Strafverteidigertag Rechtspolitik

Im falschen Film

Die fehlende inhaltliche Dokumentation des Strafprozesses ist ein Anachronismus. Dabei wäre eine Dokumentation technisch ohne großen Aufwand möglich. So aber stehen Verteidigung und Beschuldigter immer wieder vor dem Problem, dass sie erst mit der Urteilsverkündung erfahren, wie das Gericht Zeugenaussagen verstanden und bewertet hat. Um die Rechtsschutzlücke gegen die Verfälschung des Sachverhalts durch Urteilsfeststellungen zu schließen, bedürfte es nicht einmal einer umfangreichen visuellen Dokumentation, argumentieren Armin von Döllen und Carsten Momsen. Dies könnte bereits eine Protokollierungspflicht zum Zeitpunkt der Zeugenaussage erreichen.

Druckversion

1. Vor der großen Strafkammer eines niedersächsischen Landgerichts fand kürzlich eine bemerkenswerte Hauptverhandlung statt. Eine Vielzahl von Personen war angeklagt eine Reihe von Einbruchdiebstählen begangen zu haben. Der Sachverhalt war streitig, die Angeklagten schwiegen und den Verfahrensbeteiligten stand eine mehrmonatige Beweisaufnahme bevor, bei der es immer wieder um ähnliche oder gleichgelagerte Sachverhalte ging. Die ungefähr zehn Verteidiger stellten zu Beginn des Verfahrens die Frage, wie man angesichts dieses Prozessstoffes gewährleisten wolle, dass am Ende der Beweisaufnahme möglichst alle von einem gleichen festgestellten Sachverhalt ausgehen.

Diese Frage hatte den Vorsitzenden der Strafkammer auch schon bewegt und es bestand Einigkeit, dass eine irgendwie geartete Dokumentation der Beweisaufnahme erforderlich sei. Man diskutierte verschiedene Möglichkeiten, unter anderem den schließlich wieder verworfenen Vorschlag, die Mitschriften des Berichterstatters den Verfahrensbeteiligten jeweils nachträglich zur Verfügung zu stellen. Geeinigt hat man sich schließlich darauf, dass der Vorsitzende, ähnlich wie im Zivil- oder Verwaltungsprozess, die jeweilige Zeugenaussage mithilfe eines Diktiergerätes noch in Anwesenheit des Zeugen protokolliert. So geschah es, obwohl der Vorsitzende die Befürchtung äußerte, dass er sich anschließend wohl nicht mehr in der Gerichtskantine werde blicken lassen können.

Die so vorgenommene inhaltliche Dokumentation hatte einen verblüffenden Effekt: Zum einen wurden Missverständnisse bzw. fehlerhafte oder sequenzielle Aufnahmen der jeweiligen Zeugenaussage sofort und vor Ort korrigiert. Sobald etwas diktiert wurde, was der Zeugenaussage nicht oder nicht in vollem Umfang entsprach, haben die Verfahrensbeteiligten dies sofort korrigieren und notfalls mithilfe des noch anwesenden Zeugen auch klären können. Dabei kamen solche Korrekturen durchaus vor, aber keineswegs in dem Umfang wie häufig von Kritikern einer solchen Verfahrensweise befürchtet wird. Unstimmigkeiten wurden in der Regel ganz schnell und nach sehr kurzer Diskussion beigelegt. Zum anderen ergab sich durch das quasi gemeinsam abgestimmte Protokoll ein einheitlicher Sachverhalt, der keinerlei Diskussionen mehr darüber zuließ, was in der Hauptverhandlung festgestellt werden konnte und was eben nicht. Die Verfahrensweise hat damit nicht nur zu einer ganz erheblichen Transparenz, sondern auch zu einer deutlichen Verbesserung des Prozessklimas beigetragen.
Es bedarf keiner weiteren Erwähnung, dass das oben beschriebene Verfahren im deutschen Strafprozess die absolute Ausnahme ist, während es in fast allen anderen Verfahrensarten eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Die Forderung nach einer Dokumentation der Hauptverhandlung ist so alt wie der moderne Strafprozess selbst.|1 Insbesondere die Strafverteidigervereinigungen haben diese Forderung immer wieder aufgestellt,|2 während sie insbesondere von Strafrichtern und Staatsanwälten und ihren Organisationen mit zum Teil abenteuerlichen Argumentationen zurückgewiesen wird.|3 Der Anachronismus der fehlenden inhaltlichen Dokumentation|4 des landgerichtlichen Strafprozesses ist im
europäischen Kontext kaum noch zu vermitteln. Ganz zu schweigen von den Betroffenen selbst, die immer wieder ungläubig vor der Erkenntnis stehen, dass nichts von dem, was in ihrem Prozess ausgesagt worden ist, irgendwo zuverlässig festgehalten und protokolliert ist.

