Strafverteidigertag Rechtspolitik

Die europäische Ermittlungsanordnung

Baustein eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ?
von Carl W. Heydenreich

 

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Grenzenlos zu ermitteln, ist seit jeher der heimliche Traum der Strafverfolger in Europa. Denn »grenzenlos« bedeutet, ohne Rücksicht auf nationale Grenzen auch im Ausland schnell, direkt und unmittelbar zugreifen zu können - aber auch, juristische Hürden im Innern durch ein Ausweichen auf niedrigere Standards im Ausland zu umgehen.
Dieser Traum könnte mit der Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) bald wahr werden - und für Strafverteidiger/innen zum Albtraum.

Seit langem bemüht sich die europäische Strafrechtssetzung um grenzüberschreitende Beweiserhebung. Die Sicherung von Beweismitteln im Ausland war bereits Gegenstand des Rahmenbeschlusses vom 22. Juli 2003|1. Da deren Übermittlung aber weiterhin auf den herkömmlichen Wegen der Rechtshilfe zu erfolgen hatte, war der praktische Nutzen gering. Die darauf folgende Europäische Beweisanordnung von 2008|2 war ebenfalls zu kurz gegriffen. Weil sie sich allein auf Sachen, Schriftstücke und Daten erstreckte, laufende Ermittlungen aber nicht erfasste, blieb ihre Bedeutung gering, zumal sie nicht von allen Staaten (wie bspw. Deutschland) ratifiziert wurde. Unter spanischer Ratspräsidentschaft wurde dann im April 2010 die Initiative für eine EEA eingebracht|3, die Grundlage des jetzigen, deutlich weiter reichenden Ratsvorschlages vom 21. Dezember 2011|4 ist. Im Mai 2012 hat nun der zuständige LIBE-Ausschuss* des Europäischen Parlaments in einer ersten Orientierungsabstimmung zwar zahlreiche Änderungsbegehren angemeldet|5, dem Berichterstatter, dem
portugiesischen EVP-Abgeordneten Nuno Melo, aber gleichwohl das Mandat für die anstehenden Verhandlungen mit dem Rat erteilt. Eine Verabschiedung noch in diesem Jahr ist beabsichtigt. Der deutsche Bundestag hatte im Oktober 2010 in einer interfraktionellen Entschließung die EEA übrigens einhellig abgelehnt. Die amtierende Bundesregierung treibt das Vorhaben im Rat dennoch aktiv voran.

Das Tempo, das die Regierungen der Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung einer derart heiklen Regelung vorlegen, ist nicht ohne Grund. Implementiert werden soll eine Ermittlungsanordnung, die richterliche Kontrollmechanismen weitgehend aushebelt. Denn zusammengefasst ermöglicht die EEA in der jetzt vorgeschlagenen Form, dass nach eigenem Recht zuständige Polizeibeamte eines Mitgliedsstaates mit staatsanwaltschaftlicher Zustimmung die Vornahme aller - auch grundrechtsintensiver - Ermittlungseingriffe im jeweils anderen Mitgliedsstaat anordnen und sich die gewonnenen Erkenntnisse übermitteln lassen können, ohne dass einem dort nach nationalem Recht ggfs. zuständigen Richter eine umfassende sachliche Überprüfungsmöglichkeit eröffnet wäre. Erfolgen soll dies mittels Formularvordrucken in einem dem Europäischen Haftbefehl vergleichbaren Procedere und befreit vom Korsett förmlicher Rechtshilfe.

