Dr.
Michael Jasch Maßregeln
der Besserung und Sicherung als Bausteine eines neuen Sicherheitsstrafrechts Beitrag
zur AG 6: Die Unerwünschten - Strafverteidigertag Köln - 28.02.2009
Kaum
ein anderes strafrechtliches Reaktionsinstrumentarium hat während der vergangenen
Jahre eine ebenso gewaltige wie überraschende Konjunktur erlebt wie die Maßregeln
der Besserung und Sicherung. Das gilt für ihren Einsatz in der Rechtswirklichkeit
ebenso wie für die kriminalwissenschaftlichen Debatten um ihre Ausgestaltung
und die Reformbestrebungen des Gesetzgebers. Doch die Renaissance insbesondere
der freiheitsentziehenden Maßregeln kann als Teil einer größeren
Entwicklung betrachtet werden, die einer schrittweisen Umgestaltung des Strafrechts
hin zu einem der Gefahrenabwehr und Risikovorsorge verpflichten Sicherheitsrecht
entspricht und mehr denn je nach einer qualitativ hochwertigen und engagierten
Arbeit von Strafverteidigern verlangt. Nach einem Blick auf die Rechtswirklichkeit
der freiheitsentziehenden Maßregeln während der vergangenen Jahre (dazu:
1.) soll hier aufgezeigt werden, dass sich diese als Teil einer umfangreicheren
Entwicklung des Strafrechts hin zu einem Sicherheitsrecht darstellt (2.), deren
Ursachen im sozio-kulturellen Bereich zu verorten sind (3.) und der es mit neuen
Argumentationsstrategien entgegenzutreten gilt (4.). 1.
Die Renaissance der Maßregeln
Im
Jahr 1933 kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme durch das
»Gewohnheitsverbrechergesetz« in das Strafgesetzbuch eingeführt,
blieben die Maßregeln der Besserung und Sicherung dogmatisch stets ein Fremdkörper
im deutschen Strafgesetzbuch, da sie im Gegensatz zum übrigen Sanktionssystem
nicht an die begangene Tat sondern primär an eine für die Zukunft prognostizierte
Gefährlichkeit des Angeklagten anknüpfen. Ihre Einfügung in das
vormals konsequent dem Schuldprinzip verpflichtete StGB stellte sich dar als Kompromiss
in einem jahrzehntelangen Streit[1]
über den
Zweck strafrechtlicher Sanktionen: Sollte die Strafe allein eine Vergeltung für
die schuldhaft begangene Tat sein oder vielmehr (auch) gesellschaftlich nützliche,
und damit präventive Zwecke verfolgen. Durch die Schaffung der Maßregeln
als einer »zweiten Spur« von Sanktionen wurde ein gesondertes Instrument
der Sicherheitsgewährleistung gegenüber schuldunfähigen oder besonders
gefährlichen Tätern geschaffen, ohne zugleich die Kriminalstrafe gänzlich
mit präventiven Erwägungen aufzuladen: Sicherheit durch Sicherung und/oder
Behandlung des Täters wurde damit auch in den Fällen möglich, in
denen eine längerfristige Freiheitsstrafe mangels Schuldfähigkeit des
Täters oder aufgrund einer nur geringen Tatschuld nicht möglich ist.
Doch für lange Zeit spielten die Maßregeln weder in der Rechtspraxis
noch im kriminalwissenschaftlichen Diskurs oder für den Gesetzgeber eine
bedeutsame Rolle. Seit etwa dem Beginn der 1990er Jahre hat sich das geändert.
1.1.
Unterbringungen nach §§ 63, 64 StGB Deutlich
wird dieser Bedeutungswandel anhand der quantitativen Entwicklung der strafrichterlichen
Anordnungen von Maßregeln. So sind die Unterbringungen in einem psychiatrischen
Krankenhaus gemäß § 63 StGB nach 1970 in der Bundesrepublik zunächst
zwar konstant, aber insgesamt nur sehr geringfügig angestiegen (siehe Grafik
unten). Dieses Bild änderte sich im letzten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts.
