Strafverteidigertag Rechtspolitik

Feindstrafrecht

Prof. Dr. Ulfried Neumann

aus dem Band: Bitte bewahren Sie Ruhe! Leben im Feindrechtsstaat, Thomas Uwer (Hg.) / Organisationsbüro, Berlin 2006

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I. Einleitung

Als Günther Jakobs auf der Strafrechtslehrertagung 1985 in Frankfurt/Main die gegensätzlichen Modelle des »Feindstrafrechts« und des »Bürgerstrafrechts« entwickelte (Jakobs, 1985: 751) wurde der Begriff des »Feindstrafrechts« von dem Auditorium als analytische Kategorie mit kritischer Potenz verstanden. Die Einordnung bestimmter Tatbestände des Besonderen Teils des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB)|1 wie auch der Regelung über die Strafbarkeit bloßer Verbrechensverabredung im Allgemeinen Teil (§ 30 StGB) als »Feindstrafrecht« diente, so die allgemeine Wahrnehmung, der Delegitimierung dieser Bestimmungen. Entsprechend nachhaltig war die Zustimmung, die Jakobs’ Vortrag gerade von Seiten der Vertreter eines betont rechtsstaatlichen und liberalen Strafrechts zuteil wurde.|2 Im Vergleich zu der damaligen Diskussion hat sich in der Auseinandersetzung zum Feindstrafrecht inzwischen eine unübersehbare Wende vollzogen. Heute betont Jakobs die Unumgänglichkeit eines Feindstrafrechts hic et nunc: zu ihm bestehe »keine heute ersichtliche Alternative« (Jakobs, 2000a: 47, 53). Die Bezeichnung »Feindstrafrecht« sei »nicht prinzipiell pejorativ gemeint« (Jakobs, 2004a: 88); es »wäre falsch, das Feindstrafrecht zu verteufeln« (Jakobs, 2004a: 93). Dementsprechend erfährt Jakobs’ Konzept des Feindstrafrechts heute gerade von der Position eines rechtstaatlich-liberalen Strafrechts aus - teilweise heftige - Kritik|3 .

Man mag darüber streiten, ob die registrierte Wandlung in Jakobs’ Position zum Feindstrafrecht|4 so radikal ist, wie in der Diskussion teilweise angenommen. Denn immerhin hält Jakobs auch heute noch daran fest, dass das gegenwärtige deutsche Strafrecht mit der Statuierung bestimmter Straftatbestände Bürger zu Unrecht als Feinde behandele; die Kategorie des Feindstrafrechts behält damit, wenngleich nur in Verbindung mit dem Epitheton »überflüssig«|5 , eine kritische Potenz. Und immerhin hat Jakobs, auf der anderen Seite, schon bei seinem Frankfurter Vortrag (Jakobs, 1985) die Legitimität eines Feindstrafrechts auch de nostris temporibus nicht kategorisch ausgeschlossen (Jakobs, 1985: 783, 784). Im Ergebnis kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass sich jedenfalls die Gewichte in Jakobs Konzeption von der Kritik hin zu einer Affirmation des Feindstrafrechts verschoben haben - wenn überhaupt man das Konzept des Feindstrafrechts nicht nur als rechtssoziologisches Modell, sondern auch als rechtsphilosophischen oder rechtsdogmatischen Entwurf mit normativen Konsequenzen zu verstehen hat.

II. Feindstrafrecht – analytisches Modell oder normatives Konzept?

Inwieweit das Modell des Feindstrafrechts zur Rechtfertigung der Normen dienen kann, die ihm zuzuordnen sind, wird unterschiedlich beurteilt. Während die Kritiker den normativen Aspekt in den Vordergrund stellen und etwa der Befürchtung Ausdruck verleihen, dass das Modell »zukünftigen Unrechtsregimen eine theoretische Legitimation verleiht«|6 , betont Jakobs selbst, seine Konzeption trage ganz überwiegend deskriptiven Charakter.|7 Unstreitig ist, dass Jakobs’ Konzept jedenfalls auch den Anspruch eines analytischen Instrumentariums erhebt; überwiegend anerkannt, dass es dazu in hohem Maße tauglich ist.

