Strafverteidigertag Rechtspolitik

Alternativen zu lebenslang

Die Strafverteidigervereinigungen fordern seit vielen Jahren die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, 2016 erschien beim Organisationsbüro ein Policy Paper zu demThema. An der evangelischen Akademie Loccum fand nun eine Fachtagung zur lebenslangen Freiheitsstrafe statt. Hans Holtermann berichtet.

 

»Experte fordert Obergrenze für Mord-Strafen« – dass BILD unter dieser Schlagzeile am 18.06.2017 im Internet über die Ergebnisse einer Tagung der Evangelischen Akademie in Loccum berichtet, dürfte ein seltener Ausnahmefall sein. Dabei hätte die Tradition rechtspolitischer Tagungen in der Akademie durchaus öfter Anlass für eine öffentliche Berichterstattung sein sollen.

Diesmal hatten sich in Loccum vom 16. - 18.06.2017 eine Reihe von Experten und rechtspolitisch Interessierten getroffen, um über das »Für und Wider der lebenslangen Freiheitsstrafe« zu diskutieren. Eröffnet wurde die Tagung von Rechtsanwalt Bertram Börner aus Hannover, der auf die Aktualität des Themas wegen der anstehenden Reform der Tötungsdelikte hinwies. Neu sei die Forderung nach Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe allerdings nicht: Schon 1955 hatte Sarstedt auf dem Deutschen Juristentag erklärt, dass diese unbegrenzte Strafe nicht mehr »unserer heutigen Auffassung« entspreche.

Professorin Dr. Gabriele Kett-Straub (Universität Erlangen-Nürnberg) führte dann in das Thema ein. In der Bundesrepublik gibt es jährlich ca. 90 Verurteilungen zu lebenslanger Haft, derzeit haben ca. 1.800 Inhaftierte eine solche Strafe zu verbüßen. Diese Zahl ist aber langsam rückläufig. Die durchschnittliche Vollzugsdauer beträgt mehr als 19 Jahre. Das BVerfG hat 1977 geprüft, ob das Resozialisierungsgebot der lebenslangen Freiheitsstrafe entgegenstehen könne, sofern diese irreparable Schäden verursache. Die dazu angehörten Sachverständigen waren sich aber uneins; zudem trat damals das Strafvollzugsgesetz in Kraft, das den Grundrechtsschutz der Gefangenen gewährleisten sollte. Deshalb hat das BVerfG die Gefahr irreparabler Schäden für die Gefangenen nicht feststellen können. Es verpflichtete den Gesetzgeber zur Beobachtung, der jedoch untätig blieb.

Ausführlich stellte Kett-Straub dann die Entwicklung früherer Strafarten hin zur lebenslangen Freiheitsstrafe dar. Diese war im römischen Recht als Gnadenakt nach Todesstrafen entstanden. Rational könne die lebenslange Freiheitsstrafe heute nicht mehr begründet werden. Höhere Rückfallquoten als bei anderen hohen Strafen sind nicht festzustellen. Allerdings spielten auch im Strafrecht Gefühle und Symbole eine Rolle; deshalb müsse die lebenslange Freiheitstrafe als »Leitwährung« beibehalten werden.

Anschließend stellten zwei Vorsitzende von Schwurgerichtskammern ihre Erfahrungen dar, Rainer Drees vom LG Düsseldorf und Dr. Ralf-Michael Polomski vom LG Braunschweig. Nach Drees wird öfter die Verhängung von »lebenslang« erwartet als dies dann tatsächlich geschieht. Nebenkläger würden von ihren Anwälten offenbar schlecht beraten und verstünden deshalb oft nicht, warum »nur« zeitige Freiheitstrafen verhängt werden. Die Schöffen gingen davon aus, dass lebenslang tatsächlich nur 15 Jahre Haft bedeute. Für hochgefährliche Täter sei diese Höchststrafe weiterhin erforderlich, auch wenn sie nach der Mindestverbüßungsdauer faktisch eine Maßregel darstelle. Aus seiner Sicht gebe es bei den Gerichten die Tendenz, »lebenslang« zu vermeiden. Positiv hob er hervor, dass der Generationswechsel bei den Richtern dazu geführt hat, dass mit der Anzahl verhängter lebenslanger Strafen nicht mehr renommiert wird.