Allein zwischen 1990 und dem Jahr 2000 stieg die Zahl dieser Maßregelanordnungen
um 75,5 Prozent, bis 2006 sogar um 84,3 Prozent an. Noch wesentlich drastischer
stellen sich die Steigerungsraten bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
(§ 64 StGB) dar. In den 16 Jahren zwischen 1990 und 2006 war ein Anstieg
dieser Anordnungen um 156 Prozent zu verzeichnen. Ein anhaltender Aufwärtstrend
bildet sich zwar auch in dem jüngsten verfügbaren Berichtsjahr 2007
für beide Arten der Maßregeln ab, die Daten für dieses Jahr sind
jedoch mit den Werten aus den vorangegangenen Jahren nicht vergleichbar, da für
2007 erstmals Gesamtzahlen für alle deutschen Bundesländer vorliegen.[2]
Grafik:
Anzahl
strafrichterlicher Unterbringungen gemäß §§ 63, 64 StGB sowie
in der Sicherungsverwahrung[3] 1975-2007 (bis 1993: früheres Bundesgebiet
mit Berlin-West; 1994-2006: früheres Bundesgebiet mit Berlin; 2007: Deutschland)
Datenquelle:
Statistisches Bundesamt Wiesbaden: Strafverfolgung, Fachserie 10, Reihe 3, Tab.
5.1 für die jeweiligen Jahre.
Doch
diese Unterbringungen werden nicht nur immer häufiger von den Gerichten verhängt,
auch die Verweildauer der Abgeurteilten in den Einrichtungen ist offenbar deutlich
gestiegen. Regelmäßig erhobene amtliche Statistiken über die Unterbringungsdauer
fehlen zwar noch immer.[4] Doch die fortwährenden Anstiege der zu einem bestimmten
Zeitpunkt untergebrachten Personen sowie einzelne empirische Studien deuten auf
einen allgemeinen Trend zu einer immer längeren Freiheitsentziehung im Maßregelbereich
hin. Zu diesem Ergebnis gelangte auch die seit einigen Jahren durchgeführte
Stichtagserhebung der Wiesbadener Kriminologischen Zentralstelle: Von 2002 bis
zum Jahr 2006 stieg die Unterbringungsdauer in psychiatrischen Krankenhäusern
von einem Mittelwert von 4,5 auf fast 6 Jahren an - und damit auf den höchsten
bisher in dieser Erhebung gemessenen Wert.[5] Und in den zehn Jahren zwischen
1998 und 2008 erhöhte sich die Zahl der aufgrund strafrichterlicher Unterbringung
in einer psychiatrischen Klinik einsitzenden Menschen um 78 Prozent - ein deutlich
stärkerer Anstieg als bei den entsprechenden Aburteilungen im selben Zeitraum.
Moderater fiel die Steigerung der Bestandszahlen in den Entziehungskliniken aus,
da die Unterbringungsdauer gemäß § 67 d StGB auf zwei Jahre begrenzt
ist: Während in diesen Kliniken 1998 noch 1529 Personen untergebracht waren,
belief sich die Belegung im Jahr 2008 auf 2656 abgeurteilte Täter.[6] Für
beide Formen der Maßregeln lässt sich vor allem anhand eines Vergleiches
von Zu- und Abgangszahlen belegen, dass die Verweildauer in den Einrichtungen
spätestens seit Mitte der 1990er Jahre deutlich angestiegen ist.
1.2
Expansion der Sicherungsverwahrung Während
der Wortlaut der Vorschriften über die Maßregeln nach §§
63, 64 StGB in den vergangenen Jahrzehnten nur geringfügig geändert[7]
worden ist, erlebte das Instrument der Sicherungsverwahrung eine wahre Flut von
Änderungen, die allesamt in eine Richtung gingen: einer Ausweitung des Anwendungsbereichs
dieser wohl schärfsten Präventivsanktion des deutschen Strafrechts.[8]
Den vorläufigen Höhepunkt der gesetzlichen Ausweitung stellt die Einführung
[9] der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Jugendliche dar, die
einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung möglicherweise nicht
standhalten wird.[10] Insbesondere der Verzicht auf die neuen Tatsachen oder einen
so genannten »Hang« als gesetzliche Hürden vor einer übereilten
und unverhältnismäßigen Entscheidung macht die Regelung zu einem
rechtsstaatlich bedenklichen Instrument, das in kriminologischer Hinsicht den
Kerngedanken des Jugendkriminalrechts widerspricht und gravierende negative Folgen
für die Ausgestaltung des Strafvollzuges haben wird. Wenig
überraschend ist, dass sich die legislative Ausweitung der Sicherungsverwahrung
auch in der Rechtspraxis niedergeschlagen hat. In den 1970er Jahren noch nahezu
bedeutungslos, erlebte auch diese Sanktion seit den 1990er Jahren eine Art Renaissance.
