Strafverteidigertag Rechtspolitik

Juristen im Fadenkreuz der türkischen Justiz

Die falsche Antwort auf eine ideologisierte Justiz.
von Jan Keetman

Wenn heute Juristen in der Türkei aufgrund von Handlungen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit strafrechtlich verfolgt werden, so könnte man sagen: »Selbst schuld!« Lange Zeit sahen sich türkische Juristen nicht als Wahrer eines Rechtes für jeden, sondern als Vollstrecker einer übergeordneten Staatsräson. Symptomatisch waren die Worte, die der neugewählte Präsident des Kassationsgerichtes, Hasan Gerceker im Februar 2008, mitten in einer Phase der höchsten Spannung zwischen dem Militär und Erdogans islamisch-konservativen Regierung in das Kondolenzbuch im Mausoleum Atatürks schrieb: »Mein Vater, vertrauen Sie beim Schutz der Errungenschaften der Republik den türkischen Richtern.«

Opfer dieser Haltung wurden vor allem Linke, Islamisten und generell die Minderheiten. Hasan Gerceker hatte sich seine Ernennung zum höchsten Richter mit einem Urteil gegen den armenischen Journalisten Hrant Dink verdient. Hrant Dink hatte in einem Artikel die Aussage einer armenischen Familie wiedergegeben, die behauptete, Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gökcen sei ein armenisches Waisenkind gewesen. Der Generalstab antwortete mit einem wutschnaubenden Dementi und kurz darauf stand in den Zeitungen ein völlig aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat von Hrant Dink wegen dessen ihn Gerceker zu einer Bewährungsstrafe wegen »Erniedrigung des Türkentums« verurteilte. Durch das Urteil wurde Hrant Dink stigmatisiert und dann von einem nationalistischen Jugendlichen erschossen.

Waren türkische Richter lange Zeit treue Verbündete des Militärs, so wendete sich das Blatt zwischen 2007 und 2010 völlig. Anhänger der Sekte des pensionierten Predigers von der Blauen Moschee, Fethullah Gülen, hatten Polizei, Staatsanwaltschaft und Richterschaft unterwandert. Plätze zum Vorrücken schuf die Regierung Erdogan durch »Reformen« im Namen der Annäherung an die EU.

Dazu gehörte die Einrichtung von »Strafgerichten mit besonderer Zuständigkeit«, die die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte ersetzten. Die diesen Gerichten zugeordneten Staatsanwaltschaften begannen sofort mit der Jagd auf eine in Wirklichkeit wohl nie existente Terrororganisation Ergenekon. Hunderte Gegner von Erdogans AKP wanderten ins Gefängnis. Als Beweismittel dienten Aussagen »geheimer Zeugen«, Funde auf nicht ordentlich beschlagnahmten Festplatten und Waffenfunde, die sich den Angeklagten kaum zuordnen ließen.

Ein weiterer Fall war der angebliche Putschplan »Vorschlaghammer«. Der Kommandeur der 1. Armee, Cetin Dogan, wurde beschuldigt, auf einem Seminar mit hunderten von Offizieren einen Putschplan durchgesprochen zu haben. Der Plan sah vor, während des Freitaggebetes in zwei Istanbuler Moscheen Bomben zu zünden und die so angefachten Unruhen als Vorwand für einen Militärputsch zu gebrauchen.

Am Tag vor dem Beginn des Prozesses wurde der Vorsitzende Richter ausgewechselt. Die Staatsanwaltschaft legte als einziges Beweismittel CDs vor, die den Putschplan enthielten. Die CDs wimmelten von Anachronismen, die weder mit der Zeit in der der Plan angeblich entwickelt wurde, noch mit dem Speicherdatum vereinbar waren. So griffen die Putschisten auf die Besatzung eines Schiffes zurück, das noch nicht gebaut war.

Neben mutmaßlichen (!) Anhängern des Ancien Régimes des Militärs wurden zunehmend kurdische Aktivist*innen Opfer der neuen Justiz. Nach Angaben der Türkischen Stiftung für Menschenrechte, befanden sich 2013 1.302 Personen in diesem Zusammenhang in Untersuchungshaft, gegen annähernd 2.900 liefen Ermittlungen. Zum gleichen Zeitpunkt waren in den Verfahrenskomplexen Ergenekon und Vorschlagshammer etwa 600 Personen zu langjährigen Freiheitsstrafen, inklusive Lebenslänglich ohne Begnadigungsmöglichkeit verurteilt worden.

Alles änderte sich im Dezember 2013. Die Polizei nahm Söhne von vier Ministern unter Korruptionsvorwürfen fest. Einige Wochen später wurden den Medien Aufnahmen von einem Telefongespräch zwischen Erdogan und seinem Sohn Bilal zugespielt. Erdogan gibt Anweisung, schleunigst das Geld aus dem Haus zu bringen, doch der tumbe Junge hat Schwierigkeiten 30 Millionen Euro zu verstecken.

