Ermittlungen in der Grauzone
Professor Dr. Ulrich Sommer
Beitrag zum 35. Strafverteidigertag, Berlin 2011
Auch der 35. Strafverteidigertag leidet unter organisatorischen Mängeln. Ist es schon eine Herausforderung, am Samstag Morgen um 9.00 Uhr sich über so grundsätzliche Themen zu unterhalten, da die Gehirnzellen auch der kritischen Kollegen selten die genügende Aufnahmefähigkeit haben und der besonderen Animation bedürfen, wird den Zuhörern ein Podium präsentiert, das nicht nur mit Männern bestückt ist, sondern mit Männern in ausnahmslos grauen Anzügen. Es fehlt jede Farbigkeit und rein optisch deutet viel auf eine öde Veranstaltung hin.
Dieses unverbindliche, zu allem passende Grau ist nicht nur in der Mode aktuell. Das war anders noch in den sechziger Jahren. Ich erinnere mich an einen Modeschöpfer Courrège, der hatte das völlig anders gemacht. Er hatte damals knallharte weiße Linien neben schwarze gesetzt. Was damals den Damen gefiel, kann heute ästhetisch die Modewelt offensichtlich nicht befriedigen. Die grauen Anzüge auf dem Podium sind die optische Metapher, dass diese knallharten Linien - weiß und schwarz – auch im Rechtlichen aus der Mode gekommen sind.
Wir haben alle zumindest im ersten und zweiten Semester irgendwann gelernt, dass diese klare Trennungslinie zwischen schwarz und weiß die Idee von Recht wiedergibt. Jeder, so die Idee von Recht und gesetzlicher Regelung in einem Rechtsstaat, jeder muss exakt bestimmen können, das ist Recht, das darf ich tun, das ist Unrecht, das darf ich nicht tun. Die Banalität steht am Anfang unserer Erörterung der Problematiken von V-Leuten sowie die Ermittlungen zum Stichwort Liechtenstein-CD.
Wozu brauchen wir diese klare Trennungslinie? Wir brauchen die klare Trennung in erster Linie, um für den Normadressaten eine Handlungsrichtlinie zu haben. Auf der anderen Seite brauchen wir allerdings auch eine klare Trennungslinie, um zumindest denen, die staatlicherseits das Gesetz anwenden, eine strikte Anwendungsvorgabe zu vermitteln. An Gesetz und Recht ist unsere Verwaltung, sind unsere Gerichte gebunden. Das steht in der Verfassung. Dass dieser Grundsatz gerade in dem Bereich, in dem wir tätig sind, in besonderer Weise gilt, bestätigt uns Wissenschaft und auch das Bundesverfassungsgericht.
Gerade im Strafrecht gilt angesichts der Sensibilität der Regelungsmaterie das Prinzip der klaren Trennungslinie zwischen schwarz und weiß. Denn zum einen muss der Normadressat um seine Handlungsgrenzen wissen. Wenn der Bürger Sanktionen befürchten muss, wie sie ihm nach keinem anderen Gesetz drohen, wenn es für ihn existentiell wird, muss er zumindest die Voraussetzung - den Normbefehl - im Vorfeld exakt kennen. Auf der anderen Seite wissen wir auch, dass diejenigen, die in diesem Bereich Gesetze anwenden, in besonderer Weise in die Rechte des Bürgers eingreifen. Gerade bei den Entscheidungsträgern über existentielle Eingriffe - Staatsanwälte, Polizeibeamte teilweise, insbesondere aber auch Strafrichter – kann die Gesellschaft sich nicht damit begnügen, ehrenwerte Personen in ein Amt zu berufen und anschließend auf ihre Aufrichtigkeit zu vertrauen. Die subjektive Absicht, nur das Allerbeste zu tun, setzen wir voraus. Auch Gaddhafi geht davon aus, er tut für sein Volk das Allerbeste, so wie mir häufig Staatsanwälte begegnen, die davon ausgehen, sie machen für unseren Rechtsstaat und für unsere Sicherheit nur das Allerbeste. Wir verlassen uns im Rechtsstaat nicht auf diese subjektive Ehrenhaftigkeit, sondern wir ziehen aus Gründen der Machtkontrolle exakte Grenzen auch im Verfahrensrecht. Dieser Kontrolle durch klare gesetzliche Grenzziehung, der exakten Trennung von Schwarz und Weiß, bedarf derjenige Anwender staatlicher Macht, der wie kein anderer in das Leben eines Bürgers eingreifen kann. Existentielle Sanktionen verhängen können in unserer Gesellschaft nur Strafrichter. Das kann keine Frau Merkel, das kann kein Parlament, das kann nur der Amtsrichter in Burgwedel oder wo auch immer. Dass wir Strafverteidiger die Form des Strafverfahrens als Ausdruck der engen gesetzlichen Vorgaben hoch achten, dass die Justizförmigkeit des Verfahrens einen wichtigen Eigenwert in unserem Rechtsstaat hat, beruht insbesondere auf der machteinschränkenden Funktion der Straf- und Strafprozessgesetze.
Warum diese Banalitäten am Anfang? Zum einen natürlich aus rhetorischen Gründen, weil man sich um 9.00 Uhr morgens nicht mit völlig ungewöhnlichen Sachen beschäftigen kann. Es erlaubt mir die Hoffnung, dass Sie mir gedanklich folgen können. Ich habe es auch deswegen an den Anfang gestellt, um Ihnen gerade an dieser Stelle deutlich zu machen, dass ich diesen gewohnten Gedankenweg verlassen werde. Denn ich will versuchen, auch darüber zu berichten, dass dieser klare Weg der Trennung zwischen schwarz und weiß, zwischen Recht und Unrecht nach unserer Erfahrung als Strafverteidiger mehrfach, möglicherweise sogar systematisch in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren verlassen worden ist und wir uns natürlich fragen - und deswegen wurde diese Arbeitgruppe eingerichtet - in welche Richtung denn dieser Weg geht.
Schwarz und weiß, so haben wir es gelernt, mag chic sein, allerdings die Modefarbe, so wie sie jedenfalls auf den rechtspolitischen und rechtlichen Laufstegen der Republik getragen wird, scheint doch eher grau zu werden. Das Podium ist im Trend. Es scheint so zu sein, dass man teilweise klammheimlich versucht, diese Wege der klaren Linie zu verlassen. Bevor ich einige Beispiele nenne zu dem Thema, was uns am meisten beschäftigt, nämlich die Ermittlungstätigkeit, meine ich, dass es zum Verständnis erforderlich ist zu erfahren, dass dieser Trend zum Graubereich hin ein ganz allgemeiner ist in der Strafjustiz.
