Strafverteidigertag Rechtspolitik

34. Strafverteidigertag 2010

34. Strafverteidigertag, Hamburg 26. - 28. Februar 2010

Wehe dem, der beschuldigt wird

»Wehe dem, der beschuldigt wird...« Beschuldigte in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sehen sich einer staatlichen Übermacht gegenüber, der sie - gleichviel ob schuldig oder unschuldig - nicht gewachsen sind. Denn der mit der Beschuldigung konfrontierte Bürger verfügt in der Regel nicht über die erforderlichen Kenntnisse und Ressourcen, dem gegen ihn erhobenen Vorwurf wirkungsvoll zu begegnen. Die Institution der Verteidigung ist notwendig, doch alleine zum Schutz des Beschuldigten nicht ausreichend. Den Strafverfolgungsorganen müssen vielmehr wirksame Grenzen gesetzt und ihre Handlungen einem System ständiger Kontrolle unterworfen werden.

Der Strafverteidigertag befasst sich mit der aktuellen Entwicklung der Strafverfolgungspraxis und zeigt auf, wo in Anbetracht der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung einerseits, der Gesetzgebung und Rechtsprechung andererseits Löcher im Schutz des Beschuldigten - vom Beginn der Ermittlungen bis zur rechtskräftigen Verurteilung - klaffen.

 

Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen im Detail

Arbeitsgruppe 1: Der Geist des Obrigkeitsstaats im Revisionsrecht. Freie Advokatur als Feindbild der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

Kein Rechtsmittel der Strafprozessordnung hat sich seit deren Inkrafttreten so gravierend verändert wie das der Revision.

Einerseits wurde – maßgeblich durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – die Revision im Bereich der Sachrüge deutlich ausgeweitet. Entgegen der ursprünglichen gesetzlichen Konzeption unterliegen heute auch die Tatsachenfeststellungen, die Beweiswürdigung und die Strafzumessung in erheblichem Umfang der revisionsgerichtlichen Kontrolle. Diese Entwicklung ist notwendig und richtig. In einem modernen Rechtsstaat können Urteile, deren tatsächliche Grundlage lückenhaft, widersprüchlich oder aus vergleichbaren Gründen rational nicht nachvollziehbar sind, keinen Bestand haben.

Andererseits schränkt der Bundesgerichtshof die Möglichkeiten, Verfahrensfehler geltend zu machen, erheblich ein. Dies geschieht nicht nur durch überzogene Anforderungen an die Begründung von Verfahrensrügen. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs werden Verfahrensfehler auf vielfältige Weise neutralisiert: Begründungsanforderungen für Beweisanträge werden erhöht (Konnexität), für die Verteidigung werden Beanstandungs- sowie Widerspruchspflichten aufgestellt, absolute Revisionsgründe werden zu relativen Revisionsgründen herabgestuft und es wird zugelassen, dass einer ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge durch nachträgliche Änderung des Sitzungsprotokolls die tatsächliche Grundlage entzogen wird.

Diese Entwertung von Verfahrensrügen missachtet zugunsten der leeren Floskel der »Effektivität der Strafrechtspflege« den Wert rechtsstaatlicher Formen und sieht Strafverteidigung nur als notwendiges Übel. Sie schafft sich im Sinne einer strikten Ergebnisorientierung ein begriffliches Instrumentarium, das sie in die Lage versetzt, letztlich unabhängig vom Vortrag des Beschwerdeführers, das dem jeweiligen Spruchkörper sachgerecht erscheinende Ergebnis des Revisionsverfahrens herbeizuführen.

Dem ist entgegenzuhalten: Das Revisionsgericht ist – trotz seines erweiterten Prüfungsbereichs – kein »Tatrichter hinter dem Tatrichter«, der pragmatisch auf die strikte Einhaltung der Justizförmigkeit des Verfahrens in den Vorinstanzen verzichten könnte. Seine Aufgabe ist die Rechtsprüfung in formeller und sachlicher Hinsicht.

