Strafverteidigertag Rechtspolitik

verteidigung im ausnahmezustand

Die Türkei erlebt eine Welle von Verhaftungen, die sich auch gegen Anwältinnen und Anwälte im gesamten Land richtet. In 77 der 81 türkischen Provinzen wurden Rechtsanwälte unter fadenscheinigen Anklagen in Haft genommen. Die Verhaftungen sind Teil einer großangelegten Verfolgungskampagne, die von der politischen Führung des Landes orchestriert und von den lokalen Verfolgungsbehörden lediglich ausgeführt wird. Gegen 1 506 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte laufen Strafverfahren, 572 von ihnen wurden verhaftet, von denen bis heute 80 zu teilweise sehr hohen Haftstrafen verurteilt wurden.1 Unter den Verhafteten befinden sich 14 Präsidenten lokaler Anwaltskammern.2
• Der Obere Strafgerichtshof Konya verurteilte den ehemaligen Präsidenten der Anwaltskammer Konya, Fevzi Kayacan, und 19 weitere Anwälte zu Freiheitsstrafen bis zu 14 Jahren.3
• Der Obere Strafgerichtshof von Erzincan verurteilte die Anwälte Cemalettin Ozer (ehem. Präsident der lokalen Anwaltskammer) und Talip Nayir zu acht Jahren neun Monaten und zehn Jahren Freiheitsstrafe.4
• Der Obere Strafgerichtshof von Erzurum verurteilte Mehmet Güzel (ehem. Präsident der lokalen Anwaltskammer) und vier weitere Anwälte zu Freiheitsstrafen zwischen einem und 13 Jahren.5
• Der Obere Strafgerichtshof von Eskisehir verurteilte elf Rechtsanwälte zu Freiheitsstrafen zwischen vier und zwölf Jahren.6
• Der Obere Strafgerichtshof von Sivas verurteilte neun Rechtsanwälte zu Freiheitsstrafen zwischen drei und neun Jahren.7
• Der Obere Strafgerichtshof von Adana verurteilte acht Rechtsanwälte zu Freiheitstrafen zwischen drei und neun Jahren.8
Lange Freiheitsstrafen gegen Rechtsanwälte wurden ausgesprochen von verschiedenen Gerichten in Istanbul, Bolu, Antalya, Kocaeli, Nigde, Kirsehir, Kayseri und Izmir.
Allen verfolgten Anwältinnen und Anwälten werden »Terrorismustatbestände« vorgeworfen, Tatbestände, für das türkische Strafgesetzbuch Strafen von bis zu 22,5 Jahren vorsieht.