Das fängt schon beim Gesetzgeber an, der sich offensichtlich der vom Grundgesetz auferlegten Verantwortung der klaren Darstellung von Strafnormen entzieht. Schauen Sie sich die jüngsten Beispiele gesetzlicher Strafnormen an, und dann wissen Sie, was im Sinne des modernen Gesetzgebers Klarheit heißt. Ein Beispiel ist einer der letzten neu eingeführten Straftatbestände der Geldwäsche (§ 261 StGB), ein Monstrum an Länge, ein Bündel an Vagheit und Unverständlichkeit. Dass das Ungefähre nicht nur im materiellen Strafrecht, sondern auch im Prozessrecht beim Gesetzgeber Maßstab zu werden scheint, können wir schon bei allen neuen Regelungen registrieren, die z.B die »mittlere Kriminalität« oder die ansonsten »nicht Erfolg versprechenden« Alternativermittlungen als Eingriffsvoraussetzung beschreibt.
Dem Gesetzgeber folgen die Gerichte. Zu bestaunen ist dies jetzt auch beim Bundesverfassungsgericht, das nicht - so mein kurzes Fazit - annähernd dem Rechtsgenossen mitteilen kann, wo in dem komplexen Bereich des § 266 StGB die Trennungslinie zwischen schwarz und weiß verläuft. Was das Bundesverfassungsgericht kann, kann der BGH schon lange. Bei zahlreichen Entscheidungen fragen wir uns, wo die Fähigkeit der höchstrichterlichen Strafrichter geblieben ist, exakt dogmatisch einzuordnen, Vorgaben zu fixieren, damit der Bürger später weiß, was Recht und was Unrecht ist.
Als Musterbeispiel können die Bestechungsdelikte dienen. Lassen Sie sich, sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen, einmal von dem Vorsitzenden einer Aktiengesellschaft oder einer GmbH beauftragen, oder vom Oberbürgermeister, um diesem einen Vortrag darüber zu halten, wo exakt die Trennungslinie ist: Was ist Bestechung und was ist nicht Bestechung. Ich prognostiziere Ihnen: Sie werden scheitern. Oder gehen Sie zu einem beliebigen Tochterunternehmen der Deutschen Bahn und klären sie über den Begriff des Amtsträgers auf. Alle Entscheidungen des Bundesgerichtshofs verbleiben im Ungefähren. Was ein »Vorteil« ist, was eine Unrechtsvereinbarung, wo möglicherweise zahlenmäßige Grenzen sind, wird offen gelassen. Es drängt sich der Verdacht auf, das ist nicht juristische Unfähigkeit, sondern möglicherweise System. Denn wenn der Inhalt einer Norm im Unklaren gelassen wird, so kann der BGH jedenfalls darauf vertrauen, dass derjenige der im Vorfeld bewusst versucht eine Übertretung zu vermeiden, von sich aus die Schwelle nach unten setzen wird. D.h. man überlässt die exakte Trennungslinie zwischen schwarz und weiß allein gesellschaftlichen Entwicklungen. Das Grundgesetz fordert zwar eine Bestimmtheit der Norm, die Ministerialverwaltung macht aber nicht selten überdeutlich, wie sympathisch ihr der BGH-Weg des Ungefähren erscheint.
Als weiteres Stichwort des Ungefähren im Prozessrecht nenne ich Ihnen den Sumpf der Beweisverwertungsverbote. Keiner von Ihnen wird in konkreten Fällen jemals prognostizieren können, wo hier die exakte Trennungslinie verläuft. Wir sind in einem Bereich, der für keinen Prozessbeteiligten vorhersehbar ist, wo Verteidiger auf Gedeih und Verderb der späteren Entscheidung eines Gerichts ausgeliefert sind. Dies ist der Bereich den man früher jedenfalls schon einmal mit Willkür bezeichnet hat.
Ich will Ihnen über den Graubereich als Strukturelement berichten, nicht nur über die beiden Beispielsfälle, die Herr Kollege Kemperdick bereits angekündigt hat. Graubereich ist zum einen das staatliche Handeln neben oder außerhalb staatlicher oder gesetzlicher Ermächtigungen, gerade unsere Beispielsfälle weisen daraufhin. Zweitens: Graubereich ist ein Bereich der jedenfalls von den Ermittlungsbehörden zunächst intensiv gelebt und gebilligt wird. Drittens: Die Rechtfertigung dieses Graubereichs und damit die Abweichung von schwarz und weiß, ist in der Regel eine Moralische und eine Politische, und nicht eine rechtlich Begründete. Deswegen zeichnet sich aus meiner Sicht viertens der Graubereich dadurch aus, dass er von Gerichten augenzwinkernd gebilligt wird. Nicht dadurch, dass man den Zustand positiv feststellt. Meistens werden verbal sehr wohl rechtsstaatliche Standards gesetzt. Aber es gelingt der Rechtsprechung in Kooperation mit der Exekutive, diese Voraussetzungen schlicht ins Leere laufen zu lassen, so dass es dem rechtssuchenden Bürger niemals gelingen wird, diesen Graubereich tatsächlich aufzudecken.
Ich bezeichne die juristische Argumentation der Richter gerne als rechtsstaatliche Dummies, Sie kennen diese Dummies, die finden sich nur im Labor, die gibt es eigentlich gar nicht. Die sehen einfach nur so aus, als ob sie real seien, mit der Wirklichkeit hat das Ganze aber wenig zu tun.
Wie kommt es, dass Ermittlungsbehörden sich in der Entwicklung der letzten Jahre in diesem Graubereich tummeln? Sogar intensiv tummeln und dort ihre Pirouetten drehen? Dahinter steckt aus meiner Sicht jedenfalls eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, die der Staatsanwaltschaft eine ganz neue Rolle beimisst, die jedenfalls so in der StPO nicht vorgesehen ist. Sie fühlt sich gern als gesellschaftlich ernannte Wahrheitskommission. Denn es ist das allgemeine gesellschaftliche Bedürfnis, falls irgendetwas schief gelaufen ist, irgendwo Schuldige zu finden. Völlig unabhängig von strafrechtlichen Belangen braucht die Gesellschaft zur Entlastung den Pranger. Egal ob in Köln ein Archiv zusammengebrochen ist oder in Bayreuth irgendjemand seine Dissertation gefälscht hat. Das Bedürfnis soll von der Staatsanwaltschaft befriedigt werden, die ihre Rolle gerne angenommenen hat. Diese hätte sich auch anders verhalten können und auf die StPO und die ihr auferlegte Zurückhaltung verweisen können. Ich habe eher die Beobachtung, man nimmt diese Rolle ganz gerne und dankend an. Im Blick hat sie den allgemeinen Trend, dass es nicht nur um Aufklärung geht, sondern eine der großen Aufgaben dieser Zeit, die Herstellung von Sicherheit, Schutz, Prävention und Ähnlichem. Diese Vermischung ist der Nährboden, auf dem sie den Graubereich leben kann.