Die Analyse der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Prozessrecht zeigt, dass eine Reihe wichtiger Entscheidungen, die in das strafprozessuale Gefüge eingreifen (Stichworte: Widerspruchslösung, Konnexität, Fristsetzung für Beweisanträge), unter gravierenden Begründungsmängeln leiden. Dies gilt auch für Entscheidungen des Großen Senats. Wesentliche Gegenargumente werden nicht oder allenfalls nebenbei erwähnt, eine nachvollziehbare Auseinandersetzung findet nicht statt. Dieser Zustand ist unhaltbar. Zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist der Bundesgerichtshof zu vollständiger, rational nachvollziehbarer Argumentation rechtlich verpflichtet. Beachtet das Revisionsgericht die argumentativen Strukturen nicht, dann besteht die Gefahr, dass Ergebnisse erzielt werden, die letztlich nicht begründbar sind. Dies sind dann reine »Machtsprüche«.

Es ist Aufgabe der Strafverteidigung, den Bundesgerichtshof durch gut begründete Revisionen unter Druck zu setzen. Die nicht weiter begründete allgemeine Sachrüge sollte die Ausnahme sein. Werden Rügen oder Argumente der Verteidigung übergangen, sollte von dem Verfahren gemäß § 356a StPO Gebrauch gemacht werden, gegebenenfalls Beschwerde wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs zum Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben werden.
Die Arbeitsgruppe fordert die Einführung einer gesetzlichen Verpflichtung zur Begründung des Beschlusses gemäß § 349 Abs. 2 StPO, mit dem eine Revision ohne Hauptverhandlung verworfen wird.

Arbeitsgruppe 2: »Prognose und Strafrecht«

Strafaussetzung, Reststrafenaussetzung, Vollzugslockerungen und Sicherungsverwahrung: die – restriktiv motivierte – Kriminalprognose greift immer mehr Raum im Strafverfahren, während an positive Sozialprognosen zu stellende Anforderungen stetig verschärft werden. Anordnungen nach §§ 63, 64, 66 StGB, und damit diese befürwortende Sachverständigengutachten, steigen dramatisch an, obwohl kein Anstieg von Straftaten in diesem Deliktsbereich statistisch verzeichnet wird. Dabei geht es nicht mehr vornehmlich um die Besserung des bereits verurteilten Täters, sondern um die Bekämpfung seiner vermeintlich fortdauernden Gefährlichkeit.

Der Paradigmenwechsel weg vom Besserungsgedanken und hin zur Sicherungsmaxime, weg von der Spezial- und hin zur Generalprävention, wird durch eine klischeehafte Berichterstattung medial unterfüttert, die der empirischen Realität widerspricht.
Standards der Prognosebegutachtung haben insgesamt eine deutliche qualitative Verbesserung erfahren. Es zeigt sich jedoch, dass eine Vielzahl vorgelegter Prognosegutachten diesen Standards nicht gerecht wird. Insgesamt ist die Prognosebegutachtung in der Praxis wenig zuverlässig, fehleranfällig und durch subjektive Einstellungen bedingt. Trotz systematischer methodischer Forschung fehlt es an einer umfassend anerkannten, allgemeingültigen Methodik - und an der Gewährleistung qualitativer Begutachtungsstandards. Statistische Untersuchungen fördern folgerichtig gravierende Fallzahlen negativer Falschprognose zu Tage.

Die Kriminalprognose ist ein lukratives Geschäftsfeld geworden, auf dem sich neben seriösen auch vermeintliche Sachverständige tummeln. Dass Gerichte und Sachverständige zunehmend von der Angst bestimmt sind, in der Folge positiver Fehlprognosen öffentlichem Pranger ausgesetzt zu sein, verstärkt die Tendenz zur Negativprognose. Insgesamt besteht die Tendenz zur unangebrachten Übersicherung.

Prognosebegutachtung leidet insbesondere auch darunter, dass die gesetzlichen Vorraussetzungen und Grundlagen vage und z. T. widersprüchlich formuliert sind.

Die Arbeitsgruppe fordert:

- Strafrecht darf nicht zum Gegenstand sicherheits- und tagespolitisch motivierter Bedürfnisse der Gefahrenabwehr verkommen. Neben der Ahndung begangenen Unrechts hat die Resozialisierung im Fordergrund zu stehen.
- Im Interesse eines Behandlungsvollzugs, der diesen Namen auch verdient, muss eine freie Gesellschaft Rückfallrisiken tragen. Etwas anderes ist nur möglich um den Preis des Wegsperrens einer Vielzahl von Menschen, bei denen eine einschlägige Rückfallgefahr tatsächlich nicht existiert.
- Vollzugslockerungen sind Voraussetzung jedes am Resozialisierungsgedanken orientierten Vollzugs.
- Gutachten müssen auch Laien verständlich sein. Sie müssen vom Richter überprüfbar sein. Ihre schriftliche Abfassung und die persönliche Anwesenheit des Sachverständigen bei der Verhandlung bzw. Anhörung sind unabdingbare Voraussetzungen von Verteidigung.

