Strafverteidigertag Rechtspolitik

Notwendige Reform

Notwendige Reformen der notwendigen Verteidigung beschreibt Lefter Kitlikoglu

 

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Art. 6 Abs. 3 c MRK besagt, dass jede angeklagte Person »mindestens folgende Rechte« hat:

»… sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist…«.

Das Bundesverfassungsgericht (bspw. StV 1986, 160, 165) erkennt in den Vorschriften der StPO über die notwendige Mitwirkung und Bestellung eines Verteidigers eine

»Konkretisierung des Rechtstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung«.

»Die Verfassung selbst will sicherstellen, dass der Beschuldigte auf den Gang und das Ergebnis des gegen ihn geführten Strafverfahrens Einfluss nehmen kann«.

Die Garantien aus Art. 6 Abs. 3 c gelten bereits im Ermittlungsverfahren.|1

Erfreulicherweise hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren in § 140 Abs. 1 StPO Veränderungen vorgenommen. So wurde § 140 Abs. 1 Ziff. 4 StPO (Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts|2) eingeführt, der für den Beschuldigten, der sich in Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung befindet, den Anspruch auf die Bestellung eines notwendigen Verteidigers regelt. Das StORMG vom 26. Juni 2013|3 ergänzte § 140 Abs. 1 StPO um die Ziff. 9. Danach liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn dem Verletzten nach den §§ 397 a, 406 g Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Das Recht der notwendigen Verteidigung bedarf jedoch dringend weiterer Reformen:

1. Für besondere Verfahrenssituationen sind zahlreiche Fälle notwendiger Verteidigung außerhalb des § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO in unterschiedlichen Abschnitten der Strafprozessordnung vorzufinden. Genannt seien u.a. §§ 138 c Abs. 3 Satz 4, 350 Abs. 3, 408 b, 418 Abs. 4 StPO. Dringend erforderlich ist eine systematische Zusammenführung der jeweiligen Vorschriften der notwendigen Verteidigung in einer Vorschrift.

2. Spezialgesetzliche Vorschriften über die notwendige Verteidigung (z.B. § 68 JGG) sollten in der Strafprozessordnung geregelt werden.

3. Weiterer Reformbedarf besteht bei der notwendigen Verteidigung bei Untersuchungshaft. Der Status quo besagt, dass ein Fall notwendiger Verteidigung bei Vollstreckung von Untersuchungshaft und einstweiliger Unterbringung vorliegt. Der Gesetzgeber hat seinerzeit versäumt, einen Fall notwendiger Verteidigung mit entsprechendem Anspruch des jeweiligen Beschuldigten spätestens zum Zeitpunkt der Vorführung des Beschuldigten vor den Haftrichter anzunehmen.

Auf dem 35. Strafverteidigertag in Berlin in 2011 hat die Arbeitsgruppe 8 gefordert, dass dem Beschuldigten einer gravierenden Straftat, die zur Untersuchungshaft führen kann, bereits bei der ersten polizeilichen Vernehmung ein Verteidiger bestellt werden soll. § 159 Abs. 1 c StPO-Schweiz besagt, dass Polizei oder Staatsanwaltschaft »die beschuldigte Person zu Beginn der ersten Einvernahme in einer ihr verständlichen Sprache darauf« hinweisen, dass »sie berechtigt ist, eine Verteidigung zu bestellen oder ggf. eine amtliche Verteidigung zu beantragen«|4. Eine solche Vorschrift ist für den deutschen Strafprozess zu etablieren.

4. Eine besondere Problematik stellt der Wunsch des in Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung befindlichen Beschuldigten dar, den einmal bestellten Verteidiger zu wechseln. Unter Hintanstellung fiskalischer Erwägungen sollte in diesen Fällen dem Beschuldigten das Recht eingeräumt werden, einen Verteidiger seines Vertrauens bestellt zu erhalten, selbst wenn ein »Verlegenheitsverteidiger« bestellt worden ist.|5 De lege lata wird ein Verteidigerwechsel nur zugelassen, wenn tiefgreifender Vertrauensschwund dargelegt und glaubhaft gemacht wird. Dies berührt das zwischen Verteidiger und Mandanten bestehende Verhältnis besonders, so dass die »Wechselmöglichkeit« ohne entsprechende Darlegung möglich gemacht werden sollte, und zwar ohne dies mit der Bedingung teilweisen Gebührenverzichts zu verknüpfen.|6

5. Hauptverhandlungshaft nach § 230 Abs. 2 StPO ist ihrem Sinn und Zweck nach Untersuchungshaft, sie soll die Durchführung des Hauptverfahrens - der Hauptverhandlung - sicherstellen. Dementsprechend ist § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auch auf den Fall des § 230 Abs. 2 StPO normativ auszuweiten.

6. § 141 Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO sind dahingehend umzugestalten, dass eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft bestehen soll, einen Verteidiger schon während des Vorverfahrens bestellen zu lassen.