Polomski bestätigte, dass lebenslange Haft nur bei Mordtaten verhängt wird. Die absolute Strafandrohung lasse aber keine Ausnahmen zu, selbst wenn der Täter die noch unbekannte Tat selbst offenbart habe und er ohne sein offenes Geständnis nicht hätte verurteilt werden können. Es gebe aber immer wieder Fälle, in denen aus seiner Sicht die lebenslange Strafe angemessen sei.
Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier (Universität Hannover) stellte dann die Ergebnisse seiner Aktenuntersuchung über die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafen in den Jahren 2013/14 vor. Danach dominieren die Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe, gefolgt vom Merkmal der Habgier. Die besondere Schwere der Schuld wird in 15 Prozent der Urteile festgestellt, insbesondere wenn mehrere Mordmerkmale vorliegen. Wenn Strafmilderungen erfolgen, geschieht dies zu 75 Prozent über die Feststellung einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit (§ 21 StGB).
Es gibt einen hohen Anteil an Lebenslänglichen im Strafvollzug, auch wenn die Zahlen jetzt leicht rückläufig sind. 50 Prozent dieser Verurteilten haben keine Vorstrafen; Mord steht also nicht am Ende einer langen kriminellen Karriere. Die Rückfallquote ist deutlich geringer als bei anderen Strafgefangenen; bei neuen Verurteilungen gibt es fast immer nur Geldstrafen. Ein Kausalzusammenhang zwischen der Tat, die zu der lebenslangen Strafe geführt hat, und späteren Taten ist nicht festzustellen.

Die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 57a StGB ist kein kriminalpolitisches Allheilmittel. Mehr als zehn Prozent der Verurteilten versterben im Vollzug. Rechtspolitisch muss über Alternativen zur lebenslangen Freiheitsstrafe nachgedacht werden. Das ist unlösbar verbunden mit der Reform der Tötungsdelikte. Als Eckpunkte einer möglichen Reform schlug Meier vor, zumindest neben der lebenslangen Freiheitsstrafe auch zeitige Freiheitsstrafe vorzusehen. Wenn es weiterhin lebenslang geben soll, muss der Gesetzgeber hierfür klare Kriterien bestimmen. Die Klausel der besonderen Schuldschwere sei zu streichen, zumindest müssten gesetzlich Gründe benannt werden, die eine längere Mindestverbüßungszeit rechtfertigen. Als Grenze für die zeitige Freiheitsstrafe bei Tötungsdelikten schlug er 20 Jahre vor, sofern es sich nicht um mehrere Taten handelt.

Der Leiter der JVA Celle, Thomas Papies, stellte die Situation der dort mit lebenslanger Freiheitsstrafe Inhaftierten dar. Diese sind im Schnitt deutlich älter als andere Gefangene. Therapeutische Maßnahmen und Lockerungen des Vollzuges erfolgen üblicherweise erst nach zehn Jahren Haftdauer. Die materielle Situation der Lebenslangen ist bei der Entlassung (wenn sie denn stattfindet) schlecht, die meisten sind wegen des geringen Verdienstes in der JVA auf staatliche Grundsicherung angewiesen.