Eine von Straftaten freie Gesellschaft ist ebenso Illusion, wie eine von Rückfallrisiken freie Entlassung verurteilter Straftäter.

Arbeitsgruppe 3: »Labeling«

»Labeling« kann dazu führen, dass eine frühzeitige Stigmatisierung bereits Strafunmündiger zu anderen Reaktionen und schärferen Sanktionen führt, als dies ohne ihre vorherige Prägung der Fall wäre. »Labeling« beeinflusst mithin nicht nur die Wertung des Täters. Darüber hinaus erhält die Tat in ihrer Bewertung einen besonderen Charakter.

Die Theorie des »Labeling« kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur unter Berücksichtigung unterschiedlicher soziologischer und kriminologischer Wertungsbereiche, wie die Herkunft, das familiäre und soziale Umfeld.

Eine besondere Ausprägung dieser Art von Stigmatisierung erfahren heutzutage sogenannte »jugendliche Intensivtäter«, die ein Produkt eines Sanktionenapparates von Jugendamt, Polizei, Gericht und Strafvollzug sind. Zudem übernimmt der Jugendliche die Definition als Delinquenter in sein Selbstbild, d.h. er beginnt sich als solcher zu sehen und auch entsprechend dieser Sichtweise zu handeln. Die Schwelle zum Verbotenen wird niedriger, das Unerlaubte selbstverständlicher und die ungelöste Problematik größer. Die Festlegung der eigenen Rolle geschieht spätestens in der Jugendstrafanstalt. Der Staat reagiert mit entsprechender Härte und vergrößert das Problem auf diese Weise.

Es entsteht der Eindruck, dass die Gründung von »Intensivtäterabteilungen« bei der Staatsanwaltschaft, die Durchführung von sog. »Fallkonferenzen« unter Beteiligung von Polizei, Schule, Jugendamt, Jugendgerichtshilfe, Staatsanwaltschaft (und ohne Verteidiger!) sowie die besondere »Betreuung« durch Sondersachbearbeiter der Polizei, lediglich aus Hilflosigkeit und aufgrund öffentlichen Drucks entstehen. Eine entsprechende Förderung in den Jugendstrafanstalten findet nicht statt.

Jugendlichen mit sog. »Migrationshintergrund«, die einen großen Teil der sog. jugendlichen »Intensivtäter« ausmachen, erfahren eine Fortführung dieser Stigmatisierung auch in außerstrafrechtlichen Bereichen. Dies führt zu einer Vertiefung der Problematik. Anstelle dessen sind Lösungsansätze in der Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten und der sozialen Hilfsangebote zu finden. Dies muss durch eine Liberalisierung der ausländerrechtlichen Praxis begleitet werden.

Arbeitsgruppe 5: »(Mehr) Transparenz im Strafverfahren«

Diskussionsgrundlage war in erster Linie der Gesetzentwurf des Strafrechtsausschusses der BRAK zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik vom 18.02.2010.
Bei den Polizeibehörden wird einer Videovernehmung eher mit Skepsis begegnet. Man hat Angst davor, sich dieser Kontrolle auszusetzen. Für die Entlarvung des bewusst täuschenden und lügenden Vernehmungsbeamten ist auch die Videovernehmung kein Allheilmittel. Die Strafverteidigung wird hier ihrer Rolle als Kontrollinstanz weiterhin gerecht werden müssen.

Die Glaubwürdigkeitsprüfung hängt nicht von der Rolle des Aussagenden ab, die dieser im Verfahren hat. Bei der Überprüfung von Geständnissen hat die Verteidigung sich über internale und situative Risikofaktoren bei dem Gestehenden zu informieren. Eine Videoaufzeichnung aller Gespräche mit dem Beschuldigten, d.h. das Vorhandensein von authentischen Protokollen (Wortprotokollen) ist für eine wirkliche Überprüfung von Geständnissen unabdingbar.