Dass dies auch psychologisch funktioniert, hängt aus meiner Sicht noch mit einem anderen Phänomen zusammen, der aktuellen Betonung der Notwendigkeit der Heimlichkeit von Ermittlungen. Das scheint mir in der StPO nicht zwingend angelegt; insbesondere spricht Artikel 6 Abs. 3 EMRK dagegen. Ich will das jetzt nicht vertiefen. Aber dieser allgemeine Trend wird unterstützt durch den Gesetzgeber, der die neuesten Eingriffsbefugnisse formuliert hat und, da sind wir nicht im Graubereich, sondern im Legalbereich, das Schwergewicht gerade auf heimliche Maßnahmen legt. Dass ein in diese Umwelt eingebetteter Staatsanwalt möglicherweise meint, er sei generell in einem Bereich unkontrollierter Heimlichkeit tätig, ist zumindest psychologisch ein Erklärungsansatz, warum man auch als ausgebildeter Jurist in diesem Amt vielleicht gerne Mal ohne ein schlechtes Gewissen in den Graubereich abrutscht.
Statt des Gewissens erwartet man die Kontrolle durch rechtsstaatliche Mechanismen, die den Graubereich aufdecken und als solchen brandmarken sollten. Gerichte sollen und müssen kontrollieren. Das was wir im Gericht sehen und hören, sind jedenfalls primär Solidaritätsadressen von Richtern an die Ermittlungsbehörde und nicht eine kritische Überprüfung. Das ist das eine. Und wer kontrolliert noch? Die Verteidiger, die durch die Vollmacht des Mandanten nicht verpflichtet sind, den Rechtsstaat zu retten, sondern allein den Mandanten. Das evidente Abgleiten in den Graubereich führt heute regelmäßig zu Verfahrensweisen, die gerade eine Kontrolle durch den Verteidiger verhindern. Der Verzicht auf Publizierung wird im Strafmaß für den Mandanten belohnt.
Die Staatsanwaltschaft dreht Pirouetten, manchmal so gar Salti im Graubereich. Es gibt Dutzende Beispiele dafür, wie sich allmählich die Staatsanwaltschaft und die anderen Ermittlungsbehörden von ihren gesetzlich gebundenen Tätigkeiten zum Zwecke der Aufklärung einer Straftat entfernen. Zwei ganz wichtige werden wir gleich in dieser Arbeitsgruppe vertieft erörtern. Nur damit Sie sehen, dass aus meiner Sicht die Problematik sehr viel weitergehend ist, hier drei, vier andere Phänomene.
Ein Beispiel sind die sogenannten Vorermittlungen, von denen Sie in der StPO nicht sehr viel geregelt finden. Aber mit dem Hinweis, man müsse doch möglicherweise irgendwann einmal prüfen, ob überhaupt eine Eingriffsschwelle überschritten ist, ob ein Anfangsverdacht überhaupt besteht, wird Aktivität legitimiert. Das, was erst einmal logisch erscheint, ist das Einfallstor, sich in Bereichen zu tummeln, wo weit und breit irgendwo vielleicht hinten am Horizont die Denkbarkeit einer Straftat oder eines Straftäters gegeben ist, wo aber ein Anfangsverdacht noch längst nicht vorliegt. In diesem Bereich der Vorermittlungen ohne jede Regeln bewegt sich die Staatsanwaltschaft ebenso gerne wie unkontrolliert – und garniert dies zu allem Überfluss mit nachrichtendienstlichen Methoden der Informationserlangung.
Zeugenschutzprogramme sind ein weiteres Beispiele dafür, wie man im Graubereich agieren und unmittelbar strafprozessuales Geschehen beeinflussen kann. Wo ist eigentlich geregelt, wann welcher Zeuge in ein Zeugenschutzprogramm kommt, wo ist eigentlich geregelt, was man im Prozess hierzu fragen kann, wo ist eigentlich geregelt in welcher Form das Ganze transparent gemacht wird? Schauen Sie sich die gesetzlichen Regelungen an. Sie werden nicht allzu viel finden. Gerade weil es so ist, greifen die Polizeibehörden in letzter Zeit häufiger und sehr gerne auf dieses Mittel zurück - mit der Konsequenz, dass jedenfalls Aufklärungsbemühungen in der Hauptverhandlung durch polizeilich veranlasstes Verstecken von Zeugen oder deren Aussagebeschränkungen extrem topediert worden sind.
Weiteres Beispiel: Wir alle kennen die Ermittlungsverfahren, die beginnen mit dem Hinweis: »Dienstlich wurde bekannt«! Das ist das Gegenteil von dem, was eigentlich aus meiner Sicht das Ermittlungsverfahren, wenn es denn dem Beschuldigten präsentiert wird, darstellen sollte. Transparenz sieht anders aus. Dienstlich wurde bekannt - und danach wird eine wunderbare Geschichte, eine kleine Märchengeschichte erzählt, die allerdings dann den Ermittlungsrichter derartig beeindruckt, dass er den Durchsuchungsbeschluss unterzeichnet, oder andere strafprozessuale Maßnahmen genehmigt, die dann erst dazu führen, dass man einen Anfangsverdacht formulieren kann, der eigentlich am Anfang des Verfahrens hätte stehen müssen. Dienstlich wurde bekannt! Es bleibt alles im Graubereich, was denn alles dazu geführt hat, dass es tatsächlich zu diesem Ermittlungsverfahren kommen konnte.
Eine Steigerung erlebte ein Kollege, der mir darüber berichtete, dass die Akte mit dem Hinweis begann, »geheimdienstlich wurde bekannt«. Auch diese Grenze ist mittlerweile eingerissen. Wer, wann, wo, mit welchen Mitteln diese oder jene Information aus dem Ausland (von einem deutschen Staatsbürger) erhalten hat, erfährt der Prozessbeteiligte nie – geheim! -, aber es war die alleinige Grundlage für ein Ermittlungsverfahren. Das schrie natürlich nach Aufklärung. Was ist denn da passiert! Gerade wenn die Schlapphüte unterwegs sind. Fern jeder gesetzlichen Kontrolle, interessiert man sich als Verteidiger als Öffentlichkeit sehr dafür, was denn eigentlich der Hintergrund für ein solches Verfahren ist. Konkretes von diesem Verfahren kann ich Ihnen leider nicht mitteilen. Das erstinstanzlich agierende Oberlandesgericht hat Wohl und Wehe der Bundesrepublik gefährdet gesehen und hinter verschlossenen Türen darüber verhandelt. Geheimdienstlich wurde bekannt!