Sehr eindrucksvoll schilderte anschließend Dr. Tobias Müller-Monning, Gefängnisseelsorger der JVA Butzbach, die Situation der lebenslang Inhaftierten. Schon die Architektur der Haftgebäude wirke bedrückend, sie führe zu einer Deprivation von Sinneseindrücken. Den Gefangenen fehlt die Perspektive, es gibt für sie keinen Anreiz, in außenorientierten Formen leben zu wollen. Sie verlieren ihr Selbstbild, Fotos von sich selbst sind bei ihnen nicht zu finden. Die langjährige Inhaftierung führe zu Kontaktabbrüchen und Entsozialisierung, dagegen gebe es eine Sozialisierung in der Subkultur der Haft. Die letzte Konsequenz sei bei einigen Gefangenen, in der JVA bleiben zu wollen, weil sie meinen, es draußen nicht mehr zu schaffen. Sie hätten selbst keine Perspektive mehr. Auch Müller-Monning kritisierte, dass eine Verbüßung von mehr als 15 Jahren kein Schuldausgleich mehr sein könne, sondern allenfalls der Prävention diene.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Helmut Pollähne (Bremen) wies in seinem Vortrag darauf hin, dass lebenslang eine absolute Strafe ist, eine Strafzumessung findet anders als sonst nicht statt. Im Kern stimmt die immer wieder zu hörende Behauptung nicht, lebenslang entspreche 15 Jahren Freiheitsentzug. Viele Urteile würden bis zum bitteren Ende vollstreckt, das sei dann »Todesstrafe auf Raten«. Die Reform der Tötungsdelikte sei zum Glück gescheitert. Es wäre nur eine sprachliche Entnazifizierung gewesen, sonst hätte es keine Verbesserungen gegeben, z.T. sogar Verschlechterungen.

Lebenslang sei eine Strafe mit Sicherungsüberhang; eine Rückfallgefahr werde unterstellt, die mit empirischen Erkenntnissen nicht in Einklang steht. Die Rückfallquote (einschlägiger Taten) liegt bei unter einem Prozent. Letztlich ist lebenslang eine Vernichtungsstrafe, sie macht den Bürger zum Objekt. Diese absolute Strafe passt nicht zum begrenzenden System des Schuldstrafrechts. Zur Generalprävention sei sie nachweislich nutzlos.

Pollähne wies auf erhebliche Regelungsdefizite hin: Der Vollzug müsste eigentlich die Fortdauer der Haft entbehrlich machen. Erforderlich sei eine Anpassung des Vollzugs an das Abstandsgebot, das für die Sicherungsverwahrung gilt, jedenfalls bei Vollstreckung des Sicherungsüberhanges. Das Erfordernis der Zustimmung des Gefangenen zur Entlassung müsse - wie bei der Sicherungsverwahrung - abgeschafft werden. Bei Prüfung der vorzeitigen Entlassung müsse vom Grundsatz der Ungefährlichkeit ausgegangen werden.

Mit Einführung der Bewährungsmöglichkeit des § 57a StGB sank offenbar die Hemmschwelle, lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen, die Zahl der Verurteilungen stieg an. Die Verurteilten leiden unter der Ungewissheit, wie lange sie in Haft bleiben müssen. Lebenslang heißt für sie 15 Jahre plus X. Erst zehn bis 13 Jahre nach dem Urteil erfahren sie, wann sie frühestens mit einer Entlassung rechnen können. Diese Unbestimmtheit ist eine Doppelbestrafung; sie führt oft zu psychischen Schäden in der Haft wie Persönlichkeitsverfall, Lethargie, Abstumpfung und Lebensuntüchtigkeit. Zehn bis 20 Prozent der zu lebenslanger Haft Verurteilten sterben im Gefängnis, ein weiterer erheblicher Teil stirbt kurz nach der Entlassung (die wegen des bevorstehenden Todes erfolgt ist).

Der Theologe Prof. Dr. Dr. Klaas Huizing (Universität Würzburg) wies darauf hin, dass auch bei schrecklichen Taten Alternativen zur Bestrafung möglich seien. In Südafrika habe das mit der Einrichtung der Wahrheitskommission funktioniert und zur Befriedung beigetragen. Gerade der Umgang mit Sonderfällen und Höchststrafen zeige den Zivilisierungsgrad einer Gesellschaft. Die »Scham« des Täters habe besondere Bedeutung und müsse ihm möglich sein, werde im Gefängnis aber eher unmöglich gemacht. Das Hoffnungsprinzip sei von ethischer Bedeutung, die lebenslange Freiheitsstrafe stehe damit nicht im Einklang.