1 Die Kategorie »Feindstrafrecht« als Instrument der Strafrechtsanalyse

Kaum zu bestreiten ist, dass die Entwicklung, die das deutsche Strafrecht in den letzten Jahren und Jahrzehnten genommen hat, durch ein zunehmendes Gewicht derjenigen Elemente geprägt ist, die Jakobs als typische Kennzeichen des Feindstrafrechts nennt: (a) die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit, (b) eine überproportionale Strafe bei den entsprechenden Tatbeständen, (c) den Übergang zu einer »Bekämpfungsgesetzgebung«, (d) den Abbau prozessualer Garantien (Jakobs, 2000a: 51). Die Beispiele, mit denen Jakobs diese Tendenzen belegt, sind schlagend und ließen dich durch weitere ergänzen. Zu Recht wird diese Entwicklung von Jakobs in einen Zusammenhang mit der Höhergewichtung des Gesichtspunkts der Prävention gestellt: Im Gegensatz zu dem auf Normstabilisierung zielenden Bürgerstrafrecht wird das Feindstrafrecht gerade durch die Funktion der Abwehr künftiger Gefahren gekennzeichnet (Jakobs, 1985: 753; ders. 2004a: 88). Schließlich wird man Jakobs auch darin zustimmen müssen, dass sich in einer realen Rechtsordnung typischerweise Elemente des Feindstrafrechts mit solchen des Bürgerstrafrechts verbinden, ein reines Bürgerstrafrecht ebenso wenig existiert wie ein reines Feindstrafrecht (Jakobs, 2004a: 88). Die Kategorie des Feindstrafrechts, verstanden als der durch die vier herangezogenen Kriterien bestimmte Begriff, ist als analytische Kategorie in hohem Maße überzeugend - unabhängig von der Frage, ob die Bezeichnung Feindstrafrecht für diese Kategorie glücklich gewählt ist (oder ob man nicht besser von einem »Gefährdungsstrafrecht« oder einem »präventionsorientierten Strafrecht« sprechen sollte). Aber die Antwort auf diese terminologische Frage hängt einerseits von der theoretischen Fundierung des Konzepts des »Feindstrafrechts« ab (dazu nachstehend), andererseits von den möglichen praktischen Auswirkungen der gewählten Terminologie (dazu sub III.1 und V. 3). Sie betrifft nicht die analytische Leistungsfähigkeit der Kategorie.

2 Normative Implikationen

Die analytische Funktion des Modells von »Feindstrafrecht« und »Bürgerstrafrecht« steht bei Jakobs - nicht nur nach dem Selbstverständnis des Autors|8 - deutlich im Vordergrund. Reduziert man das wissenschaftliche Konzept des Feindstrafrechts auf diese Funktion, dann ist es eine Frage der den Zuständigkeitsbereich der Wissenschaft überschreitenden rechtspolitischen Wertung, inwieweit man ein Feindstrafrecht unter bestimmten Umständen für gerechtfertigt hält. Im Sinne dieser Unterscheidung könnte man auch die Behauptung von Jakobs, zu einem Feindstrafrecht bestehe »keine heute ersichtliche Alternative« (Jakobs, 2000a), als bloße rechtspolitische Wertung einordnen, der man mit gleichem Recht die Wertung entgegenstellen könnte, ein Feindstrafrecht sei unter allen Umständen illegitim, oder auch: jedenfalls unter den politisch stabilen Bedingungen der heutigen europäischen Staats- und Rechtsordnungen sei die Etablierung eines Feindstrafrechts eine nicht gerechtfertigte Belastung der von ihm Betroffenen. Die Bewertung des Einsatzes von Feindstrafrecht in einer Rechtsordnung lässt sich also insofern von dem wissenschaftlichen Modell des Feindstrafrechts trennen. Auch die Feststellung von Jakobs, die Bezeichnung »Feindstrafrecht« sei nicht prinzipiell pejorativ gemeint (Jakobs, 2004a: 88), stellt die rechtspolitische Neutralität des wissenschaftlichen Modells des Feindstrafrechts nicht zwangsläufig in Frage, weil die Abwehr prinzipiell negativer Konnotationen keineswegs als positive Besetzung des Begriffs verstanden werden muss. Aber auch dann, wenn man der zitierten Feststellung von Jakobs die Wertung entnimmt, dass ein Feindstrafrecht jedenfalls unter bestimmten Umständen zu rechtfertigen ist, bedeutet das per se noch nicht eine normative Aufladung des Konzepts des Feindstrafrechts. Denn auch insoweit kann man zwischen dem wissenschaftlichen Modell einerseits, der Rechtfertigung andererseits unterscheiden. So betrifft das Problem, ob man, wie Jakobs meint, nach dem 11. September 2001 wirklich zu einem Feindstrafrecht, einem »gebändigten Krieg« greifen muss (und darf!), um zu tun, »was man gegen den Terrorismus tun muss, wenn man nicht untergehen will« (Jakobs, 2004a: 92), Fragen der sicherheitspolitischen Einschätzung der Lage wie der rechtsethischen Bewertung der wirklich oder vermeintlich erforderlichen »Kampfmittel«-Fragen, deren Beantwortung durch das Modell Bürgerstrafrecht-Feindstrafrecht jedenfalls unter den bisher angesprochenen Gesichtspunkten nicht präjudiziert wird.

