahren an, von denen die Öffentlichkeit faktisch ausgeschlossen ist. Erklärungs- und Fragerechte der Verteidigung sind dadurch marginalisiert. Bei ihrem Versuch Einfluss auf das Verfahren zu nehmen, ist die Verteidigung stärker als sonst auf den Schriftweg verwiesen. Die rechtsstaatlichen Zumutungen, die untrennbar mit der Haftungsausweitung eines Organisationsstrafrechts verbunden sind, werden damit in Fällen des Auslandsbezugs noch prozessual verschärft.|13

Bislang sahen weder die Bundesanwaltschaft, noch die OLG-Senate von sich aus Anlass, Geschichte und Hintergrund des türkisch-kurdischen Konflikts, die Lage der Menschenrechte der Kurden in der Türkei oder die seitens der PKK immer wieder ausgerufenen einseitigen Waffenstillstände aufzuklären. Die diesbezüglichen oben zitierten Feststellungen beruhen ausnahmslos auf Beweisanträgen der Verteidigung, die hunderte von Seiten zählen. Sie sind Ergebnis dessen, dass eine Verteidigung, die nicht bereit ist, eine derartige Politisierung des Strafrechts widerspruchslos hinzunehmen, gezwungen ist, völkerrechtlich für die Legitimität des Kampfes der PKK und damit einen im Sinne des Art. 1 Abs. 4 ZP I kolonialistischen und rassistischen Charakter des türkischen Staates zu argumentieren. Man kann in Frage stellen, ob dies Aufgabe eines Strafverteidigers vor deutschen Gerichten sein sollte. Ihm bleibt derzeit keine andere Wahl.

 

Rechtsanwalt Stephan Kuhn arbeitet als Strafverteidiger in Frankfurt/Main. Er ist Mitglied in der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger e.V..

Anmerkungen:

1 : Hanseatisches OLG, Urteil vom 13.02.2013, 2 StE 5/12 – 6; KG Berlin, Urteil vom 11.06.2013, 5. (AA) 2 StE 10/12-6 (5/12).
2 : Laut Angaben der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hatte die PKK in den Jahren 2011 und 2012 ca. 13.000 Mitglieder in Deutschland (BT-Drs. 17/13072).
3 : Die Begründung der Rechtsprechungsänderung mit einer bereits acht Jahre zuvor erfolgten Gesetzeseinführung drängt zu der Annahme, diese sei nicht allein ursächlich gewesen.
4 : § 129b Abs. 1 S. 2 StGB lautet: »Bezieht sich die Tat auf eine Vereinigung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, so gilt dies nur, wenn sie durch eine im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübte Tätigkeit begangen wird oder wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist oder sich im Inland befindet.«
5 : Was der Berechtigung der Kritik an ihnen nichts nimmt. Vielmehr verdeutlicht der Umstand, dass die §§ 129, 129a StGB auch hier strafrechtstheoretisch kaum zu legitimieren sind, wie verfehlt deren potentiell weltweite Anwendung ist.
6 : BT-Drs. 14/8893, S. 9
7 : (BT-Drs. 14/8893, S. 8)
8 : LK-Krauß, § 129b Rn.30
9 : Münchener Kommentar 2. A., § 129b Rn. 26
10 : Nachdem zuvor Ermächtigungen für Einzelfälle vorlagen, hat das BMJ am 6.09.2011 die allgemeine Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener und künftiger Taten der Europaführung, des Deutschlandverantwortlichen und der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Sektoren bzw. Regionen und Gebiete der PKK und ihrer Teilorganisation in Europa CDK erteilt und somit auch unter Geltung des § 129b StGB an der Spaltung zwischen Funktionskörper und einfachen Mitgliedern festgehalten.
11 : Zu vergegenwärtigen ist hierbei, dass die Bundesrepublik Präsidenten Assad immerhin für rechtsstaatlich genug hielt, mit ihm ein Rückführungsübereinkommen für syrische Staatsbürger zu vereinbaren und diese auch nach Syrien abzuschieben.
12 : Auch Gaddafi war immerhin gut genug, als Partner bei der europäischen Flüchtlingsabwehr zu fungieren.
13 : Die Dominanz des Urkundenbeweises in diesen Verfahren ist auch dadurch bedingt, dass die Vernehmung von Auslandszeugen bekanntlich wesentlich einfacher als diejenige von Inlandszeugen durch das Gericht abgelehnt werden kann.

Stephan Kuhn:
Alles Terroristen, in: Freispruch, Heft 3, August 2013

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