Wurde 1990 noch bei 31 Straftätern die Sicherungsverwahrung angeordnet, geschah
dies im Jahr 2006 bereits gegenüber 83 Personen - eine Steigerung um 168
Prozent. Eine gewisse Trendwende scheint sich hier allerdings im jüngsten
verfügbaren Berichtsjahr der Justizstatistiken anzudeuten: Obwohl für
2007 erstmals Daten aus allen deutschen Bundesländern vorlagen ging die Anzahl
der angeordneten Sicherungsverwahrungen in jenem Jahr erstmals seit 1990 leicht
auf 79 Aburteilungen zurück (vgl.: Grafik oben).
2.
Bausteine des Sicherheitsstrafrechts Die
Konjunktur der Maßregeln stellt kein isoliertes Phänomen innerhalb
des Strafrechts dar sondern fügt sich nahtlos ein in eine Rechtsentwicklung,
die vor allem in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts spürbar wurde: Schrittweise
aber kontinuierlich entwickelt sich das Strafrecht von einem retrospektiv-reaktiven
hin zu einem präventiv-proaktiven Instrument. Das ursprünglich schuldvergeltende
Strafrecht mit einer präventiven Zweckbestimmung wird dabei zum Teil umgewandelt
in ein Sicherheitsrecht.[11] Für diesen neuen Typus eines Sicherheitsstrafrechts
sind vor allem vier Eigenschaften charakteristisch: (1)
Sicherung: Die Entwicklung des Rechts und der Kriminalpolitik sind Ausdruck eines
gewandelten Verständnisses von »Prävention«. Zwar ist eine
in erster Linie präventive Zweckbestimmung des Strafrechts bereits seit Jahrzehnten
in Deutschland vorherrschend und weder derzeit noch für die absehbare Zukunft
zeichnet sich eine sinnvolle Alternative[12] zu ihr ab. Deutlich gewandelt hat
sich aber in den vergangenen zehn bis 15 Jahren, was genau unter »Prävention«
verstanden wird. Während noch bis in die frühen 1990er Jahre hinein
sozial helfende, resozialisierende und kooperative Strategien der Prävention
vorherrschend waren, arbeiten die jüngeren Reformen mit einer ganz anderen
Seite der Kriminalprävention: Die schon seit den Werken des Franz von Listz[13]
bekannte spezialpräventive Sicherung des Straffälligen durch Einsperrung
oder engmaschige Überwachung wird wieder zu einem beliebten Instrument. Der
Bedeutungszuwachs der freiheitsentziehenden Maßregeln ist dafür ein
offensichtlicher Beleg. Doch auch die Strafrahmenerhöhungen für bestimmte
Delikte, die Aufwertung des Vollzugszwecks »Schutz der Allgemeinheit«
durch die Strafvollzugsgesetze in einigen Ländern[14] und die Ausweitung
der Untersuchungshaftgründe weisen in die selbe Richtung. Diese Dominanz
der »Unschädlichmachung« (v. Listz) durch Einsperrung ist das
wichtigste Merkmal, durch das sich das Sicherheitsstrafrecht von früheren
deskriptiven Konzepten wie denen des »Risikostrafrechts«[15] oder
des »Präventionsstrafrechts«[16] unterscheidet.
(2) Gefahrenvorsorge:
Im Verfahrensrecht, insbesondere hinsichtlich des Ermittlungsverfahrens, tritt
der konkrete Anfangsverdacht als Voraussetzung eines Eingriffs in Bürgerrechte
in den Hintergrund. Mit der Begründung, dies sei für eine Abwehr schwerster
Straftaten unabdingbar, entsteht ein komplett neuer Bereich, der als »Vorfeldermittlung«,
»vorbeugende Verbrechensbekämpfung« oder »Gefahrenvorsorge«
tituliert wird.[17] Besonders spürbar wird dies auf dem Gebiet der Sammlung
und Verarbeitung personenbezogener Daten: Mittlerweile reicht schon die wiederholte
Begehung von Bagatellstraftaten für eine zwangsweise Entnahme von Körperzellen
und die polizeiliche Speicherung der daraus gewonnenen DNA-Profile aus (§
81 g Absatz 1 Satz 2 StPO).[18] Die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten,
die präventiven Möglichkeiten der Telefonüberwachung[19], aber
auch der Online-Zugriff von Ermittlern auf private Computer und die vorbeugende
Ermittlungskompetenz des Bundeskriminalamtes[20] bilden die zentralen Bausteine
bei der Ausweitung von Grundrechtseingriffen schon im Vorfeld einer Gefahr.
