Strafverteidigertag Rechtspolitik

Raise to the Bottom

Die hohen Standards bei Ermittlungen und Strafverfahren drohen verloren zu gehen. Nur der europäische Gesetzgeber kann das Schlimmste noch verhindern. Dazu braucht es aber mehr Aufmerksamkeit für die Verhandlungen in Europäischem Parlament und Ministerrat. Ein Hilferuf aus Brüssel : von Jan Philipp Albrecht

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Als die Europäische Kommission im Jahr 1999 mit ihrem Vorschlag einer Vollharmonisierung des Europäischen Strafverfahrensrechts beim Kampf gegen Wirtschaftskriminalität durch die Regierungen der EU-Staaten zurückgewiesen wurde, hatte sich Niemand ernsthaft vorstellen können, dass es einmal eine Diskussion über generelle Verfahrensstandards auf EU-Ebene geben würde. Doch diese wird spätestens 15 Jahre später dringend nötig sein. Dass dem so ist, haben sich eben jene Regierungen, die damals auf nationale Souveränität bei den Verfahrensrechten gepocht hatten, selber eingebrockt. Denn der Gegenvorschlag aus dem Ministerrat klang zwar aus Regierungssicht verlockend, ist aber in einer rechtsstaatlichen Demokratie wie ein Bumerang für souveräne Nationalstaaten: die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Verfahren. Mit diesem Mittel konnte ein weitgehender Kooperationsschritt gegangen werden, ohne die nationalen Rechtsordnungen anzupassen. So dachten es jedenfalls die Justiz- und Innenminister, die dies auf EU-Ebene vereinbarten. Dass das Europäische Parlament schon beim Europäischen Haftbefehl eine gleichzeitige Anpassung der nationalen Verfahrensrechte eingefordert hatte, konnten sie damals getrost ignorieren: Vor dem Vertrag von Lissabon gab es die exekutive Alleinherrschaft der »dritten Säule«, Maßnahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit bedurften lediglich einer Anhörung des Europäischen Parlaments. Trotz schwerwiegender verfassungsrechtlicher Bedenken und jahrelanger Kritik an der automatischen Anerkennung und Ausführung von EU-Haftbefehlen ging der Siegeszug der gegenseitigen Anerkennung weiter. Auf Grundlage einer Ratsinitiative wurde 2009 die Europäische Ermittlungsanordnung in das Gesetzgebungsverfahren gegeben, die eben jenes automatische Verfahren auch für die Erhebung und den Austausch von Beweismitteln vorsieht. Erneut fehlen gemeinsame Verfahrensstandards weitgehend. Doch als zu Beginn dieses Jahres die heiße Phase der Verhandlungen begann, wurde plötzlich eines klar.

Das Europäische Parlament hat nun ein volles Mitentscheidungsrecht und fordert weiter ein, was über zehn Jahre versäumt wurde: gemeinsame hohe Standards im Strafverfahren.
Diese Forderung hatte seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages und der Grundrechtecharta nicht nur im Fünfjahresprogramm der EU-Regierungen für den Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts Einzug gehalten, die neu eingesetzte EU-Kommissarin für Grundrechte und Justiz, Viviane Reding, setzte sie mit einem Fahrplan und Gesetzesvorschlägen auf die Tagesordnung. Mehrere Richtlinien sollen so einen Grundstock an gemeinsamen Verfahrensregeln in der EU schaffen, um den in der Praxis sehr unterschiedlichen Standards der EU-Staaten einen Rahmen zu geben. Die erste Maßnahme war wohl die einfachste und wurde dementsprechend schnell verabschiedet. Alle EU-Bürgerinnen und Bürger haben nun ein einklagbares Recht auf Übersetzung, wenn sie in einem EU-Land Adressat eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens sind. Die zweite Maßnahme war bereits umstrittener und konnte erst nach langen und zähen Verhandlungen zwischen Parlament und Rat unter Dach und Fach gebracht werden: Der so genannte EU-Rechtebrief, der bei einer Befragung oder Festnahme über die Verfahrensrechte aufklären soll. Hier zeichnete sich bereits ab, was nun – in Maßnahme drei, die ein verbindliches Recht auf anwaltlichen Beistand festschreiben soll – schon seit Monaten ein massives Hindernis bei der weiteren Schaffung dieser dringend notwendigen gemeinsamen hohen Standards darstellt: Die Regierungen der EU-Staaten merken, dass leere Bekenntnisse nicht reichen, sondern sie tatsächliche Anpassungen in ihren Verfahrensregeln vornehmen müssen. Mangels öffentlichen Drucks hat sich ihre Motivation jedoch offenbar bereits erledigt. Dabei geht es um nichts anderes als die Implementierung der ständigen Rechtsprechung nationaler Gerichte und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Auch angesichts der gleichzeitig massiv vorangetriebenen gegenseitigen Anerkennung von Ermittlungsmaßnahmen braucht es daher endlich Aufmerksamkeit für die Blockadehaltung der Regierungen im Ministerrat. Ansonsten wird sich der gefährliche »Raise to the bottom« bei den Verfahrensrechten in Europa fortsetzen.

Jan Philipp Albrecht (Bündnis 90/Die Grünen) ist Abgeordneter im Europäischen Parlament.

Jan Philipp Albrecht: Raise to the Bottom, in: Freispruch, Heft 1, Sommer 2012

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