Tatsächlich sieht der Ratsvorschlag keine Begrenzung jener Ermittlungsmaßnahmen vor, die von den Behörden des Anordnungsstaates angefordert werden können. Ausdrücklich vorgesehen und spezifisch geregelt sind neben der zeitweisen Überstellung inhaftierter Personen, Video- und Telefonvernehmungen und - fortlaufenden - Ermittlungen in Echtzeit insbesondere Ermittlungen »durch verdeckt oder unter falscher Identität handelnde Beamte«, kontrollierte Lieferungen und die Überwachung des Telefonverkehrs durch Behörden des Anordnungsstaates im Vollstreckungsstaat oder unter dessen Mithilfe in Drittstaaten. Nahezu schrankenlos vorgesehen ist die Anordnung der Erhebung sensibler personenbezogener Daten im Vollstreckungsstaat (Bank- und Finanztransaktionsdaten) bzw. der Übermittlung entsprechender dort bereits erhobener Daten (DNA, IP-Adressen, Datenbanken von Polizei und Justizbehörden, Telekommunikationsverkehrsdaten) ohne Regelung der Möglichkeiten ihrer weiteren Verwendung oder Löschung.

Mit der EEA ist so ein nahezu ungehinderter Transfer strafprozessualer Eingriffsmöglichkeiten ohne substantielle Überprüfungsmöglichkeit im Vollstreckungsstaat beabsichtigt. Begibt sich der interessierte Strafverfolger nur ins jeweils geeignete Ausland und bemüht seine dortigen Kollegen, werden Eingriffshürden über den Umweg Europa auch innerstaatlich abgeräumt.
In der Tat ist, wie der Rat dies auch betont, die EAA wesentlicher Teil der Intensivierung europäischer Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung in Europa. Seit Tampere|6 und Stockholm|7 gilt wie ein Dogma der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung justizieller Entscheidungen. Auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens in die Rechtsordnungen der Mitgliedsländer sollen in jedem Mitgliedsstaat justizielle Entscheidungen jedes anderen Mitgliedsstaates so behandelt und vollstreckt werden, als seien sie im eigenen Land ergangen. »Gegenseitiges Vertrauen« schenken sich aber vor allem die Strafverfolgungsbehörden. Wer indessen als Beschuldigter dieses Vertrauen und die Gewährleistung rechtsstaatlicher Mindeststandards sucht, sollte besser nicht auf die Europäische Union vertrauen. Der in Tampere 1999 ausgerufene »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« gleicht zur Zeit noch eher einer Sicherheitszelle.

So wünschenswert ein einheitliches, effektives und rechtsstaatliches Strafrechtssystem in Europa auch ist, so weit sind wir davon zugleich entfernt. Denn weder sind in allen Mitgliedsstaaten vergleichbare rechtstaatliche Verfahrensstandards rechtlich vorgesehen, noch ist deren Einhaltung gewährleistet. Die EU-Rechtssetzung hat es bislang nicht einmal vermocht, einheitliche Mindeststandards verbindlich zu formulieren. Die 2009 auf den Weg gebrachte sog. Roadmap, mit der einzelne – eher marginale – Beschuldigtenrechte festgeschrieben werden sollten, ist in zentralen Punkten (u.a. Recht auf anwaltlichen Beistand) entweder nicht umgesetzt oder aber gleich ganz aufgegeben worden (Pflichtverteidigung). Welche Art Vergemeinschaftung dem Rat vorschwebt, zeigt sich darin, dass er den Kommissionsvorschlag zum Recht auf Rechtsbeistand zusammenstreicht und sämtlicher relevanter Essentialia beraubt, während er gleichzeitig die Ermittlungsanordnung mit Hochdruck durch die Gremien treibt.

Für ein derart weit reichendes Eingriffsinstrumentarium wie die EEA bedürfte es aber nicht nur Mindest-, sondern qualitativ hochwertiger Verfahrensstandards, so jedenfalls eines einheitlichen Richtervorbehalts. Rechtsschutzgarantien haben Eingriffsermächtigungen vorauszugehen, und nicht erst in ferner Zukunft zu folgen.