Ein anderes Beispiel: Auch ein Verteidiger hat nicht so viel Fantasie, um sich neue Schattierungen der Grauzone vorzustellen. Hier hilft die aktuelle Zeitungslektüre. Die Verteidigung hat vor wenigen Tagen in einem prominent besetzten Wirtschaftsprozess in einem sehr ausführlichen Antrag dargestellt, wie ein Staatsanwalt gegen den Hauptangeklagten, der gleichzeitig Präsident eines Bundesliga-Clubs ist, das Messer gewetzt hatte. Diffus war er der Ansicht, dieser habe möglicherweise etwas Strafbares mit seinen Firmen gemacht. Allerdings waren diese Erkenntnisse nicht soweit, als dass sie vielleicht die Schwelle des Anfangsverdachts überschritten hätten. In einer anderweitigen Vernehmung hatte er einige Anhaltspunkte von einem anderen Beschuldigten mitbekommen, die möglicherweise in diese Richtung zielen könnten. Was ein Staatsanwalt machen sollte, jedenfalls so, wie die StPO sich das vorstellt, wissen Sie. Hier ging es anders. Denn das Ziel war es, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, das zwar aus dem Dunkel entsteht, aber jedenfalls nach außen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit hat und das vor allem an die richtige Stelle kommt. Diese war damals angedacht als die knallhart bekannte Staatsanwaltschaft Bochum. Alles dies wurde erreicht, indem dieser Staatsanwalt den Beschuldigten X aus einem anderen Verfahren animiert hatte, er solle alles, was er weiß und was er als Beschuldigter seines Verfahrens bekundet hatte (vielleicht noch ein bisschen mehr) in eine anonyme Anzeige packen. X bekundete Kooperationsbereitschaft. Da er als Laie nicht wusste, wie man eine anonyme Anzeigen schreibt, soll er dann anschließend seinen Anzeigenentwurf dem Staatsanwalt zur Abstimmung gegeben haben. Der Ghostwriter, der Staatsanwalt selbst, schlug Verbesserungen vor, dann ging die sogenannte anonyme Anzeige dahin, wohin sie gehen sollte.
Das alles ist weit entfernt von dem, was die StPO als Tätigkeitsfeld des Staatsanwalts angedacht hat. Der Staatsanwalt als Ghostwriter einer manipulierten »anonymen« Anzeige, die ganz bewusst Ursprung von Erkenntnissen verschleiert und ein Verfahren zu einem bestimmten Staatsanwalt lanciert - natürlich auch mit dem Ergebnis, dass der gesetzliche Richter, der dann anschließend Ermittlungsbefugnisse hat, willkürlich bestimmt wird – konnte bislang allenfalls als dessen bösartige Karikatur gewertet werden.
Bei dem Beispiel wollte ich es eigentlich belassen, wenn ich nicht die NJW vor ein paar Tagen in die Hand bekommen hätte. Auf Seite 942 findet sich ein ebenso deutliches wie zukunftsweisendes Beispiel dafür, wie sich die Staatsanwaltschaft außerhalb dessen tummelt, was eigentlich - jedenfalls nach unserer Ansicht – ihr einst als Aktionsfeld zugedacht war. Ich fasse das unter der Überschrift zusammen »Ich lasse ermitteln!«. Spätestens seit die amerikanischen Kollegen bei Siemens aufgetaucht sind, kennen wir den Ablauf. Das Firmeninteresse diktiert die interne Aufklärung. Häufig werden Anwaltskollegen beauftragt, so auch in dem hier behandelten Fall bei der HSH-Nordbank. Die dortigen Anwaltskollegen haben Arbeitnehmer vernommen, haben Vertraulichkeit zugesichert. Diese ist erschüttert, denn die Ergebnisse liegen nunmehr der Staatsanwaltschaft vor. Aus verständlichen Gründen wollte der Vorstand der HSH-Nordbank die internen Protokolle nicht freigeben. Zumindest das Landgericht Hamburg war allerdings der Meinung, sie müssten dies tun.
Wenn das Schule macht, wissen Sie, worauf das hinausläuft. »Ich lasse ermitteln« heißt, ich sitze als Staatsanwalt an meinem Schreibtisch und beobachte nur, wo möglicherweise in irgendeiner Firma ein Interesse besteht, interne Dinge aufzuklären. Nimmt die Aufgabe ein Ermittlungsteam wahr, das fernab von jeder Belehrung, fernab von §§ 52, 55 StPO Zeugenbefragungen durchführt, produziert es Ermittlungsmaterial, das der Staatsanwaltschaft schon aus rechtlichen Gründen verschlossen bliebe. Wird mit Billigung des Gerichts das Ganze beschlagnahmt, eröffnen sich ungeahnte Perspektiven in der rechtlichen Grauzone.
»Ich lasse ermitteln!« Das ist insgesamt ein Trend, den auch der Gesetzgeber unterstützt. In den letzten 10, 15 Jahre scheinen gesetzgeberische Ideen auf, die die Institution des Blockwarts reanimieren wollen. Fern liberaler Staatsideen gewinnt die Vorstellung wieder Anhänger, zur Sicherung gesetzeskonformen Verhaltens sollte ein Bürger den anderen beobachten; die wenigen Staatsanwälte könnten das eigentlich gar nicht. Bemerkt der Bürger Auffälligkeiten, hat er sanktioniert durch Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten die Verpflichtung, der Staatsanwaltschaft hierüber zu berichten. Eine gesellschaftliche Kultur des Denunziatorischen wird allmählich etabliert.
Pilotprojekt war das Geldwäschegesetz. Mittlerweile gibt es Scharen von Geldwäschebeauftragten bei Banken, die zwar keine Ahnung haben, was ein Anfangsverdacht ist, die aber genau wissen, dass sie verpflichtet sind, die geringste Unregelmäßigkeit der Staatsanwaltschaft zu melden. Nicht nur bei Banken! Sie wissen, dass Sie und ich als Anwälte unter Umständen hierzu genauso verpflichtet sind wie jeder Juwelenhändler oder Autoverkäufer. Dass hier eine generelle Tendenz in Gang gesetzt wurde, ist von der Wissenschaft bereits dargelegt worden. Krankenkassen, um nur ein Beispiel zu nennen, können hier ein entsprechendes Lied singen.