Die Revisionsverteidigung ist auf eine Dokumentation der Hauptverhandlung, die diesen Namen verdient, angewiesen. Das Vorhaben einer Videodokumentation der Hauptverhandlung wird von den Teilnehmern der AG unterstützt. In Ergänzung zum BRAK-Entwurf ist zu fordern, dass das Video als Protokollbehelf nach jedem Hauptverhandlungstag zu den Akten genommen wird und damit noch in laufender Hauptverhandlung nach § 147 StPO für die Verteidigung einsehbar wäre. Damit könnten Unklarheiten in der Beweisaufnahme, die sich bspw. nach einer Erklärung eines Verfahrensbeteiligten gem. § 257 StPO ergeben, geklärt werden.
Erfahrungen aus anderen Rechtskreisen zeigen, dass eine Videoaufnahme der Hauptverhandlung einen gewissen Disziplinierungseffekt auf die Verfahrensbeteiligten hat.

Für die Videodokumentation im Ermittlungsverfahren insbesondere bei Beschuldigtenvernehmungen wird eine Regelung der Ausgestaltung solcher Vernehmungen gefordert, um Manipulationsmöglichkeiten zu minimieren. Auch sollte der Einfluss der Videovorrichtung auf das Aussageverhalten der Beschuldigten wissenschaftlich begleitet werden. Bemängelt wird, dass in § 136 nF. keine Belehrungspflicht über die Videovernehmung enthalten ist. Wegen der möglichen ausschlaggebenden Bedeutung einer solchen Vernehmung für das weitere Verfahren wird eine zwingende Verteidigerbeiordnung bei einer geplanten Videovernehmung eines Beschuldigten gefordert.

Arbeitsgruppe 6: Wiederaufnahme

Die Arbeitsgruppe hat festgestellt, dass der außerordentliche Rechtsbehelf der Wiederaufnahme in Strafsachen ein Schattendasein führt. Um dem langfristig entgegenzuwirken, scheint eine fundiertere Befassung mit diesem Thema bereits zu Beginn der Juristenausbildung notwendig zu sein.

Dem Verurteilten muss die Möglichkeit eröffnet werden, sowohl bei der Kriminalpolizei als auch bei der Staatsanwaltschaft asservierte Spuren fachkundig untersuchen zu lassen, sofern die Möglichkeit einer Erschütterung der Urteilsgründe durch das Ergebnis einer solchen Untersuchung ernsthaft in Betracht kommt. Eine solche Verfahrensweise ist in den USA ohne Weiteres möglich und hat im Rahmen des sogenannten »Innocence-Projects« zur Freilassung von 220 rechtskräftig verurteilten Personen geführt. Die Arbeitsgruppe empfiehlt, ein ähnliches Projekt in Deutschland zu etablieren, das seine Ressourcen in einer Stiftung oder an einem Lehrstuhl einer Universität bündeln sollte. Dort soll der unkomplizierte Kontakt zu Sachverständigen aller Professionen ermöglicht werden.

In Fällen möglicher Wiederaufnahme gemäß §§ 359 Ziffer 2 und 3; 364 StPO ist dem Verurteilten das Beteiligungsrecht eines Nebenklägers einzuräumen. Diese Verfahren werden zwar gegen die Zeugen geführt, betreffen sein späteres Wiederaufnahmegesuch jedoch direkt.

Die Beteiligung des – früheren – Verteidigers an einem prozessordnungswidrigen »Deal«, der vom Verurteilten nicht selbst veranlasst wurde, ist ein absoluter Wiederaufnahmegrund.

Zur effektiven Verteidigung in Wiederaufnahmesachen ist eine angemessene Honorierung erforderlich. Die geltenden Vorschriften des RVG sollten angepasst werden.

Schon im Hinblick auf das Informationsbedürfnis der Beteiligten im laufenden Verfahren sind die technischen Möglichkeiten eines Inhaltsprotokolls in der Hauptverhandlung einzusetzen.

Die Verkürzung der Rechtskraft ist jedenfalls dann unangemessen, wenn es um einen unschuldig Verurteilten geht. Der Rechtsfriede bliebe trotz Rechtskraft gestört.

