Strafverteidigertag Rechtspolitik

Die Ersatzfreiheitsstrafe muss weg!

§ 43 StGB ist ein Armutszeugnis in Gesetzesform.
Die Ersatzfreiheitsstrafe ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen des Strafvollzugsrechts nicht vereinbar. Sie gehört daher abgeschafft, meinen Kai Guthke und Lefter Kitlikoglu

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Zum Stichtag 31. März 2014 verbüßten in deutschen Justizvollzugsanstalten bei insgesamt 47.660 im Vollzug von Freiheitsstrafe befindlichen Menschen 4.460 Personen – darunter 353 Frauen – eine Ersatzfreiheitsstrafe,|1 obwohl das erkennende Gericht der Auffassung war, dass Freiheitsentzug als Sanktion rechtlich nicht zulässig oder zumindest nicht angebracht sei. Diese Zahl entspricht 9,36 Prozent der Inhaftierten zum genannten Stichtag.

Bei den Inhaftierten handelt es sich fast ausnahmslos um Menschen mit ganz erheblichen persönlichen und sozialen Problemen. In einer Vielzahl von Fällen spielen Alkohol– und/oder Betäubungsmittelabhängigkeit sowie psychische Auffälligkeiten oder gar psychische Störungen eine Rolle. Eine erhebliche Anzahl ist ohne Arbeit und überschuldet, zum Teil wohnungslos. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diejenigen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen haben, nicht – oder nicht mehr – die Fähigkeit besitzen, Probleme anzugehen, problematischen Situationen zu begegnen.

Die Vollstreckung und der Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe sind mit rechtsstaatlichen Strafvollzugsgrundsätzen nicht vereinbar. Schutz der Allgemeinheit und Vergeltung dürften von vornherein keine Rolle spielen. Eine Wiedereingliederung/Resozialisierung ist bei einer in der Regel einige Monate andauernden Inhaftierung nicht möglich – falls eine solche überhaupt möglich sein sollte. Bedingt durch die hohe Fluktuation der Inhaftierten und deren vielfach unterschiedliche Problemlagen können die zu wenigen SozialarbeiterInnen nicht fachlich sinnvoll arbeiten. Faktisches Vollzugsziel ist daher ausschließlich, Prisionierungsschäden abzumildern und zu erreichen, dass die Lage nach der Inhaftierung zumindest genauso schlecht bleibt wie vor der Inhaftierung und nicht alles ins Bodenlose abrutscht.

Die normative Erklärung für dieses Armutszeugnis ist § 43 StGB.

An die Stelle der uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe, und zwar unter Beachtung des »Umrechnungsmaßstabes«: ein Tagessatz = ein Tag Freiheitsstrafe. Die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe trifft sogar auch die unverschuldet Zahlungsunfähigen.|2

Ziel einer dringend notwendigen Reform muss die Umgestaltung des Sanktionensystems sein mit der Konsequenz einer Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe.

Strafbarkeit der Leistungserschleichung und anderer Bagatelldelikte, Praxis und rechtliche
Ausgestaltung des Strafbefehlsverfahrens - der Anfang vom Ende.

Ein wirkungsvolles Reformanliegen muss den gesamten Prozessablauf hin zur Ersatzfreiheitsstrafe im Fokus haben. Auslöser der Ersatzfreiheitsstrafe ist im Regelfall ein Strafbefehl (in der Regel für Leistungserschleichung oder andere Bagatelldelikte wie Diebstahl geringwertiger Sachen etc.) mit einer fehlerhaften Strafzumessung, d.h. mit einer schuldunangemessenen Sanktion.

Das (nur) für die Justiz einfache und kostengünstige summarische und schriftliche Strafbefehlsverfahren ist für die gut situierte Mittel- und Oberschicht zwar oft ein Segen, für die unter zahlreichen Benachteiligungen leidende Unterschicht ist es jedoch ein Fluch.