(3) Vorverlagerungen:
Bereits die oben skizzierten Punkte beschreiben eine Vorverlagerung des strafrechtlichen
Eingriffsspektrums in den Bereichen Sanktionierung und Ermittlung. Darüber
hinaus weisen auch die Normen des materiellen Strafrechts die selbe Tendenz auf,
und das schon seit mehreren Jahrzehnten. Die Kritik an einer Ausweitung der Strafbarkeit
für rein abstrakte Gefahrverursachungen reicht bis in die 1960er Jahre zurück.[21]
Aufhalten konnte diese Kritik die Ausdehnung des Strafrechts weit in das Vorfeld
einer Rechtsgutverletzung hinein jedoch nicht. Der gerade neu eingeführte
Straftatbestand der Vorbereitung staatsgefährdender Gewalttaten (§ 89
a) treibt diese Entwicklung einer Ausdehnung der Strafbarkeit in die Vorbereitungsphase
hinein in verfassungsrechtlich problematischer Weise auf die Spitze.
(4) Verlust
an Bestimmtheit: Die Formulierung möglichst bestimmter Tatbestandsmerkmale
ist aus der Mode gekommen. Häufig sind neue Straf- und Strafverfahrensnormen
heute »nur noch Problembeschreibungen, aber keine Regelungen.«[22]
Der Gesetzgeber bedient sich in bedenklich großem Umfang unbestimmter Rechtsbegriffe
oder generalklauselartiger Formulierungen und delegiert damit die Voraussetzungen
der Strafbarkeit, der Sanktionsentscheidung oder von grundrechtsrelevanten Ermittlungseingriffen
an die Rechtsanwender. Die interpretationsoffene Gleichstellung verschiedener
Unrechtswerte in § 81 g Absatz 1 Satz 2 StPO, die »schwerwiegende Beeinträchtigung«
der Lebensgestaltung (§ 238 StGB) und die verbreitete Anknüpfung an
höchst unsichere Gefährlichkeitsprognosen[23] oder -erwartungen stellen
Beispiele für diese problematische Entwicklung dar. Mit dieser Regelungstechnik
geht automatisch eine Veränderung des Machtgefüges innerhalb der Kriminalrechtspraxis
einher: Die Entscheidungsmacht verlagert sich zunehmend vom Gesetz auf die Gesetzesanwender.
Nicht mehr das Parlamentsgesetz, sondern die Juristen herrschen über das
Recht. Diese schon im Hinblick auf die Gewaltenteilung bedenkliche Machtverschiebung
erfolgt auf mehreren Ebenen. Sie wird einerseits durch die genannten Bestimmtheitsverluste
in materiellrechtlicher Hinsicht bewirkt und gewinnt andererseits auch auf der
verfahrensrechtlichen Ebene an Boden. Rechtsentwicklungen wie die gesetzliche
Regelung [24] des »Deals« im Strafverfahren durch § 257 c StPO
und sein zunehmender Gebrauch in der Praxis sowie die enorme Bedeutung informeller
Verfahrenserledigungen mit sanktionsähnlichen Auflagen schon durch die Staatsanwaltschaft
verstärken diese Tendenz auf ihre Weise. Zugleich
weist diese Entwicklung auf die steigende Bedeutung einer qualitativ hochwertigen
und engagierten Strafverteidigung hin. Wo - wie etwa bei den Entscheidungen über
Maßregeln - die Ausfüllung von Beurteilungsspielräumen entscheidend
ist und ein potentiell unbefristeter Freiheitsentzug für den Mandanten auf
dem Spiel steht, kann auf eine hoch qualifizierte Verteidigungsarbeit nicht verzichtet
werden. Leider fehlen bis heute Evaluationen der Strafverteidigung in diesem Bereich
oder Mechanismen innerhalb der Anwaltschaft, die für eine nachhaltige Qualitätssicherung
sorgen. 3.
Hintergründe des Wandels
Konkrete
Ursachen für diese neue Orientierung des Strafrechts nachzuweisen ist angesichts
der komplexen Genese kriminalpolitischer Entscheidungen ausgesprochen schwierig.