Erdogan machte auf dem Absatz kehrt und behauptete, die Gülen Leute hätten Polizei und Justiz unterwandert und einen »Parallelstaat« gebildet. Die unter Erdogan eingeführten Strafgerichte mit besonderer Zuständigkeit wurden wieder abgeschafft, die anhängigen Verfahren eingestellt, alte Urteile aufgerollt und die Verurteilten auf freien Fuß gesetzt. Zekeriya Öz, der Starstaatsanwalt der Ergenekon-Verfahren, musste ins Ausland fliehen. Erdogan beklagt nun das Unrecht das der »Parallelstaat« dem Militär angetan habe. Juristen, die nicht handeln wie es Erdogan genehm ist, werden in der Öffentlichkeit und von der Justiz verdächtigt, ebenfalls zum »Parallelstaat« zu gehören.

Im Februar 2015 berichteten gleichzeitig drei regierungsnahe Zeitungen über Tweets zwischen einem oppositionellen Abgeordneten und einem ehemaligen Polizisten. Es geht um die angeblich geplante Ermordung von Erdogans Tochter Sümeyye. Der gramgebeugte Vater solle so von Wahlkampfauftritten abgehalten werden; Auftraggeber seien die USA und Israel. Die Tweets wurden auf einer Schreibmaschine mit schmierendem Farbband abgeschrieben und so den Lesern präsentiert.

Nachdem eine technische Untersuchung ergeben hatte, dass die Tweets gefälscht waren, stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Postwendend wurde vom »Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte« eine Untersuchung gegen die beiden ermittelnden Staatsanwälte eingeleitet.

In solchen Verfahren hängt auch über den Richtern und Staatsanwälten wie ein Schwert die Gefahr, selbst auf der Anklagebank zu landen. Dies gilt um so mehr, als die wirklichen Rechtsbeugungen der Pro-Gülen-Juristen, die es zweifellos gab, nicht Punkt für Punkt aufgearbeitet werden, geschweige denn die politische Verantwortung hierfür. Stattdessen wurden unscharf definierte Organisationsdelikte zum bevorzugten Instrument der Erdogan-Justiz.

Solche unscharfen Definitionen ermöglichen es auch, die Grenze zwischen anwaltlicher Tätigkeit und Unterstützung oder Leitung terroristischer Organisationen zu verwischen. So wurde gegen den Vorsitzenden der Anwaltskammer von Istanbul, Professor Dr. Ümit Kocasakal ein Verfahren wegen »Beeinflussung der Justiz« eröffnet. Man könnte meinen, dass – so lange keine an sich illegalen Methoden wie Bestechung ins Spiel kommen – die Beeinflussung der Justiz eine wesentliche Aufgabe der Anwaltschaft sei. Der konkrete Anknüpfpunkt war hier, dass Kocasakal und andere Kollegen im bereits erwähnten Prozess um den vermeintlichen Putschplan »Vorschlagshammer« Protest gegen das Gericht einlegten, weil dieses Gutachter nicht hören wollte. Ausdruck der Kriminalisierung der Verteidigung waren auch Mikrofone, die über die Reihen der Verteidiger und Angeklagten gehängt wurden, um ihre Gespräche während der Verhandlung aufzunehmen.

Im sogenannten KCK-Verfahren gegen kurdische Aktivisten, wurde eine Gruppe von 46 Anwälten zusammen mit einem Journalisten, einer Sekretärin und zwei Fahrern angeklagt. Sie sollen ein »Führungskomitee« gebildet haben, das von der Staatsanwaltschaft als »bewaffnete Organisation« eingestuft wird. Der Strafrahmen liegt zwischen siebeneinhalb und 22,5 Jahren.

Kommen wir auf die polemische Bemerkung am Anfang zurück. Sind türkische Juristen wirklich selber schuld, wenn sie selbst mit Verfahren überzogen werden? Angefangen mit Atatürks »Unabhängigkeitsgerichten«, über die haarsträubende Behandlung von Oppositionellen in der Putschzeit, bis in die jüngste Vergangenheit war die Justiz in der Türkei immer extrem politisiert. Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass der Erdogan-Staat ein Gewohnheitsrecht hat, so weiterzumachen.

Jan Keetman lebt und arbeitet als Journalist in Istanbul.

 

Jan Keetman: Türkische Jursit*innen im Fadenkreuz der Justiz, in: Freispruch, Heft 8, Frühjahr 2016

Alle Rechte am Text liegen beim Autor - Nachdruck und Weiterverbreitung nur mit Zustimmung des Autoren.