Wir behaupten, dass mit der Abschaffung der Straftatbestände der Leistungserschleichung und anderer Bagatellkriminalität – also mit einer notwendigen Entkriminalisierung – oder zumindest Herunterstufung als OWi (bzw. Einführung eines bezahlbaren »Sozial Tickets«, das z.B. die Strafverfolgung von Leistungserschleichung obsolet machen würde) und durch ein reformiertes Strafbefehlsverfahren, welches den Justizgewährungsanspruch und das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs ernst nimmt, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine erhebliche Anzahl von Ersatzfreiheitsstrafen vermieden würden.
Dem Betroffen sollte vor Erlass des Strafbefehls, z.B. durch Übermittlung eines Strafbefehlsentwurfes, die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben werden; und dies in einer einfachen und klaren Sprache. Nur so werden die regelmäßig fehlenden Informationen zu den wirtschaftlich prekären Lebensverhältnissen der Betroffenen aktenkundig. Erst dann besteht die Hoffnung, dass diese Informationen auch vom Gericht wahrgenommen werden.

Eine Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der sonstigen Bemessungsgrundlagen findet gegenwärtig im Strafbefehlsverfahren nicht oder nur summarisch und ausnahmsweise statt. Dass ein Gericht von sich aus, auch bei sich aus der Akte ergebender unklarer Einkommenslage, die Akte an die Staatsanwaltschaft zurückreicht mit der Aufforderung, die Einkommenssituation des Betroffenen (z.B. durch die Gerichtshilfe) zu ermitteln, haben zumindest wir noch nicht erlebt. Es ist keine Seltenheit, dass – ohne Tatsachengrundlage – die »Regel«-Tagessatzhöhe von 30,00 € von Empfängern von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII oder sonst am Existenzminimum Lebenden im Strafbefehlsverfahren verhängt wird. Die obergerichtliche Rechtsprechung zur Angemessenheit einer Geldstrafe bei am Existenzminimum – oder gar darunter – lebenden Menschen wird häufig missachtet. Eine Reduzierung der Tagessatzhöhe im Gnadenwege bei rechtskräftigem Strafbefehl ist in der Regel aussichtslos.

Auch die bestehende Möglichkeit, innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Strafbefehls den Einspruch auf die Tagessatzhöhe zu beschränken und dem schriftlichen Verfahren durch Beschluss zuzustimmen (§ 411 Abs. 3 S.2 StPO), kommt für den betroffenen Personenkreis zu spät und ist zu kompliziert. Das Kleingeschriebene in der Rechtsmittelbelehrung wird selbst von den SozialarbeiterInnen der Betroffenen nicht ausnahmslos richtig erfasst, geschweige denn von den Betroffenen selbst. Zudem müsste sichergestellt werden, dass die oft heillos überforderten und daher zur Apathie neigenden Betroffenen – wochenlang wird die Post nicht geöffnet – durch die frühe Einbindung der Sozialen Arbeit Unterstützung erfahren und erst hierdurch die reelle Möglichkeit geschaffen wird, dass die zu kurzen Fristen auch eingehalten werden können. Die Einspruchseinlegung gegen den Strafbefehl zum Zwecke der Überprüfung der Tagessatzhöhe findet somit lediglich in seltenen Fällen statt.

Das Versagen bestehender Haftvermeidungsmöglichkeiten

Zahlungserleichterungen nach § 42 StGB – nach Rechtskraft der Geldstrafe über den Umweg des § 459 a StPO – sind bei dem komplizierten und problematischen Klientel oft nicht wirklich hilfreich. Vermögenslos und am Rande oder unter dem Existenzminimum lebend, schmerzen die 25,00 bis 50 €, die an die Staatskasse monatlich zu leisten wären, erheblich; oft kommt es zu Zahlungsverzögerungen aufgrund unvorhergesehener Ereignisse und zu harschen Reaktionen der RechtspflegerInnen, die nicht mehr zu erweichen sind.
»Schwitzen statt sitzen« – Tilgung uneinbringlicher Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit, wäre grundsätzlich eine Alternative, zumindest dann, wenn sie aktiv durch eine gut ausgestattete und ausreichend finanzierte Soziale Arbeit angeboten und begleitet und auch bei bereits Inhaftierten konsequent angewendet würde, was jedoch – von publicitywirksamen Modellprojekten abgesehen – im Alltag faktisch nicht der Fall ist.
Zudem müssen zur Tilgung eines Tagessatzes sechs Stunden gemeinnützige Arbeit geleistet werden (z.B. § 5 Abs. 1 HessTilgVO). Nur unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere bei langandauernden Arbeitsverhältnissen, kann die Vollstreckungsbehörde anordnen, dass bei der zweiten Hälfte der zu leistenden Arbeitsstunden die Stundenanzahl auf drei Stunden herabgesetzt wird (§ 5 Abs. 1 Satz 2 HessTilgVO). In besonderen Ausnahmefällen kann die Vollstreckungsbehörde mit Rücksicht auf alle Umstände der zu leistenden Tätigkeit oder auf besondere persönliche Verhältnisse der verurteilten Person auch von Beginn an den Anrechnungsmaßstab auf bis zu drei Stunden herabsetzen (§ 5 Abs. 2 HessTilgVO). In der Regel sind also sechs Stunden Arbeit zu leisten. Dies bedeutet bei einer Tagessatzhöhe von beispielsweise 12,00 € einen »Stundensatz« von 2,00 €. Es wäre auch unter diesem Gesichtspunkt nur billig und gerecht, wenn die Berechnungsgrundlage eine adäquate Anpassung im Rahmen einer bundeseinheitlichen Regelung erfahren würde, zumindest durch die Umstellung des Umrechnungsmaßstabes auf drei Stunden Arbeit für einen Tag Geldstrafe.|3