Berücksichtige ich die beiden hier noch nicht erwähnten Hauptthemen unserer Arbeitsgruppe, formen sich Beispiele aus dem Graubereich zum System. Der Sprung in den Graubereich ist aus meiner Sicht aus vielerlei Gründen, aus psychologischen, aus soziologischen, aber auch aus rechtlichen Gründen der falsche Weg. Wenn gerade im Strafrecht Normen dazu dienen sollen, die Rechtstreue der Bürger einzuüben, dann frage ich mich, wie der Bürger auf die Erkenntnis reagiert, dass diese Rechtstreue bei denjenigen nicht vorhanden ist, die das Gesetz anwenden sollen. Zweifel am Wert der Normbefolgung ist angebracht, wenn das Recht nur Spielball ist und in der Anwendung unkalkulierbaren Kriterien unterfällt. Das Problem ist, darauf läuft es aus unserer Sicht jedenfalls hinaus, dass ein Aufweichen von Grenzen die Gefahr der Relativierung von Grundrechten erzeugt. Hält die Tendenz an, droht ein Einreißen von wesentlichen Pfeilern unseres Rechtsstaats.
Soweit zunächst eine zugegebenermaßen in der Allgemeinheit sehr unverbindliche Skizze des Unverbindlichen in der aktuellen Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft.
Lassen Sie mich - wiederum auf der Ebene des kurzen rechtspolitischen Statements - auf die beiden Fälle zu sprechen kommen, die wir heute pars pro toto etwas tiefergehend erörtern wollen. Das eine sind die sog. Liechtenstein-CDs, das andere ist der Bereich der V-Leute der Agents Provocateurs, über die wir heute Nachmittag sprechen werden.
Tangiert ist hier der Graubereich in besonderer Weise, weil diese Eingriffe dazu prädestiniert sind, dass unabhängig von der Fragwürdigkeit der Eingriffsgrundlage sogar strafrechtliche Normen betroffen sind. Das soziale Phänomen des V-Manns funktioniert nur, wenn tatsächlich eingetaucht wird in das, was man als verbrecherische Szene benennt. Dass die Idee, rechtsstaatsmäßig zu agieren, indem man bei Straftaten mitmacht, offensichtlich nicht funktionieren kann, ist angesichts der nicht behebbaren Widersprüchlichkeit evident - weshalb es umso erstaunlicher ist, warum man sich dieser Illusion offensichtlich verstärkt hingibt.
Das Thema V-Mann und Agent Provocateur hat mich persönlich schon lange interessiert. Schon Anfang der achtziger Jahre hatte ich als Assistent an diesem Thema gearbeitet. Ein mich betreuender Professor hielt es damals für schlicht überflüssig, sich rechtswissenschaftlich damit zu befassen, es sei tot seit den zwanziger Jahren - übrigens ein schönes Beispiel für die Irrtumsanfälligkeit auch des akademischen Betriebes. Trotz der Warnung habe ich seinerzeit eine Arbeit darüber verfasst; ich greife heute darauf zurück, weil ich mir in meinen damaligen Recherchen einen Überblick darüber verschafft habe, wie in der Rechtswissenschaft seinerzeit der V-Mann, der Agent Provocateur, man hat damals etwas anders noch formuliert, behandelt worden ist. Und das, was ich gefunden habe, war relativ stringent. Es gab eine, ganz grob gesagt, einhellige Ablehnung mit der Begründung, eine Tatprovokation dürfe in einem Rechtsstaat nicht passieren! Wohl gemerkt schon im 19. Jahrhundert, ebenso wie in den zwanziger Jahren und in den fünfziger und sechziger Jahren. Da war sogar von einer offenen Empörung der damaligen juristischen Autoren zu lesen. Es war die Rede von den Schlechtigkeiten dieser staatlichen Subjekte, die sich für das Mitmachen bei Straftaten hergeben. Es war, insbesondere was die Provokation angeht, die Rede von einem verächtlichen und unwürdigen Manöver. Mein Fazit zu Beginn der achtziger Jahre war: der Agent Provocateur war nichts, was man einem rechtsstaatlich gesinnten Staatsanwalt als Ermittlungsmethode verkaufen konnte.
Es gab allerdings, das will ich Ihnen nicht verhehlen, eine einzige Gegenstimme. Es gab einen Autor namens Wolff, der solche Methoden akzeptierte. Zu seiner Begründung zitiere ich wörtlich: »Der Verbrecher ist ein Feind der Gesellschaft. Er erklärt ihr den Krieg und im Krieg sind alle Mittel erlaubt.« Das war Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, und ich bin darauf nur gestoßen, weil in der folgenden nationalsozialistischen Epoche in den entsprechenden Kommentaren diese Stelle lobend erwähnt wurde.
Abgesehen von dieser abgeschlossenen Episode der deutschen Rechtsgeschichte konnte ich im Jahre 1980 feststellen, dass das Eintauchen in verbrecherische Sphären und das notwendige staatliche Mitwirken dort – erst recht die Provokation von Straftaten - für ein rechtsstaatliches Ermittlungsverfahren in Wissenschaft und Praxis nicht akzeptabel war. Und dann kam die Überraschung, nämlich eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – veröffentlicht im 57. Band. Hier finden wir einen Satz, der deswegen berühmt geworden ist, weil er in jeder Polizeiliteratur bis zum heutigen Tage dutzendfach zitiert wird. Ohne jede Vorbereitung findet hier plötzlich der Leser die verfassungsrichterliche Erkenntnis, dass die Bekämpfung der besonders gefährlichen Kriminalität ohne den Einsatz von V-Leuten nicht auskommen könne. Die angeblich behauptete Notwendigkeit des V-Mannes, möglicherweise sogar des provozierenden V-Mannes, ist die durch keine rechtliche Überlegung oder empirische Grundlage geborene Prämisse, die sich beim Bundesverfassungsgericht vielleicht eher zufällig wiederfindet, die aber bis zum heutigen Tage nicht ein einziges Mal ernsthaft begründet worden ist.
Wir leben mit diesem Zitat, und wir leben mittlerweile auch mit der Existenz von V-Leuten. Die Polizei lebt es ebenso, und zwar nach den Usancen des Graubereichs. Man hat eine Einordnung in den rechtlichen Bereich versucht, und kam zu dem Ergebnis, dass sich eine Begründung für das staatliche Mitmischen in der kriminellen Szene nicht finden lässt. Es gibt keine Rechtfertigung für Gesinnungstests. Es gibt sie auch nicht über den § 34 StGB. Ausgerechnet bei dem Hauptanwendungsfall der Massenkriminalität lässt sich der Einsatz eines ungewöhnlichen Ermittlungsmittels nicht mit der Ausnahmesituation begründen. Ebenso wenig lässt sich der Einsatz mit Hinweis auf eine polizeilichen Gefahr rechtfertigen, wenn es darum geht, bereits geschehene Straftaten mit dem Agent Provocateur aufzuklären. Rechtliche Regelungen finden sich nur in § 110a StPO, der allerdings nur einen winzigen Bereich dessen abdeckt, was heute die Realität des Einsatzes von V-Männern darstellt.