2. Im Zentrum stehen zwei Probleme, die gegenwärtig völlig unzureichend gelöst sind: Zum einen die so genannte Interpretationshoheit der Strafkammer über den festgestellten Sachverhalt und zum anderen die fehlende tatsächliche Überprüfbarkeit der tatrichterlichen Feststellungen durch das Rechtsmittelgericht.

Ein Problem der Strafverteidigung besteht seit Jahren darin, herausfinden zu müssen, was das Gericht von der Zeugenaussage verstanden hat und wie es diese bewertet.|5 Wenn das Gericht sich auf eine entsprechende offene Kommunikation nicht einlässt, was es nicht muss, gibt es nur die Möglichkeit, durch eine Vielzahl von Beweisanträgen herauszufinden, wie der entsprechende Meinungsstand ist. Die Methode ist kompliziert, häufig langwierig und oftmals auch nicht zielführend. Spätestens mit der Urteilsverkündung, aber dann auch zu spät, werden Verteidiger und Angeklagter gewahr, wie das Gericht einzelne Zeugenaussagen verstanden und bewertet hat. Das Bild vom falschen Film bei der Urteilsverkündung wird seit Generationen von Verteidigern immer wieder bemüht.

Dieser als Rechtsschutzlücke gegen die Verfälschung des Sachverhalts durch Urteilsfeststellungen bezeichnete Zustand dürfte dabei weniger auf bewusste Fehldarstellungen zurückzuführen sein, wenngleich die hartnäckige Weigerung der Gerichte, eine Dokumentation zuzulassen, einen gewissen Anfangsverdacht diesbezüglich begründen könnte. Vielmehr sind die einer objektiv unzutreffenden Darstellung des Sachverhalts am häufigsten zugrundeliegenden sozial-psychologischen Phänomene seit längerem bekannt und erforscht.|6 Vereinfacht ausgedrückt interpretiert jeder die Welt häufig nach seinem eigenen Vorverständnis und nimmt Vorgänge entsprechend gefiltert wahr. Richter sind hiervon weder ausgenommen, noch besonders geschützt. Im Gegenteil werden sie durch das der Hauptverhandlung vorangegangene Aktenstudium und die in dem Zusammenhang getroffenen Zwischenentscheidungen gleichsam vorgeprägt und in ihrer Erwartungshaltung determiniert (Theorie der kognitiven Dissonanz).|7

Schließlich wird das Urteil nicht allzu selten erst lange nach der entsprechenden Zeugenaussage geschrieben. Der Berichterstatter greift hierbei auf seine eigenen Notizen zurück, die zu diesem Zeitpunkt häufig mehrere Monate alt sind. Je nachdem wie sorgfältig er die Zeugenaussage mitgeschrieben hat, oder wie er sie verstanden hat, fällt das Ergebnis aus.
Zum anderen sind die tatrichterlichen Feststellungen zum Sachverhalt nach der gegenwärtigen Rechtslage so gut wie jeder Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht entzogen, wenn sie nicht unter Verstößen gegen formales Recht gewonnen wurden. Was ein Zeuge inhaltlich ausgesagt hat legt derjenige fest, der das Urteil schreibt. Eine objektive Überprüfung ist nicht möglich, da eine Dokumentation der Aussage nicht existiert und zudem eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren nicht zulässig sein soll. Dieser Zustand gilt dabei ausgerechnet für diejenigen Verfahren, bei denen am Anfang eine Straferwartung von über vier Jahren steht und bei denen es keine zweite Tatsacheninstanz gibt, die etwa irgendwelche Fehler bei der Feststellung des Sachverhaltes korrigieren könnte.