Kann man der Kritik an Jakobs’ Modell des Feindstrafrechts, soweit sie durch die Sorge um den Fortbestand eines rechtsstaatlichen Strafrechts und Strafprozessrechts motiviert ist, also dadurch die Spitze nehmen, dass man auf dem analytischen, rechtssoziologischen Charakter des Modells insistiert und die Frage der Legitimation in den Bereich einer - von dem wissenschaftlichen Modell strikt zu trennenden - rechtspolitischen und rechtsethischen Wertung verweist?

Ich denke, dass diese Frage aus zwei Gründen zu verneinen ist. Zum einen signalisiert der Begriff des Feindstrafrechts, sofern er nicht lediglich - in bewusst paradoxer Zuspitzung - mit denunziatorischer Tendenz zur Kritik bestimmter Auswüchse der Strafgesetzgebung dienen soll, eine Kompatibilität der Kategorie des Rechts mit einem Feind-Schema, die es als möglich erscheinen lässt, ein Individuum als Feind zu behandeln, ohne das Terrain des Strafrechts zu verlassen.

Zum andern ist das Konzept des Feindstrafrechts bei Jakobs heute in ein sozialphilosophisches Modell integriert,|9 das die Behandlung bestimmter Individuen nach den Regeln des Feindstrafrechts geradezu zur philosophischen Notwendigkeit erhebt. Mit dieser Wandlung des Feindstrafrechts von einem zur Gesellschaftssicherung unter Umständen erlaubten »Notstandsstrafrecht« (Jakobs, 1985: 784) zu einem Regelstrafrecht gegenüber Nicht-Personen ist ein entscheidender Wechsel in der Legitimationsfrage verbunden. Denn das Notstandsrecht legitimiert sich durch den Gesichtspunkt des überwiegenden Interesses; der Gedanke einer Statusminderung dessen, der zur Duldung des Notstandseingriffs verpflichtet wird, ist dem Notstandsrecht fremd. Auch dann, wenn die Gegeninteressen des Notstandspflichtigen deshalb geringer gewichtet werden, als dies typischerweise der Fall wäre, weil er selbst der Ursprung der Gefahr ist, um deren Abwehr es geht, wird sein Rechtstatus nicht angetastet; die Rechtfertigung des Notstandseingriffs verbleibt im Modus der Interessenabwägung und damit im Modus der externen, durch überwiegende Interessen anderer begründeten Legitimation. Dementsprechend zielt das Konzept des Feindstrafrechts als Notstandsstrafrecht auf Gefahrenabwehr. So formuliert Jakobs in seinem Frankfurter Vortrag:

»Das Feindstrafrecht optimiert Rechtsgüterschutz, das bürgerliche Strafrecht optimiert Freiheitssphären« (Jakobs, 1985: 756).