Simplifizierende oder gar monokausale Zuschreibungen wären bei der Suche
nach möglichen Hintergründen gänzlich unangebracht, da hier ein
Konglomerat von justiziellen, polizeilichen und politischen Interessen, spektakulären
Ereignissen, gesellschaftlichen Mechanismen und Befindlichkeiten und nicht zuletzt
individuellen und kollektiven Emotionen wirksam ist, das empirisch schwer zugänglich
ist. Nicht
erklärt werden kann dieser Paradigmenwechsel zumindest mit der registrierten
Kriminalitätsentwicklung. Die vorsätzlichen Tötungsdelikte in der
Bundesrepublik gehen bereits seit 1993 Jahr für Jahr zurück, ihr Fallaufkommen
ist heute geringer als noch Ende der 1980er Jahre. Ein leichter Anstieg der Anzahl
von Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen lässt sich vor allem auf
eine 1998 erfolgte Änderung der relevanten Normen des StGB zurückführen.
Vielmehr hat sich das Entscheidungsverhalten der Gerichte geändert: 2006
war der Anteil der verhängten Maßregeln an allen strafrechtlichen Aburteilungen
doppelt so hoch wie im Jahr 1988 - wenn auch auf sehr niedrigem Niveau.[25]
Zu einfach
wäre es auch, die Strafrechtsentwicklung zuvörderst auf die Terroranschläge
am 11. September 2001 in den USA oder die nachfolgenden Attentate in London und
Madrid zurückzuführen. Diese Ereignisse haben die Rechtsentwicklung
sicherlich gravierend beschleunigt und - vor allem im Nebenstraf- und Verwaltungsrecht
- zu umfangreichen gesetzgeberischen Aktivitäten[26] geführt. Doch die
Priorisierung der sicherheitsorientierten Prävention im Strafrecht setzte
schon Jahre vor diesen Ereignissen[27] ein und manifestierte sich in einer umfangreichen
Gesetzgebung zur »Bekämpfung« der Sexualdelikte und der Organisierten
Kriminalität. Um nur einige Stationen dieser langfristigen Sicherheitsstrategie
zu nennen: Massive Strafrahmenerhöhungen wurden durch das Gesetz zur Bekämpfung
der Organisierten Kriminalität vom Juli 1992 für Fälle wiederholter
und gewerbsmäßiger Deliktsbegehung eingeführt, wobei die harten
Freiheitsstrafen keineswegs nur mafiöse Gruppen, sondern auch die »ganz
normale« und typische Jugenddelinquenz treffen.[28] Wenige Jahre später
brachte das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten[29] weitere drastische
Strafverschärfungen und senkte die Anordnungsvoraussetzungen für die
Sicherungsverwahrung ab. Lange bevor in der Öffentlichkeit vom Phänomen
»internationaler Terrorismus« auch nur gesprochen wurde waren hier
die Sexualdelikte zu einem »Motor der Kriminalpolitik«[30] geworden.
Ebenso falsch wäre es, die repressive Rechtswirklichkeit allein mit den in
den vergangenen Dekaden erfolgten Gesetzesänderungen zu erklären. So
lassen sich insbesondere die hier besprochenen Steigerungsraten bei den Maßregeln
nach §§ 63, 64 StGB nicht auf zeitnah erfolgte Gesetzesreformen zurückführen.
Anzunehmen
ist vielmehr, dass die Sicherheitsorientierung durch ein Netz von gesellschaftlichen
Faktoren, die miteinander in einer Wechselbeziehung stehen, verursacht wird. Ein
nicht zu unterschätzender Faktor dürfte dabei die zunehmende Kontingenz
der Lebensläufe von Bürgern in den europäischen Staaten sein. Im
Zuge des Prozesses, der mit dem - oft überstrapazierten und zu pauschal verwendeten
- Begriff »Globalisierung« bezeichnet wird, ist für eine breite
Masse der Menschen das Leben in Bezug auf kulturelle und normative Orientierung,
auf Bildung, Alters- und Gesundheitsversorgung, Erwerbstätigkeit und damit
auch auf ihre persönlichen Beziehungen in einem bisher nicht gekannten Ausmaß
unsicher geworden. Diese sozio-ökonomische Entwicklung ist verhältnismäßig
neu. Sie begünstigt bei einer Vielzahl von Menschen das Bedürfnis, Sicherheit
im weitesten Sinne »zu erleben«. Dafür kommt es nicht einmal
auf eine unmittelbare Verbesserung der eigenen objektiven Sicherheitslage an.