Dieses doppelte Dilemma der einerseits fehlenden effektiven Kontrollmöglichkeiten der Verteidigung bei der Festschreibung des Sachverhaltes in der Tatsacheninstanz und die fehlende Kontrolle der tatrichterlichen Feststellungen durch das Revisionsgericht offenbart eine Rechtsschutz-und Gerechtigkeitslücke, die dringend korrigiert werden muss.|8
Es fragt sich mithin, was die wirklichen Gründe sind, die die Einführung einer Dokumentationspflicht für die strafrechtliche Hauptverhandlung vor dem Landgericht bisher so hartnäckig verhindert haben. Technische Probleme eine Hauptverhandlung in Wort und Bild aufzuzeichnen dürften seit geraumer Zeit nicht mehr existieren. Dies belegen nicht zuletzt die Erfahrungen anderer Länder, in denen derartige Techniken problemlos und völlig selbstverständlich eingesetzt werden. Auch in deutschen Gerichtssälen existieren mittlerweile ausnahmslos Mikrofon-Anlagen, die ohne weiteres als Schnittstelle für entsprechende Aufzeichnungsgeräte benutzt werden können, sodass mindestens eine Tonaufnahme überhaupt kein Problem darstellt. Durch die aus Gründen des vermeintlich erforderlichen Opferschutzes neu in die Strafprozessordnung aufgenommenen §§ 58 a, 168 e, 247 a und 255 a StPO werden die Strafkammern überdies gezwungen, die entsprechende Bild-Ton-Technik jedenfalls vorzuhalten.|9

3. Kein ernsthaftes Problem stellt die eingangs beschriebene Verfahrensweise der Protokollierung der Zeugenaussage durch den Vorsitzenden dar. Dieses wird schließlich seit Jahrzehnten in jedem Zivil- und Verwaltungsprozess praktiziert. Was also hindert uns daran, eine Dokumentationspflicht für erstinstanzliche Verfahren vor dem Landgericht in die Strafprozessordnung aufzunehmen?|10

Die mit einer Protokollierungspflicht sicherlich einhergehende Mehrarbeit dürfte angesichts des Gewinns an Gerechtigkeit, Transparenz und damit letztlich auch Akzeptanz der tatrichterlichen Entscheidungen kein ernsthaftes Argument sein. In der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vor dem Landgericht ist grundsätzlich eine Protokollführung (§ 153 GVG) anwesend, anderenfalls liegt ein absoluter Revisionsgrund vor.|11 Der Vorsitzende könnte die Zeugenaussage damit ohne Schwierigkeiten unmittelbar in das Hauptverhandlungsprotokoll dokumentieren lassen. Der Mehraufwand dürfte auf der anderen Seite durch die mit der Dokumentation verbundene Eliminierung von Konfliktstoffen sowohl in der Tatsacheninstanz als auch im Rechtsmittelverfahren mehr als kompensiert werden. Schließlich wird die Mehrzahl der trickreichen Versuche der Verteidigung zur Festschreibung eines bestimmten Sachverhaltes durch die Instrumente des Beweisantragsrechts obsolet werden, wenn dokumentiert ist, was ein Zeuge tatsächlich gesagt hat und was nicht. Die Revisionsverfahren werden zum großen Teil von denjenigen Rügen entlastet werden, bei denen es eigentlich um die Rüge der Verfälschung des Sachverhaltes durch die Urteilsfeststellungen|12 geht.
Für das Kontrolldefizit sorgt gegenwärtig das sogenannte Rekonstruktionsverbot. Die Revisionsgerichte erachten Rügen immer dann als unzulässig, wenn für das Rügevorbringen auf Tatsacheninformationen zurückgegriffen werden muss.|13 Denn eine solche Rüge verlasse den Rahmen der Rechtskontrolle, welche ausschließlich Gegenstand der revisionsgerichtlichen Prüfung sei.|14 Daher wird es ebenfalls in weitem Umfang als unzulässig angesehen, Mitschriften der Verfahrensbeteiligten über den Inhalt von Zeugenvernehmungen im Wege der Verlesung oder als Urkundenbeweis in den Prozess einzuführen und auf diese Weise sicherzustellen, dass der Inhalt der Vernehmung zur Akte gelangen kann.|15