Dieser Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr (des Güterschutzes) bleibt zwar in der neueren Konzeption von Jakobs erhalten und bekommt durch die Differenzierung der Straffunktionen nach manifesten und latenten Funktionen noch ein klareres Profil.|10 Zugleich aber erfahren die scharfen Eingriffe, die das Feindstrafrecht gegenüber den Betroffenen, dem Feind, erlaubt, eine interne (intrinsische) Rechtfertigung. Als Nicht-Person hat das Individuum keinen Anspruch darauf, nach den Maßstäben des Bürgerstrafrechts behandelt zu werden. Ihm gegenüber sind Maßnahmen erlaubt, die über das nach Notwehrregeln Zulässige hinausgehen|11 und deren Begrenzungen sich lediglich unter dem Gesichtspunkt zweckorientierter Selbstbindungen des Staates (Jakobs, 2004b: 44) sowie gegebenenfalls daraus ergeben, dass dem Feind eine potentielle Personalität zugestanden werden kann.|12

Aus eigenem Recht kann der »Feind« eine Rücksichtnahme selbst auf seine elementarsten Interessen nicht verlangen.
Jakobs’ Modell des Feindstrafrechts ist also jedenfalls in seiner aktuellen Ausgestaltung ein (auch) normativ geprägtes Konzept, das nicht nur der Beschreibung, sondern auch der Legitimation feindstrafrechtlicher Maßnahmen dient, und das gerade auch unter diesem Gesichtspunkt kritische Aufmerksamkeit verdient.

III. Feindstrafrecht – eine contradictio in adiecto?

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Die Frage, ob sich Jakobs’ Modell die Inkompatibilität der Kategorien entgegenhalten lassen muss, die die beiden Komponenten des Begriffs bilden,|13 lässt sich nicht vorab, im Wege einer semantischen Analyse, entscheiden. Zwar liegt es nahe, den Begriff des Feindes einer vor- oder außerrechtlichen Denkweise zuzuordnen, in der es um die rücksichtslose, nicht durch rechtliche Regeln oder gar subjektive Rechte gehemmte Bekämpfung des anderen geht, also den Begriff des Feindes dem Naturzustand zuzuordnen und ihn aus dem Rechtszustand auszuschließen. Aber die These einer grundsätzlichen Exklusivität von Feindstatus und Rechtsstatus wird dementiert schon durch die Existenz eines Teilgebiets des Völkerrechts (Kriegsrecht), das gerade den Umgang mit dem Feind rechtlichen Regeln unterwirft und unter Umständen gerade auch den Verzicht auf die effizienteste Maßnahme der Feindbekämpfung verlangt. So ist es auch dann verboten, Kombattanten, die sich ergeben haben, zu töten, wenn deren Bewachung eigene Kräfte bindet und damit das eigene Kampfpotential schwächt. Auch der Kampf gegen Feinde unterliegt also nicht allein dem Diktat der Zweckmäßigkeit, sondern wird effizienzbeschränkenden rechtlichen Restriktionen unterworfen.

Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob nicht die Kategorie des Strafrechts mit dem Freund-Feind-Schema von vornherein unverträglich ist. Die Antwort hängt davon ab, inwieweit man mit dem Begriff des Feindes die Vorstellung einer auf den Rechtsstatus durchschlagenden moralischen Unterlegenheit des Feindes verbindet. Soweit das geschieht, ist der Feind nicht nur der Gegner, mit dem man sich zur Verteidigung eigener Interessen auseinandersetzen muss, sondern der Böse, der nicht nur zu bekämpfen ist, sondern für seine Bosheit bestraft werden darf. Dieses Denkmuster ist aus der gegenwärtigen politischen Rhetorik vertraut, in der gegnerische Mächte als »Reiche des Bösen«, Lagerbildungen zwischen ihnen als »Achsen des Bösen« gebrandmarkt werden. Aus einer solchen Sicht ist es konsequent, Feinde nach ihrer Unterwerfung auch mit Strafe zu überziehen. Aber im allgemeinen Sprachgebrauch ist das Freund-Feind-Schema mit dem Schema Gut-Böse gerade nicht deckungsgleich. Aus den semantischen Regeln ist für eine Kritik des Begriffs des Feindstrafrechts angesichts dieser Uneinheitlichkeit des Sprachgebrauchs wenig zu gewinnen.