Die Rechtsprechung hat aufgegeben zu rechtfertigen, sie akzeptiert das Phänomen, wiederholt Prämissen, entwickelt aber keine neuen Begründungen. Die Erörterung der Notwendigkeit oder gar ein Aufzeigen von Grenzen der Aktionen von V-Leuten findet sich in der Literatur und auch in der Rechtsprechung kaum. Wir leben mit dem V-Mann wohlwissend, dass das, was er in der Regel tut, was er konsequent tun muss, vom Gesetz nicht geregelt ist. Die Polizeigewerkschaft sieht so etwas und fordert natürlich, einfach um für die Akteure eine größere Sicherheit zu haben, weitergehende gesetzliche Änderungen. Zu den Änderungen, die vorgeschlagen werden, gehört, dass ein solcher V-Mann konsequent Straftaten begehen darf. Dazu soll nicht nur der Hausfriedensbruch zählen, sondern der Ankauf testhalber von einigen Kilos Kokain und ähnliches. Wo die Grenze zu ziehen ist, lässt auch die Polizeigewerkschaft offen und verdeutlicht das Thema damit als »heißes Eisen«, das der Gesetzgeber erst gar nicht anfasst. Der Graubereich wird gepflegt.
Wir leben nun mit dem V-Mann, aber das ist unsere Botschaft als Verteidiger hier auf dieser Veranstaltung, wir akzeptieren ihn nicht. Wir akzeptieren nach wie vor nicht die Prämisse und wir akzeptieren nach wie vor nicht den Umgang. Unabhängig von den prinzipiellen Erwägungen zur Gesetzeslosigkeit schaden die Folgen eines solchen massenhaften Einsatzes V-Leuten dem Strafprozess, wie wir das zumindest gelegentlich in unseren Akten oder aber auch zum Teil in der Presse verfolgen können. Unter dem Erfolgsdruck der Ermittlungsbehörden ist das Leben des V-Mannes notgedrungen ein manipulierendes, verfälschendes, unwahrhaftiges.
Kürzlich haben wir wieder einen besonders spektakulären Fall in der Presse verfolgen können. Ein V-Mann wurde enttarnt, ob er polizeirechtlich unterwegs war, man weiß es nicht; zu allem Überfluss war es auch noch ein englischer Staatsbürger. Dieser hat aber selbst - und das ist das Interessante – in Interviews dargelegt, wie man als V-Mann lebt. Nahezu selbstverständlich war für ihn, dass er sich mit der Szene, die er abschöpfen will, voll und ganz identifiziert. Mit der Enttarnung hatte er alle seine Freunde verloren.
Die Institutionalisierung von V-Männern führt zu einer ganz seltsamen Erscheinung. Ich habe in meinen Akten und dem, was ich von Kollegen kenne und soweit ich einen Überblick über die Rechtsprechung habe, in den letzten Jahren keinen einzigen Fall gefunden, wo bei großen Waffenlieferungen oder bei sehr großen Lieferungen von Falschgeld in irgendeiner Form tatsächlich eine genuin kriminelle Nachfrage existierte. Dieser Markt wurde ausschließlich von V-Leuten besetzt. Das heißt aus unserer Sicht: ohne V-Leute gäbe es möglicherweise gar keinen Waffenhandel - jedenfalls in größeren Ordnungen. Ohne V-Leute gibt es möglicherweise gar nicht diese riesigen Mengen von produziertem Falschgeld. Die gefälschten Euros werden aus Neapel oder anderswo erst dann herangeschafft, weil hier eine ausschließlich von V-Leuten gesteuerte Nachfrage besteht. Verdeckte Ermittlung und Straftaten bilden hier eine seltsame Symbiose. Das Bundesverfassungsgericht kennt das Phänomen spätestens seit dem NPD-Verfahren: Ohne V-Leute gäbe es vielleicht gar keine NPD. Jedenfalls ist die letztendliche Aufklärung ausgeblieben.
Das was uns als Verteidiger aber in besonderem Maße irritiert, ist die Tatsache, dass unsere Mandanten unter Umständen als Beteiligte eines derart gesteuerten Szenarios bestraft werden sollen. Sie werden bestraft, obwohl der V-Mann, vorsichtig formuliert, eine wichtige Rolle im Geschehen spielt. Unser Mandant, möglicherweise nur geringfügig oder gar nicht vorbestraft, ist auf einmal mitten im Zentrum eines hochkriminellen Geschehens. Dass er von V-Männern animiert, getrieben, gesteuert wurde, kann er uns plastisch schildern. Wir können ihm versichern, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein solches Vorgehen der Polizei für menschenrechtswidrig erachtet. Wir müssen ihn aber auch darüber aufklären, dass er wahrscheinlich doch bestraft werden wird. Denn die deutsche Praxis hat Argumentationsformen gefunden, die ich als rechtsstaatlichen Dummy bezeichnen möchte. Als Fassade wird die Rechtsstaatswidrigkeit der Animierung durch V-Leute akzeptiert, um sie gleichzeitig durch prozessuale Gestaltungen zu unterlaufen.
Die entscheidende Beweisfrage geht regelmäßig dahin, ob der V-Mann tatsächlich einen Anstoß zu dem kriminellen Geschehen gegeben hat oder dieses nur däumchendrehend begleitete. Wir trauen uns als Verteidiger zu, durch kritische Fragen an den V-Mann im Prozess vielleicht das eine oder andere aufzudecken. Wir wissen alle, wir haben keine Gelegenheit dazu. Dieser Dummy ist ein Dummy, weil er niemals Realität wird, jedenfalls nicht Realität zur Wahrung von Bürgerrechten. Der Dummy ist durch zwei Elemente gekennzeichnet. Zunächst einmal sehen wir den Zeugen nicht, Stichwort »Sperrerklärung«. Dieser Zeuge soll auf einmal an Leib und Leben gefährdet sein, und wir alle wissen, ich verkürze das hier, dass dahinter meistens irreale Polizeiphobien von nicht existierenden Gefährdungen oder schlichte ermittlungstaktische Erwägungen stehen. Die Gerichte akzeptieren das, augenzwinkernd oder auch nicht, verweisen auf Verwaltungsgerichte, die möglicherweise in ein, zwei Jahren Entscheidungen treffen. Faktisch wissen wir genau, wir können das, was eigentlich als klärungsbedürftige und weichenstellende Tatsachenfragen von der Rechtsprechung dargestellt wird, niemals klären.