Resolution des 34. Strafverteidigertages zur Beiordnung nach neuem Recht

Die ersten 50 Tage der Neuordnung des Haftrechts und der gerichtlichen Beiordnungspraxis nach neuem Recht wecken ernsthafte Befürchtungen, dass Gerichte und Staatsanwaltschaften die Neuregelung zum Anlass eines Systemwechsels nehmen oder als Auftrag hierzu verstehen: die freie Verteidigerwahl systematisch zugunsten einer Verteidigerbestimmung nach Maßgabe der Strafverfolgungsbehörden abzuschaffen.

Verbreitet wird qualifiziertes rechtliches Gehör vor Beiordnung nicht gewährt und unmittelbar nach Verkündung des Haftbefehls der vom entscheidenden Richter ausgewählte Rechtsanwalt beigeordnet.

Neben diese Beiordnungspraxis tritt häufig die Verhinderung des Zugangs anderer Verteidiger zum Beschuldigten. Die weite Verbreitung dieser Praxis lässt die gleiche Handschrift erkennen und einheitliche Steuerung vermuten.

Federführend sind von der Staatsanwaltschaft München in einem „Praktischen Leitfaden zur Umsetzung des Untersuchungshaftrechts ab 01.01.2010“ Richtlinien zur Erteilung von Sprechscheinen an Rechtsanwälte für Anbahnungsgespräche beim Inhaftierten erlassen worden. Diese haben über die Generalstaatsanwaltschaften Verbreitung auch in anderen Bundesländern gefunden und werden dort, insbesondere in Bayern und NRW, verbreitet angewandt.

Geregelt wird, dass „nur derjenige Verteidiger Zutritt erhält, der vom Beschuldigten gewählt ist. Insoweit ist es nicht ausreichend, wenn Freunde, Verwandte … den Rechtsanwalt auffordern, den Beschuldigten zu besuchen. Der Verteidiger möge entweder aufgefordert werden, einen solchen Wunsch des Beschuldigten nachzuweisen …, oder aber sollte … der Beschuldigte mündlich oder schriftlich gefragt werden … , ob er diesen Verteidiger sprechen möchte (insbesondere wenn eine Fortsetzung der Vernehmung geplant ist oder weitere Vernehmungen geplant sind).“

In NRW werden Sprechscheine bei einzelnen Staatsanwaltschaften in der Praxis nur noch erteilt, wenn ein schriftlicher Besuchswunsch des Inhaftierten vorgelegt wird.

Der Strafverteidigertag 2010 versteht diese Praxis als nachhaltigen Angriff auf freie Verteidigerwahl und effektive Strafverteidigung. Der Strafverteidigertag 2010 verurteilt diese Praxis und fordert, dass jedem Rechtsanwalt, der glaubhaft macht, den Besuchsauftrag zu einem Anbahnungsgespräch zu haben, der unverzügliche Zuritt zu dem Inhaftierten ermöglicht wird.

Soweit der ‚Leitfaden’ sich als Abwehrmittel gegen unlautere Mandatsanbahnungsversuche versteht, ist darauf hinzuweisen, dass die Verhinderung unzulässiger Mandantenabwerbung Sache der Anwaltschaft und nicht um den Preis des freien Zugangs zu dem Inhaftieren zu erreichen ist.

Der Strafverteidigertag 2010 sieht weiterhin Anlass, nachdrücklich die Gewährleistung qualifizierten rechtlichen Gehörs des Beschuldigten vor Beiordnung eines vom Gericht ausgewählten Verteidigers zu fordern.

Eröffnungsvortrag:

RA Dr. Bernd Wagner
»Strafverteidigung als Privileg«

»Strafverteidigung ist privilegiert, weil sie sich um die Mandanteninteressen und nicht um die angebliche Funktionsfähigkeit der Justiz kümmern muss. Sie darf, soll und muss engagiert und mit allen rechtlich dafür zu Gebote stehenden Mitteln um jene Wahrheit kämpfen, die für den Mandanten streitet, egal wo wir diese Wahrheit entdecken.
Hier, beim Kampf um die Wahrheit, verorte ich in meiner Praxis vor Gericht die Keimzelle jener Angriffe von Seiten der Justiz, die einen Missbrauch von Verteidigungsrechten behaupten.«