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Ausschlaggebend für die Frage der Konsistenz des Konzepts eines »Feindstrafrechts« sind nicht semantische, sondern sachliche Kriterien. Ob die Kritik zutrifft, die behauptet, Feindstrafrecht sei gerade kein Strafrecht,|14 hängt nicht von dem Wort, sondern von dem Konzept des Feindstrafrechts ab.|15 Dieses Konzept weist gegenüber dem »Bürgerstrafrecht« als Regelstrafrecht vor allem in drei Punkten Besonderheiten auf: (a) hinsichtlich der Funktion der Strafe, (b) in dem normativen Verhältnis Verdächtiger (Täter) - Staat (Gesellschaft), (c) in den resultierenden Folgen hinsichtlich der Ausgestaltung des Strafrechts (einschließlich des Strafverfahrensrechts).

a)  Gefahrenabwehr statt Normstabilisierung

Nach der straftheoretischen Konzeption von Jakobs dient die Strafe im Regelstrafrecht (Bürgerstrafrecht) weder der Vergeltung im Sinne der »absoluten« Straftheorien noch (primär) der Verhinderung künftiger Straftaten. Sie zielt vielmehr als »Widerspruch« gegen die Tat auf die Erhaltung des durch die normverletzende Tat gefährdeten Normvertrauens. In diesem Sinne ist sie »Mittel symbolischer Interaktion« (Jakobs, 2004a: 88). Präventive Wirkungen spielen in dem ursprünglichen Konzept von Jakobs nur eine sekundäre Rolle: Abschreckungseffekte seien vielleicht erwünschte »Beigaben der Strafe« - es sei aber »nicht die Aufgabe der Strafe, diese Effekte hervorzurufen« (Jakobs, 1991: 1/16). Lediglich unter dem Gesichtspunkt der notwendigen »kognitiven Untermauerung der Norm« wird der Eindämmung von Straftaten auch eine Bedeutung für die Erfüllung der Aufgabe staatlicher Strafe zuerkannt. (Jakobs, 1991: 1/16) In neueren Arbeiten erfährt der Gesichtspunkt der Abschreckung demgegenüber eine Aufwertung;|16 teilweise wird von Jakobs zwischen der manifesten Funktion der Strafe, den Normbestand und damit die Identität einer Gesellschaft zu bestätigen, und den latenten Funktionen der Verbrechensprophylaxe durch Einwirkung auf die Motivation potentieller Täter unterschieden (Jakobs, 2000a: 50).

Gleichwohl bleibt der Gegensatz von Normbestätigung auf der einen Seite, Gefahrenabwehr auf der anderen für das dualistische Modell von Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht zentral: Bürgerstrafrecht erhält die Normgeltung, Feindstrafrecht bekämpft Gefahren.|17 Das heißt zugleich: Bürgerstrafrecht setzt auf gesellschaftliche Kommunikation, auf die Bedeutung der Strafe, Feindstrafrecht auf ihre physische (Sicherungswirkung der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregel - dazu Jakobs, 2004a: 88) oder psychologische Wirkung (Abschreckung). Kurz: Feindstrafrecht ist »Gefahrbekämpfung statt Kommunikation« (Jakobs, 2004a: 89).

Blendet man die intrikate Frage, wo unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr die Grenze zwischen Polizeirecht einerseits, (Feind-) Strafrecht andererseits verläuft, an dieser Stelle aus, so verbleibt das Feindstrafrecht bis zu diesem Punkt durchaus innerhalb des traditionell anerkannten Zuständigkeitsbereichs des Strafrechts. Denn der Topos »Rechts- und Rechtsgüterschutz durch Verbrechensprävention« markiert eine zentrale Diskussionslinie in der Auseinandersetzung um Sinn und Zweck staatlicher Strafe. Dass Jakobs hier genötigt ist, neben dem Regelstrafrecht ein weiteres, »Feindstrafrecht« genanntes Strafrecht anzuerkennen, resultiert insoweit nur aus seiner spezifischen straftheoretischen Position, die als manifeste Funktion des Regelstrafrechts allein die Normstabilisierung anerkennt und deshalb alle präventiven Straffunktionen (mit Ausnahme der positiven Generalprävention)|18 aus dem Bereich des Regelstrafrechts (Bürgerstrafrecht) verweist. Soweit es um die unterschiedlichen Funktionen der Strafe im Bereich des Bürgerstrafrechts einerseits, des Feindstrafrechts andererseits geht, könnte man also sagen: Gerade deshalb, weil Jakobs im Bereich des Bürgerstrafrechts die Funktion der Strafe auf die eines kommunikativen Aktes reduziert und die Instrumentalisierung des Täters zu Abschreckungszwecken verwirft, ist er gezwungen, dort, wo der Einsatz von Techniken der Verbrechensprävention als unabdingbar erscheint, einen anderen Strafrechtsbereich zu etablieren. In diesem Sinne ist auch die Einschätzung von Jakobs folgerichtig, das Konzept eines Feindstrafrechts sei gerade zum Schutz der Regeln des Bürgerstrafrechts erforderlich (Jakobs, 2000a: 53).|19