Als Argument wird u.a. vorgebracht, dass dem Gesetz kein Anhaltspunkt für eine Beweiserhebung des Revisionsgerichts über den Inhalt der Hauptverhandlung zu entnehmen sei.|16 Dies besagt jedoch zunächst nicht mehr, als dass es keine formalisierten Beweiserhebungsregelungen zu diesem Punkt gibt. Die Situation tritt aber relativ häufig auf und stellt gerade die Grundlage für die Anwendung des Freibeweisverfahrens dar. Dass das Revisionsgericht die ihm notwendig erscheinenden Beweiserhebungen ggf. im Freibeweis durchführen darf, wird nicht bestritten. Die Schranke ist also keine formelle. Insoweit auf einen geringeren Beweiswert der im Freibeweisverfahren erlangten Informationen abgestellt wird, kann dies nur einzelfallabhängig gelten. Eschelbach weist zu Recht darauf hin, dass eine vergleichbare Rekonstruktion im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens (§§ 395 Nr. 5, 368 StPO) vorgesehen ist, um aufklären zu können, ob eine »Sachverhaltsfälschung durch das Tatgericht« vorgenommen worden sein kann.|17 Entsprechendes könnte auch im Hinblick auf die als unzulässig angesehene Rüge der »Aktenwidrigkeit« gelten. Auch hier bleibt die Revisionsrechtsprechung eine kohärente dogmatische Begründung für die Selbstbeschränkung des Prüfungsauftrags schuldig.|18

In welchem Umfang eine Dokumentation der Hauptverhandlung letztendlich Gegenstand revisionsrechtlicher Kontrolle sein kann, wäre im Einzelnen zu regeln. Die zum Teil vorgebrachten Einwände, wonach ein Revisionsgericht schließlich nicht eine mehrmonatige Hauptverhandlung per Video nachvollziehen kann, sind sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Und auch welchen Erkenntniswert die in einer Bildaufnahme festgehaltene Mimik und das Verhalten eines Zeugen letztlich für das Revisionsgericht haben kann, bleibt sicherlich noch zu diskutieren. Schließlich wird man aus einem entsprechenden Verhalten so gut wie nie Rückschlüsse auf den Inhalt der Aussage ziehen können.|19

Oberstes Ziel sollte es sein, ein Verfahren zu finden, das so gut wie möglich garantiert, dass dem Urteil zum einen zutreffend wahrgenommene Feststellungen zu Grunde liegen und zum anderen eine so zuverlässige Dokumentation der Hauptverhandlung existiert, dass eine Überprüfung der Feststellungen erforderlichenfalls möglich ist. Diesen Anforderungen wird das eingangs beschriebene Verfahren der Protokollierung der Zeugenaussage durch den Vorsitzenden gerecht. Durch die Protokollierung der Zeugenaussage in Anwesenheit des Zeugen wird zum einen eine Genehmigung der Zeugenaussage durch den Zeugen herbeigeführt und zum anderen durch die Einwirkungsmöglichkeiten der übrigen Prozessbeteiligten verhindert, dass die Zeugenaussage selektiv oder unvollständig wahrgenommen wird. Dieser Prozess zwingt die Verfahrensbeteiligten dazu, unmittelbar einen Konsens über den Inhalt der Zeugenaussage herzustellen, bei dem die Anwesenheit des Zeugen und die damit unmittelbar gegebenen Korrekturmöglichkeiten wesentliche Bestandteile für die Garantie der richtigen Aufnahme der Zeugenaussage sind. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht weiterhin darin, dass die Sachverhaltsfeststellung in der Tatsacheninstanz bleibt - dies allerdings mit dem Unterschied zur jetzigen Rechtslage, dass durch die Protokollierungspflicht ein Zwang geschaffen wird, Einvernehmen über den Inhalt der Zeugenaussage noch in der Tatsacheninstanz herzustellen und die Herrschaft des Gerichts über die Tatsachenfeststellung durchbrochen wird. Die Zeugenaussage wird zum Zeitpunkt ihrer Entstehung dokumentiert. Unklarheiten können sofort beseitigt werden, schließlich ist der Zeuge noch vor Ort und kann zur Aufklärung von Unstimmigkeiten beitragen. Die Verantwortung zur Feststellung eines tragfähigen Sachverhaltes wird auf die Verfahrensbeteiligten der Tatsacheninstanz übertragen und nicht mehr in das alleinige Belieben des Gerichtes gestellt. Dadurch entsteht eine Dokumentation, die größtmögliche Richtigkeit und Akzeptanz für sich beanspruchen kann.

