Policecamp Hamburg

Ich bin ein Anwohner, holt mich hier raus!
Über Hamburger Gefahrenbereiche schreibt Annika Hirsch

 

Annika Hirsch: Policecamp Hamburg, in: Freispruch, Heft 4, Januar 2014

Anfang Januar dieses Jahres bekamen große Teile der Bevölkerung Hamburgs eine Idee davon, was einen Polizeistaat ausmachen könnte. Der Grundstein dafür war schon im Jahr 2005 gelegt worden, und zwar mit Verkündung des »Gesetzes zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit in Hamburg«. Seitdem erlaubt § 4 Abs. 2 S. 1 HmbPolDVG der Polizei, in einem bestimmten Gebiet Personen kurzfristig anzuhalten, zu befragen, ihre Identität festzustellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen, »soweit auf Grund von konkreten Lageerkenntnissen anzunehmen ist, dass in diesem Gebiet Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden und die Maßnahme zur Verhütung der Straftaten erforderlich ist.« Auf dieser Rechtsgrundlage hat sich die Polizei unter Berufung auf vermeintliche Angriffe auf Polizeidienststellen im Dezember 2012, bei denen »Polizeibeamte zum Teil erheblich verletzt worden« seien, selbst die Befugnis zur Willkür in einem nahezu vier Stadtteile umfassenden Areal gegeben. Weil sie Anhaltspunkte dafür zu haben meinte, dass irgendwo, irgendwann, irgendwelche »erheblichen« Straftaten begangen werden könnten. Vereinzelte Ereignisse, deren Hergang in polizeilichen Pressemitteilungen – wie inzwischen bekannt ist – tendenziös bis falsch dargestellt worden waren, mussten herhalten für uferlose Grundrechtseingriffe gegenüber rund 70.000 Anwohnern, Besucher nicht eingerechnet.

Dafür gab es viel Applaus. Wer sich kritisch zur Legitimität der polizeilichen Grundrechtseingriffe äußerte, dem wurde regelmäßig unterstellt, er billige gewaltsame Angriffe auf Polizeibeamte. Scharfmacher wie die DPolG-Funktionäre Rainer Wendt und Joachim Lenders polemisierten wie üblich und wiesen darauf hin, dass die Polizei auch Schusswaffen einsetzen könne. Innensenator Michael Neumann (SPD) verglich die Gefahrengebietskontrollen gar mit allgemeinen Verkehrskontrollen, über die sich ja schließlich auch keiner beschwere. Bürgermeister Olaf Scholz machte die Beendigung des Zustands von der utopischen Forderung abhängig, »dass sich alle an Recht und Gesetz halten.« Angesichts solcher Law-and-Order-Parolen war es schon fast erfreulich, dass nicht gleich ganz Hamburg zum Dauergefahrengebiet erklärt wurde.

Immense Unterstützung erhielten Scharfmacher und Schwarzweißdenker durch Medien, die sich anfangs vollkommen unkritisch an die Seite der Polizei stellten und ungeprüft deren Pressemitteilungen übernahmen. Und zwar sowohl bezogen auf die mitgeteilten tatsächlichen Umstände (Anschläge auf Polizisten!), als auch bezogen auf die rechtliche Legitimität der polizeilichen Reaktionen (»Das kann sich ein Rechtsstaat nicht gefallen lassen!«). Da war es wieder, dieses Urvertrauen in die Legitimität sämtlicher Maßnahmen deutscher Sicherheitspolitik und in die Polizei als neutrale Informationsquelle. Ein Taxifahrer türkischer Herkunft brachte es auf den Punkt: »Das sieht hier genauso aus wie bei den Protesten um den Gezi-Park. Warum ist die Polizei dort böse und hier gut?«

Bereits 24 Stunden nach Einrichtung des Gefahrengebiets waren 263 Personen von zwei Polizeihunderschaften in Vollmontur überprüft und 62 davon mit einem Aufenthaltsverbot für rund acht Hektar Stadtmitte belegt worden. Viele Hamburger, angestachelt durch lokale Boulevardmedien, fanden auch das noch in Ordnung. Aus der Distanz stellte sich die Lage manch einem bedenklicher dar. Oder wie sonst kann es passieren, dass ein Rentner aus Bayern, eingefleischter CSU-Wähler, bei seinem in Hamburg lebenden Sohn anruft und ungläubig fragt: »Und das lasst ihr Euch gefallen?«