b)  Der Straftäter als Bürger oder Feind

Allerdings ist das Feindstrafrecht in Jakobs Konzeption von einer Tendenz zur Maßlosigkeit gekennzeichnet, die nur teilweise auf das Konto der konstitutionellen Unersättlichkeit präventiver Strafmodelle zu setzen ist. Denn so richtig es ist, dass man bei konsequenter Fortführung des Gedankens des Rechtsgüterschutzes auch noch die gefährlichen Gedanken potentieller Täter und deren Quellen bekämpfen müsste (Jakobs, 1985: 753), so sehr bedarf die Reichweite des präventiven Strafrechts der Begrenzung durch den gegenläufigen Gesichtspunkt des Schutzes der Freiheit des einzelnen.|20 Anders formuliert: Während das vergeltende Strafrecht die Interventionsschwelle des Strafrechts eo ipso hoch setzt, weil Anknüpfungspunkt der Strafsanktion die verletzende Tat ist, und während das normstabilisierende Strafrecht auf eine Normerschütterung reagiert, die typischerweise ebenfalls erst durch die verletzende Tat ausgelöst wird, muss das präventive Strafrecht, soweit es ausschließlich seiner eigenen Logik folgt, den Interventionspunkt weit vorverlegen, um den bestmöglichen Rechtsgüterschutz zu erreichen. Entsprechendes gilt für die Höhe der anzudrohenden Strafsanktionen. Vergeltendes und normstabilisierendes Strafrecht werden durch immanente, aus der Logik des Strafsinnes oder -zweckes resultierende Schranken begrenzt. Dagegen bedarf das präventive Strafrecht einer externen Begrenzung, für die in erster Linie die bürgerlichen Freiheitsrechte einzustehen haben, die in den modernen Verfassungsstaaten ganz überwiegend als Grundrechte garantiert werden.

Im Modell des Feindstrafrechts bei Jakobs versagt diese Korrektur, weil den Adressaten des Feindstrafrechts wirksame Rechtspositionen gegenüber dem staatlichen Zugriff mittels Strafe und Strafverfolgungsmaßnahmen nicht zuerkannt werden und das Verfassungsrecht, das in Deutschland eine Verwirkung von Freiheitsrechten jenseits des hier nicht einschlägigen und in der Praxis irrelevanten Art. 18 GG nicht vorsieht|21 , weithin ausgeblendet wird. Das zentrale Problem des Feindstrafrechts ist die (partielle) Entpersönlichung des Feindes.

c)  Die Entpersönlichung des Feindes

aa)  Beides, die Umorientierung des Strafrechts von der Normstabilisierung auf die Gefahrenabwehr im Feindstrafrecht und die Entpersönlichung des Feindes|22 gehören in einem ersten Schritt der Argumentation zusammen. Denn in einem auf Gefahrenabwehr ausgerichteten Strafrecht erscheint der Täter als Gefahrenquelle, nicht als Person. Jakobs’ Formulierungen lassen hier an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So gehe es bei dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr, den die deutsche Strafprozessordnung bei dringendem Verdacht der Begehung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vorsieht (§ 112 a Abs. 1 Nr. 1 StPO), »um die Sicherung einer Gefahrenquelle, wie bei einem wilden Tier, nicht aber um den Umgang mit einer Person.« (Jakobs, 2004b: 41) Dass der Täter bei chronischer Delinquenz nicht als Rechtsperson behandelt werden könne, begründet Jakobs in diesem Zusammenhang mit der erforderlichen »kognitiven Untermauerung« des Status der Person. So, wie für die Geltung einer Norm ein gewisses Maß an faktischer Orientierungskraft unverzichtbar sei, so könne auch als Person nur anerkannt werden, wer die »kognitive Mindestgarantie« leiste, »die zur Behandlung als Rechtsperson nun einmal unabdingbar ist« (Jakobs, 2004b: 42).