ausnahmezustand
Am 21 Juli 2016 wurde der Ausnahmezustand erklärt, um, so die offizielle Begründung, die »demokratische Ordnung zu schützen«. Seitdem wurde der dreimonatige Ausnahmezustand bereits sechsmal verlängert. 30 Notdekrete (KHK) wurden seitdem vom Regierungskabinett erlassen, bestehend aus insgesamt 1 194 Artikeln, von denen wiederum mehr als 1 000 neue Gesetze oder erhebliche Änderungen bestehender Gesetze beinhalten. Gesetze, die keiner gerichtlichen Überprüfung unterliegen, da der türkische Verfassungsgerichtshof entschieden hat, dass Dekrete als Ausnahme von der regulären Gesetzgebung auch nicht unter seine Jurisdiktion fallen. Diese Dekrete haben gravierende Auswirkungen auf die Verteidigungsrechte und das Strafverfahren.
Einige Beispiele:
Dekret Nr. 667
Dekret Nr. 667 sieht vor, dass Gespräche zwischen Beschuldigten und Anwälten »aus Sicherheitsgründen« aufgezeichnet und alle ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt werden können. Das gleiche Dekret sieht vor, dass der Verteidiger eines Beschuldigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft entlassen und von der Anwaltskammer durch einen anderen Verteidiger ersetzt werden kann.
Dekret Nr. 667 ermöglicht außerdem die Beschlagnahme und Sichtung der Korrespondenz zwischen dem Beschuldigten und »privilegierten Zeugen«, also Anwälten, aber auch Familienangehörigen.
Mit Artikel 1-a des Dekrets Nr. 667 wurde die zeitliche Frist, innerhalb derer ein Verhafteter einem Richter vorgeführt werden muss, von zuvor 48 Stunden (bzw. vier Tage in Ausnahmefällen) auf 30 Tage verlängert.
Artikel 6.e des Dekrets Nr. 667 schränkt das Besuchsrecht von inhaftierten Beschuldigten und deren Möglichketen der Kommunikation mit der Außenwelt erheblich ein. Das zuvor bestehende Recht, drei Besuchspersonen frei zu wählen, wurde gestrichen. Statt einmal wöchentlich haben Inhaftierte nur noch Anspruch auf ein Telefonat alle zwei Wochen.
Weitere Beschränkungen wurden mit den Dekreten Nr. 667 und 668 implementiert, darunter das Recht der Staatsanwaltschaft, in »dringenden Fällen« die Durchsuchung von Privat- oder Büroräumen (inklusive Anwaltskanzleien) zu verfügen (derartige Durchsuchungsverfügungen müssen einem Richter binnen fünf Tagen zur Prüfung vorgelegt werden). Dies umfasst auch die Durchsuchung von Computern, Datenträgern, etc. Ebenfalls in »dringenden Fällen« können auch verdeckte Ermittlungsmaßnahmen (wie Telekommunikationsüberwachungen) unmittelbar von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden.
DEKRET NR. 668
Dekret Nr. 668 legt fest, dass das Recht eines Beschuldigten in Polizeigewahrsam, einen Anwalt zu konsultieren, von der Staatsanwaltschaft für fünf Tage ausgesetzt werden kann (während dieser Zeit dürfen allerdings keine formalen Erklärungen des Beschuldigten aufgenommen werden).
Dekret Nr. 668 beschränkt weiter das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung, wenn zu befürchten steht, dass dadurch die Ermittlungen gefährdet werden, auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Zuvor bedurfte es hierzu eines richterlichen Beschlusses.
Artikel 3-ç des Dekrets Nr. 668 regelt, dass über die Fortführung der Haft alleine auf Grundlage des schriftlichen Aktenmaterials entschieden werden kann, ohne den Beschuldigten oder seine Verteidigung anzuhören.
DEKRET NR. 676
Artikel 1 des Dekrets Nr. 676 legt fest, dass in Verfahren mit Bezug zu organisierter Kriminalität bei Zeugenbefragungen maximal drei Verteidiger des Angeklagten anwesend sein dürfen. Diese Beschränkung betraf zuvor lediglich das Ermittlungsverfahren und wurde nunmehr auf das Hauptverfahren ausgedehnt.
Artikel 2 des Dekrets Nr. 676 dehnt den Verteidigerausschluss bereits während des Ermittlungsverfahrens aus.9 War es zuvor möglich, einen Verteidiger dann auszuschließen, wenn ein Strafverfahren gegen ihn anhängig ist, reicht dazu nunmehr das Vorliegen einer strafrechtlichen Ermittlung aus. (...)
Artikel 4 des Dekrets 676 enthebt das Gericht von der Verpflichtung, von der Verteidigung vorgebrachte Zeugen zu hören.
Artikel 5 des Dekrets Nr. 676 ermöglicht die gerichtliche Anhörung von Beschuldigten ohne Anwesenheit der Verteidigung.
Im August 2017 veröffentlichte das türkische Justizministerium eine Verwaltungsanordnung unter Artikel 6/g15 des Dekrets 667 zum Ausschluss bestimmter Verteidiger von der Verteidigung. In der Anordnung, die an alle Justizverwaltungen der Provinzen erging, wird gegen alle Verteidiger, gegen die strafrechtlich ermittelt (!) wird, ein Ausschluss von zwei Jahren bestimmt. In Istanbul alleine wurden bislang wenigstens 400 Verteidigerinnen und Verteidiger von der Verteidigung Beschuldigter auf diese Weise ausgeschlossen.