So langsam drehte sich aber auch in Hamburg der Wind. Videomaterial und Zeugenberichte lieferten Anlass zu Zweifeln an den polizeilichen Darstellungen, auf die der Ausnahmezustand gestützt worden war. Zum Teil musste die Polizei ihre ursprünglichen Versionen korrigieren.
Anwohner fragten sich vor Verlassen des Hauses, welche Garderobe sie verdächtig machen könnte und was sie im Fall einer Kontrolle lieber nicht mit sich herumtragen wollten. Mitgeführte Schals (Vermummungsmaterial!), von Silvester übrig gebliebene Knallkörper (Sprengstoff!), zufällig in der Tasche vergessene Korkenzieher (Waffe!), all das waren mögliche Verdachtsmomente. Im Zweifel war den Polizeikräften Auskunft darüber zu erteilen, wohin man des Weges sei, ganz egal, ob das Ziel der eigene Betrieb, eine Arztpraxis oder ein Anwaltsbüro war.

Vor allem im Stadtteil St. Pauli wollten das viele Menschen nicht hinnehmen. Zum Protestsymbol gewordene Klobürsten waren aus den abendlichen Straßen nicht mehr wegzudenken. Täglich gab es überwiegend friedliche Aktionen wie Gefahrengebietsspaziergänge, Fahrraddemos, Kissenschlachten oder
Klobürstenflashmobs.

Zu nachdenklichen oder gar selbstkritischen Reaktionen seitens Polizei und Politik führte das nicht. Anstatt die andauernden Proteste als legitimes Aufbegehren gegen zu krasse Grundrechtseinschränkungen zur Kenntnis zu nehmen, mussten sie als Beleg dafür herhalten, dass die Grundrechtseinschränkungen richtig seien. Für jeden gezündeten Silvesterböller und jede sichergestellte Klobürste dankbar betonten Polizei und Politik, wie notwendig der Ausnahmezustand doch sei. Er war längst zur Grundlage seiner selbst geworden.

Den anhaltenden Protesten und zunehmend kritischer Berichterstattung im In- und Ausland wird es zu verdanken sein, dass sich die Obrigkeit schon an Tag 6 gezwungen sah, aus dem großen Gefahrengebiet drei kleinere »Gefahreninseln« rund um drei Polizeidienststellen zu machen und, als ein Ende der Proteste immer noch nicht abzusehen war, an Tag 10 die Aufhebung sämtlicher Gefahrengebiete zu verkünden. Offiziell wurden sowohl die Verkleinerung als auch die Aufhebung damit begründet, dass die Maßnahme »erfolgreich« gewesen sei. Man habe nämlich »potenzielle Störer erkannt und dadurch die Ausübung schwerer Straftaten weitgehend unterbunden«. Als ob in irgendeiner Weise habe festgestellt werden können, dass ohne die Kontrollen weniger Straftaten begangen worden wären. Mindestens ebenso gute Gründe gibt es, in die entgegen gesetzte Richtung zu spekulieren: Waren durch die Aufrechterhaltung der verfassungsrechtlich höchst problematischen Gefahrengebiete nicht eher die Gefahren für Anwohner, Touristen und Polizeibeamte erhöht worden?

Schon 2012 hatte der Umgang des SPD-Senats mit Themen wie Flüchtlings- und Wohnungspolitik ungewöhnlich viele Menschen auf die Straße getrieben. Die jüngsten Erfahrungen mit Hamburgs Polizeirecht und dessen willkürliche Anwendung werden die Empörung nicht kleiner machen. Bürgermeister Scholz aber hält unbeirrt an seiner Linie fest: Es sei Aufgabe der SPD, für Recht und Ordnung zu stehen. »Leute, die das nicht mögen, finden es eben nicht gut.« Erschreckend ist, dass er vermutlich damit durchkommen wird. Und zwar selbst dann, wenn die Hamburgische Verwaltungsgerichtsbarkeit im Nachhinein feststellt, dass hier eben nicht nach Recht und Gesetz gehandelt wurde.

 

Rechtsanwältin Annika Hirsch ist ehemalige Bewohnerin einer Gefahreninsel. Sie ist Mitglied im Vorstand der Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger.

 

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