»Sicherheit« als emotionale Qualität kann vielmehr auch durch
symbolische Politik erzeugt und erlebt werden. Zugleich
bietet eine plakative und repressive Kriminalpolitik den staatlichen Institutionen
die Möglichkeit ihre Handlungsfähigkeit auf öffentlichkeitswirksame
Weise zu demonstrieren. Nicht zum ersten Mal hinterlässt die gegenwärtige,
durch Finanzspekulationen verursachte Weltwirtschaftskrise den Eindruck, die staatlichen
Institutionen der parlamentarischen Demokratie könnten die gesellschaftliche
Entwicklung kaum gestaltend steuern und dienten nur noch als reaktiver Reparaturbetrieb
für Probleme und Fehlentwicklungen, deren Ursachen in einer globalisierten
Marktwirtschaft und individuellen Entscheidungen in den Vorstandsetagen einiger
Konzerne begründet liegen. Schon vor einigen Jahren diagnostizierte der Kriminologe
Peter Strasser: »Je weniger die politischen Kräfte noch in der Lage
sind, die Eigendynamik des globalisierten Marktes und seiner sozial bedrohlichen
Turbulenzen in den Griff zu bekommen, um so heftiger wird der Ruf nach Technologien,
die versprechen, antisoziale Verhaltensweisen punktgenau zu isolieren und auszumerzen.«[31]
Denn gegenüber kaum einem anderen sozialen Phänomen lässt sich
heute noch ein so breiter Konsens der Ablehnung herstellen wie gegenüber
der Kriminalität. Diese beiden Faktoren - Kontingenz der Lebenserfahrungen
und staatliche Legitimationsinteressen - werden flankiert von einer Omnipräsenz
der Thematik »Kriminalität« in den Massenmedien und einer Absenkung
der sozio-kulturellen Toleranz gegenüber Gewalt, zumindest gegenüber
der »klassischen« Gewalt in ihrer physischen Form. Insgesamt haben
wir es mit einem Netz von sich gegenseitig verstärkenden Faktoren zu tun:
Eine am »Verkauf« von Sicherheit interessierte Politik trifft auf
eine in ihren Lebensentwürfen verunsicherte Bevölkerung, in deren psychosozialen
Wunden die Medienindustrie herumstochert und damit sowohl den Druck auf die Kriminalpolitik
als auch die Unsicherheitsgefühle der Menschen intensiviert.
4.
Sicherheitsstrafrecht: Warum eigentlich nicht? Es
mangelt mittlerweile weder an Diagnosen einer repressiven Strafrechtsentwicklung
noch an plausiblen Ansätzen zur Erklärung dieser Tendenz. Überraschend
wenig ernsthafte Auseinandersetzungen gibt es jedoch mit der Frage, wie und mit
welchen Argumenten dieser Entwicklung möglichst wirksam und überzeugend
entgegengetreten werden kann. Wie ernst die Lage ist lässt sich daran ablesen,
dass mittlerweile die Duldung der »Rettungsfolter«[32] und eine »rechtlich
eingehegte Unschädlichmachung«[33] terroristischer Gewalttäter
in der öffentlichen Diskussion zumindest salonfähig geworden sind. Vorschläge
dieser Art sind katastrophal, da sie den Beginn des Abschieds vom Rechtsstaat
markieren. Und es muss frustrieren, wenn Fritz Sack konstatiert, dass jahrzehntelange
wissenschaftliche Kritik am Abbau des Rechtsstaates »weder die Entwicklung
dieses Prozesses hat aufhalten können noch den Widerstand dagegen hat anschwellen
lassen.«[34] Das alles macht es notwendig, künftig verstärkt über
neue Argumentationsstrategien hinsichtlich der Zukunft des Strafrechts nachzudenken.
Dabei
sollte das Ziel im Mittelpunkt stehen, ein Schuldstrafrecht zu erhalten, das nicht
in einem generellen, auf Störer, Verdächtige, Beschuldigte, Straftäter,
Kranke und »Feinde« zugeschnittenen Sicherheitsrecht aufgeht. Die
unterschiedlichen Systeme von Gefahrenabwehr- und Strafrecht haben einen Sinn
und zwingen uns dazu, die jeweiligen Voraussetzungen für Zwangseingriffe
in die Rechte von Menschen immer wieder an den jeweiligen Legitimationen und Zielen
dieser Regelungswerke zu messen. Die Orientierung des Rechts an der »Utopie
Sicherheit«[35] lässt dagegen die Grenzen zwischen Strafe, Gefahrenabwehr
und -vorsorge verschwimmen. Da potentiell fast jeder Bürger ein Sicherheitsrisiko
darstellt, wird der Kreis der von staatlichen Eingriffen Betroffenen durch die
Sicherheitsorientierung des Rechts in einem solchen Ausmaß erweitert, dass
für Sack bereits fraglich ist, ob sich heute überhaupt »noch (...)