DEKRET NR. 694
Mit Artikel 141 des Dekrets Nr. 694 wird die maximale Dauer der Untersuchungshaft auf sieben Jahre erhöht.
Artikel 142 des Dekrets Nr. 694 ermöglicht die Befragung eines »Undercover Ermittlers« als Zeugen ohne Anwesenheit des Beschuldigten oder der Verteidigung.
Artikel 147 des Dekrets Nr. 694 erlaubt eine reine Videovernehmung des Beschuldigten durch das Gericht ohne weitere Anwesenheit des Beschuldigten.
Artikel 148 des Dekrets Nr. 694 ermöglicht die Verkündigung des Urteils, auch wenn die Verteidigung nicht anwesend ist.
DEKRET NR. 696
Artikel 93 des Dekrets Nr. 696 gibt den Verfolgungsbehörden in Entscheidungen über Haftentlassungen die Möglichkeit des Widerspruchs. Am 1. Februar 2018 wurde bspw. Taner Kılıç, der Vorsitzende von Amnesty International Türkei, bereits vor der gerichtlich verfügten Freilassung auf Grundlage dessen erneut verhaftet.
Artikel 96 des Dekrets Nr. 696 änderte Artikel 20 910 der türkischen Strafprozessordnung. Stand dort zuvor, dass verfahrensrelevante Beweisdokumente und Aufzeichnungen während des Verfahrens verlesen werden müssen, heißt es jetzt, »Dokumente und Aufzeichnungen müssen während des Verfahrens angegeben werden«. Für das Verfahren relevante schriftliche Beweise müssen also nur noch (summarisch) wiedergegeben, nicht aber in vollem Umfang gelesen werden.

folter und menschenunwürdige behandlung inhaftierter
Zugleich wird per Dekret Nr. 667 für alle Handlungen der Verfolgungsbehörden Straflosigkeit garantiert, sofern sie im Zusammenhang mit der Umsetzung des Dekrets geschehen. Personen, die »ihre Pflicht im Rahmen des Dekrets erfüllen« sind weder zivil- oder beamtrechtlich, noch finanziell noch strafrechtlich haftbar zu machen. Dies kommt einem Aufruf an die Verfolgungsbehörden gleich, sich illegaler Verhörmethoden, Folter und unmenschlicher Behandlung zu bedienen, ohne dafür Konsequenzen fürchten zu müssen.
Human Rights Watch hat in diesem Zusammenhang bereits im Oktober 2016 13 Fälle von Misshandlungen in Polizeigewahrsam nachgewiesen.10 Die angewandten Methoden reichten von erzwungenen Stresshaltungen, Schlafentzug, Schlägen und sexuellen Übergriffen.
Die Arrested Lawyers Initiative kann in wenigstens zwei Fällen den Einsatz von Foltermethoden gegen inhaftierte Anwälte nachweisen.11

anmerkungen
1 https://arrestedlawyers.org/category/situation-in-turkey/
2 https://arrestedlawyers.org/2017/07/24/14-presidents-or-former-presidents-of-provincial-bar- associations-were-detained-or-arrested-in-turkey/
3 https://arrestedlawyers.org/2017/10/27/the-20-members-of-konya-bar-association-including-former- president-kayacan-were-sentenced-range-to-2-and-11-years-imprisonment/
4 https://arrestedlawyers.org/2017/07/27/judicial-persecution-former-president-of-erzincan-bar- association-and-former-board-member-were-sentenced-to-9-and-10-years-imprisonment/
5 https://arrestedlawyers.org/2017/10/19/report-the-persecution-on-turkish-lawyers-10-19-october/
6 https://arrestedlawyers.org/2017/07/26/judicial-persecution-11-lawyers-were-sentenced-to-range-4-to- 12-years-imprisonment/
7 https://arrestedlawyers.org/2017/11/20/9-lawyers-in-sivas-were-sentenced-ranging-from-3-to-9-years- imprisonment/
8 https://arrestedlawyers.org/2017/11/20/3-lawyers-were-sentenced-to-9-years-imprisonment-in-adana/
9 With regard to the offences enumerated under Fourth, Fifth, Sixth and Seventh Sections of Fourth Chapter of Second Volume of the Turkish Criminal Code no. 5237 dated 26 September 2004, the offences falling under the Anti-Terror Law no. 3713 dated 12 April 1991 and the collective offences.
10 Human Rights Watch. A Blank Check Turkey’s Post-Coup Suspension of Safeguards Against Torture, p.44, October 2016. https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/turkey1016_web.pdf
11 https://arrestedlawyers.org/2017/08/02/the-scream-of-tortured-turkish-lawyer/ https://arrestedlawyers.org/2017/08/05/876/

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