Das Revisionsverfahren wird damit von Auseinandersetzungen darüber, wie eine Zeugenaussage zu interpretieren ist, freigehalten. Dass diese Gefahr besteht, wenn nicht bereits in der Tatsacheninstanz eine Verständigung über den tatsächlichen Inhalt der Zeugenaussage herbeigeführt wird, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, denn eine während des Prozesses einfach nur mitlaufende Dokumentation verhindert grundsätzlich nicht, dass verschiedene Teilnehmer des Prozesses mit verschiedenen Rollen die Aussagen nach wie vor unterschiedlich wahrnehmen und verstehen. Wenn diese möglicherweise divergierenden Verständnisse in die Feststellung des Sachverhaltes einfließen, sind Auseinandersetzungen, in denen mithilfe der Videoaufnahme die Unrichtigkeitsinterpretation nachgewiesen werden soll, vorprogrammiert.

4. Entscheidend scheint es daher zu sein, nicht nur eine Dokumentation der Hauptverhandlung zu haben, sondern quasi eine Verpflichtung der Verfahrensbeteiligten noch während der Tatsacheninstanz in einem kommunikativen Prozess eine Einigung über den Inhalt der Beweisergebnisse herbeizuführen. Die Verpflichtung zur Erstellung eines Protokolls der Zeugenaussage scheint hierfür ein geeignetes Mittel zu sein, wenn die Verfahrensbeteiligten mit den entsprechenden Einflussnahmemöglichkeiten ausgestattet sind. Dadurch wird gewährleistet, dass die Beweisaufnahme mit größtmöglicher Richtigkeitsgarantie und Akzeptanz der Verfahrensbeteiligten dokumentiert wird. Dieses Dokument kann ohne weiteres als Grundlage einer Überprüfung des festgestellten Sachverhalts durch das Revisionsgericht in denjenigen Fällen dienen, in denen sich der Tatbestand des Urteils trotzdem noch von dem Inhalt der so dokumentierten Hauptverhandlung entfernt. Prognostisch wird dies jedoch nur noch selten der Fall sein, da ein solcher Widerspruch mit ganz einfachen und wenig aufwändigen Mitteln festzustellen wäre. Die Hauptfehlerquelle der fehlerhaften Sachverhaltsdarstellung, nämlich die selektive Wahrnehmung der Zeugenaussage durch das beim Aktenstudium gewonnene Vorverständnis, würde jedoch weitgehend eliminiert.
Inwieweit darüber hinaus die vollständige Bild und Tondokumentation der Hauptverhandlung noch erforderlich ist, beispielsweise zum Nachweis sonstiger Vorgänge in der Hauptverhandlung, mag diskutiert werden. Diese Form vollständiger Dokumentation kann derzeit lediglich technisch als ohne weiteres machbar angesehen werden. Noch sind keine vollends überzeugenden Konzepte vorgelegt worden, wie mit der Selektion des relevanten Tatsachenstoffs für eine Revisionsrüge, insbesondere bei Umfangsverfahren, umgegangen werden könnte. Jedenfalls eliminiert alleine die Videoaufzeichnung natürlich nicht alle Differenzen über die richtige Interpretation des Aufgezeichneten, da eben kein Konsens über den Gehalt der Aussage hergestellt wurde. Zudem wäre eine weitreichende Umstrukturierung des Revisionsverfahrens kaum zu vermeiden, bspw. würde in erheblich weiterem Umfang eine Revisionshauptverhandlung durchzuführen sein. Die Abgrenzung zwischen Sach- und Rechtsfragen würde erheblich schwieriger werden, als sie sich derzeit bereits darstellt. Im Vergleich zum Protokollierungsmodell würden hinsichtlich des Aussageinhalts die dargestellten Probleme wesentlich von der beweisnäheren Tatsachen- auf die Revisionsinstanz verlagert werden, was der Konsensbildung kaum förderlich sein dürfte.

Rechtsanwalt Armin von Döllen arbeitet als Strafverteidiger in Bremen und ist stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger.
Rechtsanwalt Professor Dr. Carsten Momsen ist Strafverteidiger und Direktor des
Kriminalwissenschaftlichen Instituts der Leibniz Universität in Hannover. Er ist Mitglied der Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger.