Die Rechtsprechung hat noch einen weiteren Weg gefunden, um den Nachweis der rechtsstaatwidrigen Provokation endgültig in den Bereich des Irrealen zu verbannen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hatte einen neuen Pfeiler in der Situation einer Unmöglichkeit der V-Mann-Befragung eingesetzt. Wenn der V-Mann nicht befragt wird, muss jedenfalls eine Verurteilung an andere Kriterien geknüpft werden. Dazu gehört unter anderem auch, dass die nicht hinterfragte Aussage des V-Manns nicht das einzige Beweismittel sein darf, sondern es muss durch andere Beweismittel bestätigt werden. Wie man diese rechtsstaatliche Forderung durch argumentative Rechtsstaats-Dummies entwertet, hat die Rechtsprechung bewiesen. Der Trick ist simpel: Man schraubt einfach das Niveau der Qualität der zusätzlichen Beweismittel herunter. Wenn der V-Mann von einem gravierenden Deal mit großen Mengen von Rauschgift spricht und gleichzeitig sagt, an dem Tag, wo das Geld für das Rauschgift übergeben wurde, war das Wetter schön, dann kommt durch den Wetterbericht, der den Sonnenschein des Tattages exakt beschreibt, ein bestätigendes zusätzliches Element in die Beweissituation, die dann für eine Verurteilung ausreichen kann.
Zugegebenermaßen eine Karikatur, aber auf diesem Level bewegt sich häufig das Niveau der aktuellen Rechtsprechung, um durch diese argumentative Fassade die Forderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu erfüllen. Aus meiner Sicht haben wir jedenfalls aktuell in diesen Situationen prozessual in Deutschland kaum eine ernsthafte Chance, die Unschuld unseres Mandanten oder jedenfalls seine Verführung durch einen V-Mann zu beweisen. Das ist ein Graubereich, der mit Hilfe der Rechtsprechung schlicht institutionalisiert worden ist, und hier bin ich ganz gespannt, ob das, was wir heute Nachmittag zu aktuellen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hören, die Hoffnung nähren kann, dass es hier neue rechtsstaatliche Pflöcke gibt, die wir möglicherweise nationalrechtlich für uns fruchtbar machen können.
Von dem nahezu traditionellen Graubereich zu Innovativem, mit dem wir uns heute Vormittag beschäftigen wollen: den sog. Liechtenstein-Steuer-CDs. Wir haben alle die Bilder vor Augen, wie Herr Zumwinkel abgeführt wird, mit seinem Verteidiger und der ermittelnden Staatsanwältin. Wir ahnten den dubiosen Hintergrund des Verfahrens. Der Deal vor Gericht - zwei Jahre zur Bewährung und die Sache war erledigt – verhinderte eine öffentliche Aufklärung. Viele Deals bis zum heutigen Tage halten diesen Zustand aufrecht.
Die »Steuer-CD-Affaire« hängt für uns nicht nur mit dem Namen Zumwinkel zusammen, sondern auch mit denen auf der anderen Seite: Möglicherweise schon wieder vergessen, agierte dort ein Herr Heinrich Kieber. Das ist der Mann, der die CD seinerzeit besorgt und an die deutschen Behörden verkauft haben soll. Heinrich Kieber ist - und das ist jedenfalls durch mehrere Interviews und journalistische Recherchen bestätigt - ganz offensichtlich ein hoch Krimineller, ein Schwätzer, ein Überredungskünstler, jedenfalls jemand, der durch unvorstellbare Art und Weise überhaupt in die LGT-Treuhand nach Liechtenstein kam, dort sich offensichtlich die Daten gegriffen hat und dann in einem Privatkrieg mit Fürst Hans Adam II. aus Liechtenstein versuchte, zunächst ihn zu erpressen und dann erfolgreich diese CD zu Geld zu machen.
Ich will jetzt nicht darüber spekulieren, wo denn die Schwarz-Weiß-Grenze ist. Die Publikationen darüber, welche Straftaten Herr Kieber und seine Helfer beim Datenklau und –ankauf begangen haben könnten, füllen schon Bibliotheken.
Dass man dies jedenfalls in Liechtenstein für eine Straftat hält machen die Behörden auch nach aktuellem Stand deutlich, wenn nach wie vor mit nationalem Haftbefehl nach Herrn Kieber von Liechtenstein gesucht wird. Was uns daran irritiert, ist die Rolle, die die deutschen Behörden dabei gespielt haben. Da gibt es - jedenfalls nach Ansicht der Liechtensteinischen Behörden und vieler deutscher Strafrechtslehrer - einen Straftäter, der für das Ergebnis dieser Straftat bezahlt wird, und zwar von unseren Behörden und mit unseren Steuergeldern. Ihre Bedenkenlosigkeit zu dieser Art der Verbrechensfinanzierung hat ein Großteil unserer Politiker in der Öffentlichkeit zur Schau getragen. Der Finanzminister hat uns relativ deutlich gesagt, das sei doch alles völlig klar: 2,5 Millionen bezahlt man, man bekommt dafür viele hundert Millionen, muss man da noch darüber nachdenken? Die Botschaft war relativ klar. Finanzielle Nützlichkeitserwägungen dominieren die Formulierung der Staatsräson. Dass das auch noch verbunden wird mit dem Hinweis, dass diese Räson transnational gelte und gegebenenfalls mit dem Einsatz der Kavallerie Nachbarstaaten verdeutlicht werden müsse, ist jedenfalls aus unserer Sicht eher ein vorsichtiges Zeichen des Verlustes des Respekts vor rechtsstaatlichen Positionen, die wir jedenfalls vor Jahren noch als existent wähnten.
Ein rechtspolitisches Statement muss die Kollaboration deutscher Behörden mit Straftätern und deren Nutzung zum Eingriff in Bürgerrechte als eine Methode der Ermittlung aufnehmen, die zumindest neu, jedenfalls in dieser Form nicht geregelt ist, und daher Anspruch hat, in unserem Katalog der Grauzone aufgenommen zu werden.