Und wie dringend es solcher Garantien bedarf, zeigt - wie kaum ein anderes Vorhaben - die Regelungsweite der Europäischen Ermittlungsanordnung. Nicht nur, dass sie in ihrem Kern auf heimliche Ermittlungen zielt, zeigt woher der Wind weht. Sie kann sich letztlich auch auf Taten erstrecken, die im Vollstreckungsstaat gar nicht strafbar oder aber als Bagatelldelikte eingestuft sind - alles ist recht. Es fehlen zugleich wirksame Vorkehrungen gegen unkontrolliertes, nicht ausreichend verdachtsbegründetes Fishing von Erkenntnissen ebenso wie effektive Kontrollmechanismen für die Erhebung, Übermittlung, weitere Verwendung und insbesondere Löschung sensibler personenbezogener Daten.

Dem steht die Verteidigung vorerst machtlos gegenüber. Denn ausgerechnet daran, dass Beschuldigte angesichts derart koordinierter internationaler Verfolgung umso mehr verteidigt sein müssen, dachten die Verfasser der EEA nicht. Rechtsschutzgewährleistungen und die Erwähnung notwendiger oder der Pflichtverteidigung lassen ihre Regelungen vermissen. Auch die Bestimmungen zur zeitweisen Überstellung inhaftierter Personen und zur Video- oder Telefonvernehmung durch den Vollstreckungsstaat enthalten keine Erwähnung eines Rechts auf anwaltlichen Beistand. Die EEA dient eben ausschließlich der Ermittlung gegen und zu Lasten von Beschuldigten. Konsequenterweise ist eine Inanspruchnahme der Mechanismen der EEA durch und für die Verteidigung nicht vorgesehen.

Dass die weitere Vergemeinschaftung des europäischen Strafrechts nicht allein in der steten Ausweitung von Eingriffsbefugnissen bestehen kann, weiß jeder Festredner zwischen Brüssel und Berlin, Nordkap und Athen treuherzig zu beteuern. Allerdings: Nur in mühevoller Kleinarbeit können mitunter manche Punkte von der Wunschliste der Strafverfolgungseuropäer gestrichen werden. Zum Glück hat seit Lissabon auch das Europäische Parlament ein Wörtchen mitzureden. Es hat bereits viele der hier genannten Kritikpunkte in seine Änderungsbegehren aufgenommen. Gleichwohl bedürfte es weit mehr. Eine Europäische Verteidigungsanordnung wäre ein Anfang - ein Verfahren also, das Beschuldigten- und Verteidigungsrechte, notwendige und Pflichtverteidigung in den Mitgliedstaaten gewährleisten - und im Einzelfall durchsetzen kann. Gerne auch mit
Formular. Bis dahin bleibt die Europäische Gemeinschaft, was Strafsachen angeht, weiter eine reine Verwertungsgemeinschaft für Strafverfolger.

Der Autor ist Mitglied im Vorstand der Strafverteidigervereinigung NRW e.V. und spiritus rector des jährlich stattfindenden EU-Strafrechtstages.

Anmerkungen:


* LIBE = Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments. Der Ausschuss ist zuständig für den Großteil der Rechtsvorschriften und für die demokratische Überwachung von Maßnahmen zur Umgestaltung der Europäischen Union im sog. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

1 : http://eurocrim.jura.uni-tuebingen.de/cms/de/doc/266.pdf
2 : Rahmenbeschluss v. 18. Dezember 2008, http://eurocrim.jura.uni-tuebingen.de/cms/de/doc/1056.pdf
3 : Die EEA wurde eingebracht von den Staaten Belgien, Bulgarien, Estland, Spanien, Österreich, Slowenien und Schweden. http://eurocrim.jura.uni-tuebingen.de/cms/de/doc/1343.pdf
4 : http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/11/st18/st18918.de11.pdf
5 : sämtliche Änderungsanträge unter: http://www.europarl.europa.eu/committees/de/libe/amendments.html?linked
Document=true&ufolderComCode=LIBE&ufolderLegId=7&ufolderId=03538& urefProcYear=&urefProcNum=&urefProcCode=#sidesForm
6 : http://www.europarl.europa.eu/summits/tam_de.htm
7 : http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/111898.pdf


Carl W. Heydenreich:
Die europäische Ermittlungsanordnung, in: Freispruch, Heft 1, Sommer 2012

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