Dennoch: Für Menschen, die keinen Briefkasten (oder gar keinen Wohnsitz) besitzen, dessen Inhalt sie nicht wenigstens ab und an zur Kenntnis nehmen, oder die auf unangenehme Inhalte mit (gegebenenfalls stofflich gestützter) Verdrängung reagieren, ist all dies nicht leistbar.|4 Auch wenn die zu leistenden gemeinnützigen Arbeiten nicht selten einfache sind, sie erfordern dennoch ein Minimum an Selbstorganisation, körperlicher und/oder psychischer Gesundheit und ein Minimum an »Arbeitstugenden«.|5

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Lage ist für die Ärmsten der Armen bitter und aussichtslos, der Weg führt unausweichlich in die Haftanstalt, mit allen negativen Folgen.

Auch die Härteklausel § 459f StPO hilft nicht weiter. Diese Sondervorschrift wird in der Praxis häufig übersehen und wenn sie denn Anwendung findet, dann wird sie viel zu restriktiv ausgelegt. Zudem bewirkt sie de lege lata lediglich einen Aufschub der Ersatzfreiheitsstrafe.|6

Nach alledem bleibt festzuhalten:
Die einzige sinnvolle und vor allem gerechte Antwort für diejenigen, die unverschuldet zahlungsunfähig sind, kann nur die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe sein.
Dann würden wir uns im Übrigen auch wieder in guter Gesellschaft befinden: Frankreich kennt, ähnlich wie im Verfahren nach dem OwiG, zwar eine Erzwingungshaft. Diese darf allerdings nur dann angeordnet werden, wenn keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt.|7 In Schweden wird die Ersatzfreiheitsstrafe nur dann vollstreckt, wenn nachgewiesen wird, dass Zahlungsunwilligkeit vorliegt.|8 Damit wird auch klar, weshalb Deutschland bei der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen im europäischen Vergleich ein besonders unrühmliches Bild abgibt.

Kai Guthke und Lefter Kitlikoglu arbeiten als Strafverteidiger in Frankfurt/Main und sind Mitglieder im Vorstand der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger.

Anmerkungen:

1 : Statistisches Bundesamt »Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den Justizvollzugsanstalten ... am Stichtag 31. März 2014«, Seite 6
2 : Fischer, StGB, 62. Aufl., § 43 Rn. 3
3 : vgl. auch Entwurf eines Gesetzes zu der Reform des Sanktionenrechts aus dem Jahr 2004, BTDrs. 15/2725
4 : so zutreffend Heischel, »Ersatzfreiheitsstrafer« in Forum Strafvollzug 2011, 153 ff, 156
5 : vgl. Heischel, a.a.O
6 : vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 57. Aufl., § 459f Rn. 3 StPO
7 : vgl. NK-StGB/Albrecht, 4. Aufl., § 43 Rn. 3
8 : NK/Albrecht, a.a.O

Kai Guthke/ Lefter Kitlikoglu: Die Ersatzfreiheitsstrafe muss weg!, in: Freispruch, Heft 6, Februar 2015

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