Diese Innovation hat Konjunktur. Herr Kieber ist kein Einzelfall. Das Klauen von Daten und der anschließende Verkauf an deutsche Behörden hat zu einem Markt geführt. Manche Informationen seien gut, manche schlecht, manche wurden bezahlt, manche wurden nicht bezahlt. Intensiv verfolgt das die deutsche Presse in letzter Zeit nicht mehr. Anfang letzten Jahres gab es einen großen Hype. Danach hat man in Deutschland nicht mehr viel gelesen. Die Österreicher und Schweizer sind demgegenüber am Ball und haben zumindest einen weiteren Fall aufgetan, den sie in der Presse immer als den Fall des »Tiroler Bürgers Wolfgang U.« benennen. Wolfgang U. soll als Mittelsmann jedenfalls den deutschen Behörden eine weitere CD von Daten einer Schweizer Bank angeboten und auch tatsächlich verkauft haben. Wolfgang U. wurde in Österreich nach einer Geldwäscheanzeige verhaftet, weil er mit dem Geld, das er ordnungsgemäß von deutschen Behörden überwiesen bekommen hatte, arbeiten wollte, und einem sehr peniblen Bankangestellten in Österreich auffiel, dass das alles nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Wolfgang U.`s Daten sollen, wenn ich richtig informiert bin, letztendlich der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt worden sein, die aktuelle Ermittlungstätigkeiten darauf gestützt.
Sollten Sie Verteidiger in einem dieser Verfahren sein, könnte Ihr berechtigtes Interesse dahin gehen, diesen Graubereich mit dem Ziel der Darstellung eines Beweisverwertungsverbots aufzudecken. Unabhängig von den dogmatischen Feinheiten des Verwertungsverbots im Allgemeinen lässt sich ein Scheitern dieses Versuchs prognostizieren angesichts der ebenso geläufigen wie seltsamen Kooperation zwischen der Justiz einerseits und den Ermittlungsbehörden und der Polizei andererseits gibt.
Zunächst erscheint Ihre Aufgabe relativ einfach: Sie brauchen einfach nur einen Herrn Kieber zu vernehmen. Sie laden Herrn Kieber und Herr Kieber sagt Ihnen dann, wie er möglicherweise an diese Daten herangekommen ist. Allerdings werden Sie mit Ihren Ladungsbemühungen scheitern. Herr Kieber ist nicht auffindbar. Warum? Er hat eine neue Identität, treibt sich irgendwo in der Welt herum, möglicherweise Australien, man weiß es nicht. Wer hat ihm die neue Identität verschafft? Der BND.
Was ist mit Wolfgang U.? Auch der hat die Schweizer Daten in irgendeiner Form beschafft und hat in irgendeiner Form kooperiert mit deutschen Behörden. Natürlich drängen sich Fragen auf, die insbesondere in österreichischen und Schweizer Zeitungen intensiv gestellt werden.
»Sagen sie mal Herr U., was haben Sie denn mit dem Geheimdienst gemacht? Sind Sie an die herangetreten oder kann es nicht vielleicht sein, dass der Geheimdienst zu Ihnen gekommen ist und gesagt hat, Herr U., Sie haben doch Kontakte, können Sie nicht mal für uns tätig werden. Wir brauchen da ein paar Informationen. Herr Schäuble freut sich auch, der verhandelt gerade mit der Schweiz über ein neues Abkommen, das wäre dann auch ganz nett. Und die Staatsanwaltschaft freut sich auch. Können Sie?«
Alle diese Fragen könnten Sie theoretisch Herrn U. stellen. Herr U., so wie er jedenfalls in der Presse geschildert wurde, ein durchaus lebenslustiger und freundlicher Mensch, ist aber nicht mehr zu befragen. Herr U. wurde wenige Tage nach seiner Verhaftung in seiner Zelle tot aufgefunden.
Etabliert wird hier ein System der Grauzone, das jedenfalls durch uns Verteidiger nicht aufklärbar ist. Wenn der Verdacht rechtsstaatswidrigen Behördenhandelns nicht aufklärbar ist, dann erwarten wir uns Unterstützung von höchster Stelle, möglicherweise vom Bundesverfassungsgericht. Wir wissen, dass auch diese Hoffnungen zerstört worden sind. Es liegt zwischenzeitlich eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor, über die wir hier noch diskutieren werden, weshalb ich die Details hier beiseite lassen will. Unter dem Strich hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, und damit eine Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf bestätigt, dass die Kollaboration letztlich im Hinblick auf eingeleitete Strafverfahren rechtlich nicht zu beanstanden sei. Das Landgericht Düsseldorf hatte unterstellt, die Daten seien durch eine Straftat erlangt worden. Das Landgericht Düsseldorf hatte sogar unterstellt, dass derjenige, der auf deutscher Seite als Amtsträger angekauft hatte, eine Straftat begangen hat. Trotzdem sei es jedenfalls verfassungsmäßig nicht zu beanstanden, dass diese Daten dann anschließend zu Ermittlungen verwandt worden sind, wohl gemerkt nicht zur Aufdeckung terroristischer Vereinigungen, sondern, so das Bundesverfassungsgericht, für eine Kriminalität, die eher den mittleren Bereich zuzuordnen ist.
Wenn tatsächlich unsere Verfassung hier keine Grenzen setzt, dann fragt sich der rechtsunterworfene Bürger, wo eigentlich das rechtsstaatliche Plus dieser verfassungsrechtlichen Situation auszumachen ist gegenüber den mir nicht bekannten verfassungsrechtlichen Situationen in Libyen oder Weißrussland. Wenn tatsächlich der Geheimdienst unter Deckung der deutschen Gerichte arbeiten kann, wenn sogar unterstellt werden kann, dass Straftaten begangen werden, die betroffenen Amtsträger aber niemals zur Rechenschaft gezogen werden, und wenn mit diesen staatlicherseits kriminell erlangten Beweismitteln Bürger verurteilt werden können, dann erinnert mich dies fatal an Situationen, die mir im Zusammenhang mit Beschwerden von osteuropäischen Beschwerdeführern zum Europäischen Gerichtshof bekannt sind und dort nur die unmenschliche Fratze eines Willkürregimes aufblitzen lassen.
Ich will es bei diesem allgemeinen Statement vorläufig belassen. Die nach mir folgenden Referenten von der Staatsanwaltschaft und aus der Lehre werden mir möglicherweise vorhalten, dass ich der ewige Pessimist bin. Ich gebe zu, dass ich die beschriebene Etablierung der Grauzone als möglicherweise fatalen Schritt in die Unberechenbarkeit unserer Justiz kritisch sehe. Ich würde auch konzedieren, dass ich möglicherweise nur den grauen Staub sehe, den die von mir gemutmaßte Abrissbirne in unserem Rechtsstaat erzeugt, und vielleicht darüber übersehe, dass wir uns tatsächlich auf den Weg zu einer ganz ungewohnten globalen Konstruktion eines neuen Rechtsstaates begeben, die mir entgangen ist. Ich gebe zu, ich bin skeptisch, aber ich bin, das will ich versichern, auch offen für Argumente, die mir klar machen, was möglicherweise doch positiv an dieser Entwicklung ist, und wie wir möglicherweise doch etwas bunteren Zeiten entgegensehen. Zunächst einmal vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.