sinnvoll von einem Rechtsstaat reden lässt.«[36] Zwei
einfache Dinge sollten einer breiten Öffentlichkeit nahe gebracht werden:
Erstens, dass die Ausweitung von Kontroll- und Eingriffsmaßnahmen keineswegs
allein die Freiheitsrechte der Straffälligen - die im Zweifel stets »die
Anderen« sind - betrifft. Derzeit gibt es in Deutschland erstaunlich wenig
zivilgesellschaftliche Opposition gegen die Ausweitung staatlicher Datenerfassungen
und Überwachungsbefugnisse für die Zwecke künftiger Strafverfolgungsmaßnahmen.[37]
Im Zusammenhang damit muss auch vermittelt werden, dass Gesellschaften wie die
der Bundesrepublik lernen müssen, mit Risiken zu leben. Zugegeben: Dies ist
ein schwieriges, diffuses, das Alltagsleben betreffendes und wenig juristisches
Projekt. Doch an ihm führt kein Weg vorbei, da die Ursachen für die
Sicherheitsorientierung der Kriminalpolitik zu einem großen Teil außerhalb
des »Bedeutungsknotens«[38] Kriminalität liegen. Doch die oft
vorgetragene und eher banale Einsicht, es könne keine »absolute Sicherheit«
geben, gerät zu einem reinen Lippenbekenntnis, wenn zugleich die Freiheitsentziehung
betrieben wird für möglichst viele devianten Personen, nur weil sie
als eventuell gefährlich betrachtet werden. Wer Freiheit sichern will kommt
an der Akzeptanz von Risiken eben nicht vorbei. Und
zweitens gilt es klar zu machen, dass die repressive Strategie ihr Sicherheitsversprechen
langfristig nicht einlösen kann. Zweifellos ist es erforderlich, Menschen
mit psychischen Krankheitsbildern zu therapieren. Zweifelhaft ist aber, ob dies
effektiv mittels des derzeit üblichen Umfangs vollstreckter strafrechtlicher
Freiheitsentziehung überhaupt stattfinden kann, geschweige denn muss.[39]
Und auch für den allgemeinen Freiheitsstrafenvollzug ist längst international
anerkannt, dass er kein wirksames Mittel für eine nachhaltige Reduzierung
der Kriminalität darstellt.[40] Auf Dauer gibt es keine Erfolg versprechende
Alternative zu einer Fokussierung auf die primäre und (re-) sozialisierende
Prävention. Über das Alltagsgeschäft der Mandate hinaus sollten
auch die Strafverteidiger es als eine ihrer über das Alltagsgeschäft
der Mandate hinausgehenden Aufgaben ansehen, zu einem derartigen Kurswechsel beizutragen.
