Strafverteidigertag Rechtspolitik

(Nichts) Neues aus Europa

Aktuelle Entwicklungen der europäischen Strafrechtsetzung
zusammengefasst : von Carl W. Heydenreich

 

Druckversion

Aus Brüssel kommt wohl stets das Gleiche: Während über Verfahrensstandards weiter debattiert wird, baut der Europäische Rat an einer Sicherheitsarchitektur, die sich allein an Strafverfolgungsinteressen und der Effektivierung der Beweisgewinnung orientiert. Beschuldigten- und Verteidigungsrechte bleiben auf der Strecke; dort, wo nationale Garantien existieren, werden sie auf europäischer Ebene unterlaufen.

So auch mit aktuellen Vorhaben, die sich gegenwärtig im sog. Trilog, der Abstimmung also von Rat und Parlament unter Beteiligung der Kommission befinden. Dies ist zum einen die Europäische Ermittlungsanordnung, die, dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen folgend, grenzüberschreitende Ermittlungen in einem dem Europäischen Haftbefehl vergleichbaren Verfahren vorsieht, ohne dass im Vollstreckungsstaat die im Anordnungsstaat getroffene Entscheidung angefochten oder sachlich überprüft werden könnte [siehe dazu den Schwerpunkt der letzten Ausgabe]. Aufgrund der unterschiedlichen Eingriffsvoraussetzungen der Mitgliedsstaaten drohen Forumshopping, Absenkung des Rechtsschutzniveaus auf Mindestmaß und Umgehung des Richtervorbehalts. Der deutsche Bundestag hatte sie aus diesen Gründen bereits im Oktober 2010 fraktionsübergreifend abgelehnt. Das Europäische Parlament fordert nun vor Zustimmung die Aufnahme weiterer Ablehnungs- und Überprüfungsmöglichkeiten im Vollstreckungsstaat, eine Eingrenzung des Anwendungsbereichs, die Durchsetzung von Datenschutzregeln und, gestützt auf Erfahrungen beim Europäischen Haftbefehl, die strenge Bindung beider Staaten an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

Die Richtlinie zum Recht auf Rechtsbeistand im Strafverfahren hat ihren Ursprung in Maßnahme C des »Fahrplans zur Stärkung der Rechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren« (sog. Roadmap) des Rates von November 2009. Während dort Regelungen zur Notwendigen (Pflicht-) Verteidigung noch vorgesehen waren, findet sich schon im Kommissionsvorschlag hierzu nichts mehr. Der Vorschlag des Rates, der Gegenstand der Beratungen im Trilog ist, stellt weitergehend den Zugang zum Rechtsbeistand wie auch die Vertraulichkeit des Verteidigergesprächs für nicht näher eingegrenzte Sachverhalte generell unter Vorbehalt und nimmt zusätzlich Beschuldigte »geringfügiger« Straftaten vom Recht auf Rechtsbeistand aus. Eine Rechtsposition, die in eklatantem Widerspruch zur ständigen Spruchpraxis des EGMR steht. In der Konsequenz würde aus der Gewährleistung des Rechts auf Verteidigung eine Erlaubnisnorm für Staaten werden, den Zugang zu Verteidigung und die Vertraulichkeit des Verteidigungsverhältnisses für Ermittlungszwecke zu unterlaufen. Sämtliche Verteidigerorganisationen haben den Ratsvorschlag vehement abgelehnt. Das Europäische Parlament teilt diese Position; es fordert den einschränkungslosen Zugang zu vertraulicher Verteidigung, das Recht auf Anwesenheit bei polizeilichen Vernehmungen und darauf, Haftbedingungen einer Überprüfung zu unterziehen.