Erste Ergebnisse einer Untersuchung zur Punitivität in Deutschland und Frankreich stellte dann Dr. Fabien Jobard (Centre Marc Bloch Berlin) vor. Seit den achtziger Jahren gebe es ein stärkeres Bedürfnis der Bürger nach Schutz und Sicherheit, der Staat greife dies auf. Allerdings sei beispielsweise die Zustimmung zur Todesstrafe seit 1950 stark gesunken (von 55 Prozent auf unter 15 Prozent). Bei Tests anhand von Fallbeispielen habe sich gezeigt, dass die Bürger häufig gemeinnützige Arbeit als angemessene Strafe wählten. Markante Unterschiede in der Punitivität zwischen Deutschland und Frankreich seien nicht festzustellen.

Prof. Dr. Dirk van Zyl Smit (University of Nottingham) wies darauf hin, dass weltweit etwa 400.000 Personen eine lebenslange Haftstrafe verbüßen, davon allein 159.000 in den USA. Der EGMR verlange, dass jeder die Chance auf die Rückkehr in die Gesellschaft haben müsse, deshalb sei eine Aussicht auf eine Entlassung notwendig. Lebenslang als obligatorische Strafe gebe es in Europa nur in Deutschland und Großbritannien, das sollte reformiert werden. Es brauche jedenfalls eine klare Regelung für die Entlassung nach 15 Jahren. Wenn der Verurteilte dann nicht entlassen werde, müsse er mit den Sicherungsverwahrten gleichgestellt werden.

Am Schlusstag fasste VRiOLG Dr. Dietrich Janßen (Oldenburg) die Argumente gegen die lebenslange Freiheitsstrafe zusammen: Als absolute Strafe verbietet sie dem Gericht, Erwägungen über die Strafzumessung anzustellen. Die Strafdauer ist unbestimmt, dies führt bei den Gefangenen zu Perspektivlosigkeit und verstärkt Nachteile durch die Inhaftierung. Die Persönlichkeit des Gefangenen wird beschädigt, was als »Vernichtungsstrafe« bzw. »Todesstrafe auf Raten« bezeichnet wurde. Die Mindestverbüßungszeit werde regelmäßig überschritten. Der Sicherungsüberhang benachteilige »LL-er« gegenüber Sicherungsverwahrten.

Die Alternative sei die Einführung der zeitigen statt der lebenslangen Freiheitsstrafe, die bei 15 - 20 Jahren liegen könne. Zu klären sei dabei, ob es eine Mindestverbüßungsdauer geben sollte, wie die Strafaussetzung zur Bewährung zu regeln sei, und ob es einen zwingenden Vorbehalt der oder gar eine automatische Sicherungsverwahrung geben solle. Wenn die Abschaffung von lebenslang nicht durchsetzbar sei, müsse zumindest ein minder schwerer Fall des Mordes geregelt werden. Die Reform der Tötungsdelikte sei ohnehin zwingend. Außerdem müsse die Gestaltung des Vollzuges frühzeitig und regelmäßig von der Strafvollstreckungskammer geprüft werden, die der JVA dann auch Vorgaben für den weiteren Vollzug machen können muss.

Nach den einzelnen Beiträgen fand jeweils eine intensive Diskussion statt. In der abschließenden Generaldebatte bestand unter den Teilnehmern Einigkeit, dass lebenslang als absolute Strafe abgeschafft werden muss. Diese Sonderstrafe ist weder general- noch spezialpräventiv erforderlich. Eine Strafverbüßung von mehr als 15 Jahren ist zum Schuldausgleich nicht erforderlich. Die darüber hinausgehende Haft stellt faktisch Sicherungsverwahrung dar, ohne dass sie angeordnet worden wäre.

Die Reform ist dringlich und muss mit der ebenso überfälligen Reform der Tötungsdelikte einhergehen. Den sehr engagierten Vorträgen und Diskussionsbeiträgen ist zu wünschen, dass nicht nur BILD, sondern auch die Rechtspolitik das Thema aufgreift und endlich angeht!

Hans Holtermann ist Strafverteidiger in Hannover und Mitglied im Vorstand der Vereinigung niedersächsischer und Bremer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger.

Hans Holtermann: Alternativen zu lebenslang, in: Freispruch, Heft 11, September 2017

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