7. Legt die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel zu Ungunsten des Angeklagten ein - sei es das Rechtsmittel der Berufung, sei es das Rechtsmittel der Revision -, liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor.

8. Die Ausweitung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO dahingehend, dass bei Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Amtsgericht - Schöffengericht - ein Fall notwendiger Verteidigung vorliege, greift zu kurz, da bekanntermaßen auch Strafrichter empfindliche Freiheitsstrafen verhängen können und auch verhängen, wie die Praxis nicht selten beweist.

Ein Fall notwendiger Verteidigung sollte dementsprechend dann angenommen werden, wenn die Gefahr besteht, dass der mit einem Strafverfahren überzogene Beschuldigte eine Freiheitsstrafe - sei es auch eine Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird - zu gewärtigen haben könnte.

9. Es wurde bereits erwähnt, dass der Gesetzgeber bei Bestellung eines Beistandes nach §§ 397 a, 406 g Abs. 3 und 4 StPO einen Fall notwendiger Verteidigung sieht. Dies hat ebenfalls dann zu gelten, wenn ein Mitbeschuldigter/Mitangeklagter einen Verteidiger hat und auch wenn der vermeintlich Verletzte - außerhalb der Fälle der §§ 397 a, 406 g Abs. 3 und 4 StPO - anwaltlich vertreten wird.

10. Der Vorschlag von Graalmann-Scheerer|7, § 140 Abs. 2 StPO um einen Regelbeispielkatalog zu ergänzen, ist begrüßenswert. Unter anderem wird vorgeschlagen, eine Verteidigerbestellung in der Regel vorzunehmen bei drohenden arbeitsrechtlichen und berufsgerichtlichen Maßnahmen, bei drohenden ausländerrechtlichen Maßnahmen (z.B. Ausweisung), bei Einholung von Sachverständigengutachten zur Klärung der Schuld- oder Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten/Angeklagten, bei sprachunkundigen nichtdeutschen Beschuldigten/Angeklagten, wenn zweifelhaft ist, ob die Hinzuziehung eines Dolmetschers ausreicht, die auf sprachlichen Defiziten beruhende eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeit völlig auszugleichen.

11. Die Rechtsprechung wendet § 140 Abs. 2 StPO im Vollstreckungsverfahren entsprechend an. Dies bedarf der Reform, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, dass der inhaftierte Verurteilte bereits durch die Inhaftierung in seinen Verteidigungsmöglichkeitsmitteln erhebliche Einschränkungen erfährt. Es wäre daran zu denken, einen Fall notwendiger Verteidigung für das Vollstreckungsverfahren gesetzlich in Abs. 1 der Vorschrift zu verankern z.B., wenn ein Sachverständigengutachten einzuholen ist, wenn Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB oder § 57 a StGB anstehen, wenn ein Antrag auf Widerruf gewährter Strafaussetzung gestellt wurde.

12. Exkurs: Das Bundesverfassungsgericht betont wiederholt zu Recht die Resozialisierung als Vollzugsziel und leitet dieses Vollzugsziel aus dem Schutz der Menschenwürde, aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip ab.|8 Die Belastung eines Verurteilten mit den Kosten der Pflichtverteidigung, die Verfahrenskosten darstellen - die damit verbundene Kostenlast kann sehr beträchtlich sein -, hemmt die Resozialisierung sowohl während der Haftzeit als auch nach Haftentlassung. In einer Vielzahl von Fällen werden Verfahrenskosten, u.a. nicht unerhebliche Pflichtverteidigerkosten, im Wege der Pfändung des Eigengeldes bzw. im Wege weiterer Zwangsvollstreckung nach Entlassung aus der Haft zwangsweise eingefordert. Im Rahmen einer Reform des Rechts der notwendigen Verteidigung sollte auch eine Regelung dahingehend gefunden werden, dass mit dem Erlass der Kostenlast großzügiger umgegangen wird. Eine gesetzliche Regelung, dass die Bestellung eines notwendigen Verteidigers für den jeweiligen Beschuldigten kostenfrei verbleibt, wäre erstrebenswert.

Lefter Kitlikoglu arbeitet als Strafverteidiger in Frankfurt/Main und ist Mitglied im Vorstand der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger.

Anmerkungen

1 : EGMR 13. März 2003 Nr. 46221/99 Öcalan ./. Türkei in HRRS
2 : Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009, BGBl. I, 2274
3 : BGBl. I, 1805
4 : vgl. Joset, »Anwalt der Ersten Stunde – Ein erstes Fazit eines Verteidigers« in Ergebnisband Strafverteidigertag 2011, 321 ff
5 : vgl. Weider, StV 2010, 390, 391
6 : vgl. »Gemeinsame Empfehlungen der Strafverteidigervereinigungen zur Praxis der Beiordnung von notwendigen Verteidigern ab dem 01.01.2010« in StV 2010, 109/110
7 : StV 2011, 696 ff
8 : z.B. BVerfGE 35, 202 ff und 45, 187 ff

 

Lefter Kitlikoglu:
Notwendige Reform, in: Freispruch, Heft 5, September 2014

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