Anmerkungen:

1 : vgl. die Nachweise bei BeckOK StPO/Eschelbach § 261, Rn. 60-60.6
2 : Norouzi, Wehe dem der beschuldigt wird, Ergebnisse des 34. Strafverteidigertages 2010, S. 215,220 ff.
3 : so Hofmann, NStZ 2002,569
4 : Malek, StV 2011, 559,564
5 : Eine der schönsten Darstellungen dieses Problems findet sich bei König, Pazifistische Phantasien, in Festschrift für Friebertshäuser 1977, Seite 211, 212, der den deutschen Strafprozess aus der Sicht eines imaginären Südseehäuptlings schildert
6 : vgl. hierzu Schünemann, der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter? Zur empirischen Bestätigung von Perseveranz- und Schulterschlusseffekt, StV 2000, 159ff.
7 : Schünemann StV 1998, 391, 394
8 : zur Notwendigkeit einer solchen Korrektur vgl. z.B. die eindrucksvolle Darstellung von Fehlurteilen bei Darnstädt, Der Richter und sein Opfer, Wenn die Justiz sich irrt, 2013
9 : vergleiche hierzu Meyer-Mews, NJW 2002, 103, der aus der Existenz dieser Vorschriften unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit einen Anspruch des Angeklagten auf Dokumentation ableitet.
10 : Bei erstinstanzlichen Landgerichtsverfahren wird der Angeklagte stets verteidigt (§ 140 Abs. 1 Nr.1 StPO), so dass eine sachgerechte Handhabung von allen Verfahrensbeteiligten in der Regel gewährleistet ist. Findet die Verhandlung vor dem Amtsgericht in erster Instanz statt, so sind Angeklagte zu einem erheblichen Anteil unverteidigt, was die Durchführung der Protokollierung einerseits erschweren kann und andererseits das Problem der Interpretationshoheit des Gerichts vielfach nicht lösen wird. Allerdings steht hier mit der Berufung eine vollwertige zweite Tatsacheninstanz zur Verfügung. Die ohnehin selten eingelegte Sprungrevision ist bei Zweifeln über den Aussageinhalt nicht das richtige Rechtsmittel, so dass keine negativen Auswirkungen entstehen, wenn die Protokollierung auf landgerichtliche Hauptverhandlungen beschränkt wird. Damit verbleibt als einzig problematischer Fall die Berufungsinstanz. Hier wäre die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO ggf. erweiternd auszulegen, soweit einerseits keine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und mehr zu erwarten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 140 Rn. 23.) und andererseits gleichwohl komplexe Zeugenaussagen zu erwarten sind.
11 : BGH NStZ 1981, 31; BayObLG NStZ-RR 2002, 16; Meyer-Goßner § 226 Rn. 7; § 338 Rn. 39a.
12 : König StV 1998,113,114
13 : BeckOK-StPO/Eschelbach § 261 Rn. 60.
14 : vgl. der Sache nach Hofmann, NStZ 2002, 569, 571, vermutet, es werde zu einem »Dammbruch« entsprechender Rügen kommen. Dagegen s.u.
15 : näher Meyer-Goßner § 261 Rn. 38a; § 337 Rn. 14; KMR-Momsen § 337 Rn. 148; BeckOK-StPO/Eschelbach § 261 Rn. 60; BGH NStZ 1997, 296; OLG Hamburg StV 2012, 74; BGH Beschl. v. 29.3.2011 - 3 StR 9/11.
16 : BGHSt 21, 149, 151; 31,139, 149; BeckOK/Eschelbach § 261 Rn. 60.2.
17 : BeckOK/Eschelbach § 261 Rn. 60.3.
18 : BeckOK/Eschelbach § 261 Rn. 60.4.f.
19 : Köhnken, Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten, in Deckers/Köhnken, Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess, 2007

Armin von Döllen / Prof. Dr. Carsten Momsen: Im falschen Film. Zur Dokumentation in der Hauptverhandlung, in: Freispruch, Heft 5, September 2014

Alle Rechte am Text liegen bei den Autoren - Nachdruck und Weiterverbreitung nur mit Zustimmung der Autoren.