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Dazu Naucke, § 3. [2]
Vgl.: Statistisches Bundesamt 2009, S. 9. [3]
Die realen Werte für die Sicherungsverwahrung sind in der Grafik zwecks besserer
grafischer Darstellbarkeit mit dem Faktor 10 multipliziert worden. [4]
Vgl.: Heinz 2006, S. 907 f., der zu Recht die fehlenden Datenerhebungen zur Unterbringungsdauer
scharf kritisiert, da die Praxis der freiheitsentziehenden Maßregeln in
Ermangelung dieser Daten »intransparent und daher nicht kontrollierbar«
ist (a.a.O, S. 911). [5]
Dessecker 2008, S. 43, 88. [6]
Bestand jeweils am 31. März des Jahres. Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden:
Maßregelvollzugsstatistik 2008, Tabelle St. 1 A. [7]
Die Reformbestrebungen wurden vorerst abgeschlossen durch das Gesetz zur Sicherung
der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt
v. 20.7.2007 (BGBl. I, 1327), das vor allem die Begutachtungserfordernisse reformierte
und die Unterbringung gem. § 64 StGB in Umsetzung der Entscheidung BVerfGE
91, 1 ff. an therapeutische Erfolgsaussichten knüpfte, dazu ausführlich:
Schneider 2008, S. 68 ff. [8]
Zu dieser Entwicklung: Bartsch/Kreuzer 2009 m.w.N. [9]
Durch Gesetz v. 8. Juli 2008; BGBl. I, S. 1212. [10]
So werten Ostendorf/Bochmann 2007, S. 147, den Widerspruch der Regelung zu internationalen
Jugendrechtsstandards und dem entsprechenden Völkerrecht als Anzeichen für
eine Verfassungswidrigkeit und problematisieren einen Verstoß gegen die
Menschenwürde und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. [11]
Ähnlich bereits Haffke 2005, S. 18. [12]
Hassemer 2006, S. 269. [13]
v. Listz 1905, S. 170. [14]
Dazu: Callies/Müller-Dietz § 2, Rn. 5. [15]
Vgl.: Prittwitz 1993. [16]
Denninger 1988. [17]
Interessant ist hier der Vorschlag von Denninger 2008, S. 97, diese neuen Formen
von Maßnahmen, die weit vor dem Tatverdacht oder der polizeirechtlichen
Gefahr ansetzen, unter den Arbeitsbegriff »Prävention II« zu
fassen. [18]
Ausführlich zur Anordnung der DNA-Analyse bei Mehrfachtätern: Jasch
2007b, S. 571 ff. [19]
Roggan 2004, S. 78. [20]
Hinzuweisen ist hier auf die höchst umstrittenen Neuregelungen im BKA-Gesetz,
vgl.: BGBl I, S. 3083 (2008). [21]
Kaufmann 1963, S. 432; Zieschang 1998, S. 380; differenzierend: Hörnle 2005,
S. 179 f. [22]
Naucke, § 2 Rn. 64. [23]
Zu der großen Unsicherheit und Ungenauigkeit kriminalprognostischer Begutachtungen,
die insbesondere bei der Maßregelanordnung den entscheidenden Faktor darstellen:
Nedopil/Stadtland 2007. [24]
Sehr kritisch dazu aus Perspektive der Strafverteidigung: Kempf 2009, S. 269.
[25]
Ungeachtet aller Steigerungsraten blieben auch im Jahr 2006 die Maßregelanordnungen
ein sehr geringer Teil der strafrechtlichen Aburteilungen: Nur 0,2 Prozent aller
Aburteilungen waren § 64-Anordnungen und die Sicherungsverwahrungen machten
nur 0, 09 Prozent aus. [26]
Hervorstechend sind hier die als »Sicherheitspakete« I und II bezeichneten
Gesetzgebungspakete, an denen zugleich abzulesen ist, dass die Ausweitung der
formellen Sozialkontrolle nicht mehr in erster Linie über das Strafrecht
vermittelt wird: Umfangreiche Änderungen wurden mit diesen Gesetzen im Pass-,
Melde-, Telekommunikations- und Luftverkehrsrecht vorgenommen, während das
materielle Strafrecht lediglich um eine einzige Norm (§ 129b StGB) erweitert
wurde. [27]
So auch Hassemer 2007, S. 107 f. [28]
Dazu ausführlich: Jasch 2006, S. 269. [29]
Gesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl I, S. 160). [30]
Duttge/Hörnle/Renzikowski 2004, S. 1072. [31]
Strasser 2005, S. 51. [32]
Brugger 2006, S. 14. [33]
Pawlik 2008, S. 40. [34]
Sack 2005, S. 11 f. [35]
Vgl. bereits den entsprechenden Titel von Bouteilier 2004, sowie Jasch 2007a.
[36]
Sack 2005, S. 11. [37]
Im Vergleich zu der zeitgenössischen Ausweitung von Telekommunikationsüberwachungen,
biometrischen Ausweispapieren und der polizeilichen DNA-Erfassung mutet etwa die
im Jahr 1986 durchgeführte Volkszählung nahezu harmlos an. Während
das Volkszählungsgesetz seinerzeit aber auf eine bundesweite Protest- und
Boykottbewegung stieß, die aus Angehörigen aller sozialen Gruppen und
Schichten bestand, ist der organisierte Protest gegen die heutige Kontrollpolitik
eher marginal. [38]
So die treffende Bezeichnung des Phänomens »Kriminalität«
von Kunz 2008, S. 89, in Anlehnung an Charles Taylors Begriff »webs of meaning.«
[39]
Die Bedeutung der ambulanten und teilstationären Angebote betont zutreffend
Stolpmann 1997, S. 320. [40]
Kury 2007, S. 37.
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