Weit fortgeschritten scheinen die Planungen für eine Europäische Staatsanwaltschaft mit Zuständigkeit für Delikte gegen die Union und ihre Interessen. Wer eine Europäische Staatsanwaltschaft schaffen will, der muss sich aber auch Gedanken über eine Europäische Strafverfahrensordnung und etwa einen Europäischen Ermittlungsrichter machen. Mit der Teilhabe an einem solchen Diskussionsprozess könnten Weichen für eine spätere Europäische Strafprozessverfassung gestellt werden. Dies könnte in naher Zukunft ein Weg sein, jenseits festgefahrener Diskussionen rechtsstaatlich belastbare europäische Verfahrensregeln zu formulieren.

Eine Überarbeitung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, der nach 9/11 im Hauruck-Verfahren gefasst wurde, steht weiter aus. Der Bericht der Kommission vom 11. April 2011 über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses mahnt insbesondere eine Bindung der Staaten an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an.

Kommt aus Brüssel also nichts Neues, so kommt aus Berlin nichts Gutes. Ungeachtet des nahezu einstimmigen Bundestagsvotums hat die Bundesregierung am Entwurf des Rates zur Europäischen Ermittlungsanordnung weitergearbeitet. Zugleich ist ein nahezu vollständiger Stillstand bei der Umsetzung solcher Europäischer Rechtsakte zu beklagen, die eine Verbesserung der Positionen von Beschuldigten oder Verurteilen zum Gegenstand haben (so die Rahmenbeschlüsse zur gegenseitigen Anerkennung bei der Überwachung von Bewährungsentscheidungen oder Haftverschonungsauflagen und bei der Vollstreckung von Freiheitsstrafen). Während hier Nachbarstaaten wie die Niederlande bereits nationale Regelungen in Kraft gesetzt haben, liegen aus Berlin nicht einmal Referentenentwürfe vor. Dies wiegt umso schwerer, als hierdurch auf ganz andere Art zu Lasten der von Strafverfahren betroffenen Bürger ein Europa der zwei Geschwindigkeiten geschaffen wird. Während der Rahmenbeschluss zur gegenseitigen Anerkennung bei der Vollstreckung von Freiheitsstrafen dem in den Niederlanden Verurteilten ein Anrecht auf Verbüßung im Heimatstaat verschafft, muss der in Deutschland Verurteilte nach wie vor seine Hoffnung auf die Anwendung überholter Übereinkommen setzen. Immerhin vorgelegt wurde jetzt im Dezember ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren, der die Richtlinien vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und vom 22. Mai
2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren in deutsches Recht überführen sollen.|1

Dabei wird der deutsche Gesetzgeber noch mehr gefordert sein, der europäischen Entwicklung gerecht zu werden. So verträgt sich eine Regelung wie die des § 244 Abs. 5 S. 2 StPO zum Auslandszeugen nicht mit der Europäischen Ermittlungsanordnung und den dort formulierten Regelungen zum Beweistransfer. Auch § 57 StGB wird der deutlich stärkeren Flexibilisierung bei der (Rest-) Strafaussetzung bedürfen, wenn der Rahmenbeschluss über die gegenseitige Anerkennung bei der Vollstreckung von Freiheitsstrafen in deutsches Recht umgesetzt wird. Es wird gelten, einer verfassungswidrigen Übervollstreckung bei Verbüßung ausländischer Erkenntnisse zu begegnen. Wirken im Ausland (Griechenland, Großbritannien) verhängte Strafen auf uns Deutsche oft überzogen, so gibt es dort andererseits Vollstreckungsregelungen, die eine Strafaussetzung oft schon weit vor der Halbstrafe vorsehen.

Der Autor ist Mitglied im Vorstand der Strafverteidigervereinigung NRW e.V..

1 : http://www.bmj.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2012/20121219_Staerkung_der_
Verfahrenrechte_von_Beschuldigten.html

Carl W. Heydenreich:
(Nichts) Neues aus Europa, in: Freispruch, Heft 2, Januar 2013

Alle Rechte am Text liegen beim Autor - Nachdruck und Weiterverbreitung nur mit Zustimmung des Autoren.