bb)  Nun ist die Voraussetzung einer »kognitiven Untermauerung« als Bedingung der Normgeltung im Rahmen eines systemtheoretischen Normkonzepts in hohem Maße plausibel, weil normative Erwartungen gegen die konstante Erfahrung von Normverletzungen nicht durchgehalten werden können. Parallel dazu kann man argumentieren, die »Person« sei durch die normative Erwartung rechtstreuen Verhaltens definiert, und diese Erwartung könne - auch als normative Erwartung - gegen die Erfahrung wiederholter Rechtsverstöße seitens eines Täters nicht durchgehalten werden: »Wie sich Normgeltung nicht völlig kontrafaktisch durchhalten lässt, so auch nicht Personalität.« (Jakobs, 2004a: 91) Im Rahmen einer solchen Konzeption ist es konsequent, den Status als Person denjenigen abzusprechen, die sich »vermutlich dauerhaft, zumindest aber entschieden vom Recht abgewandt haben« (Jakobs, 2004a: 91; ähnlich ders., 2000a 52). Man muss sich allerdings klar machen, was der Begriff der Person in diesem Zusammenhang leistet und was er nicht leistet. Er leistet: die Bereitstellung einer Kategorie zur Kennzeichnung eines Individuums, von dem aufgrund bisheriger Erfahrungen anzunehmen ist, dass es sich grundsätzlich rechtstreu verhalten wird. Er leistet nicht: die Begründung (oder auch nur: eine begriffliche Bündelung von Gründen) dafür, dass ein Individuum, das nach diesem Kriterium nicht als Person zu bezeichnen ist, in einer Weise behandelt werden darf, die gegenüber Personen nicht zulässig wäre. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass diese Begründung mit der Feststellung, die Nicht-Person werde als Gefahr oder Gefahrenquelle wahrgenommen, noch nicht geleistet ist. Denn die entscheidende Frage heißt, in welchem Maße Freiheitsrechte des »gefährlichen« Individuums den Maßnahmen der »Gefahrbekämpfung« Grenzen setzen. Die Begründung dafür, dass gegenüber Nicht-Personen zur Gefahrenabwehr fast alles erlaubt ist|23 , setzt einen normativ stark aufgeladenen Personenbegriff voraus, der aus systemtheoretischen Ansätzen|24 nicht zu gewinnen ist.

IV. Funktion und Voraussetzungen des Begriffs der »Person«

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Person ist in dem Modell von Jakobs nicht das Individuum, sondern der Mensch in seinen sozialen Bezügen. In diesem Sinne hat die Person im Verhältnis zur Gesellschaft einen abgeleiteten Status.

»Eine einzige Person ist ein Widerspruch in sich; Personen gibt es nur in einer [...] Gesellschaft« (Jakobs, 1999a: 38).

Das ist überzeugend, wenn man Person wie Gesellschaft mit Jakobs als normativ konstituierte Größen versteht, die von der bloßen Faktizität der von Individuen und Gruppen gebildeten empirischen Welt abgehoben und ihr gegenüber gestellt werden. Die entscheidende Weichenstellung hinsichtlich der Bedeutung des Personenbegriffs für das Konzept des »Feindstrafrechts« erfolgt aber bei der Festlegung der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit einem Menschen der Status einer Person zuerkannt werden kann. Hier ist zunächst festzuhalten, dass bei Jakobs Personen primär nicht durch Rechte definiert werden, sondern durch Pflichten: »Um Rechte geht es bei der Konstitution der Person nur nachrangig, nämlich soweit die Person sie benötigt, um ihren Pflichten genügen zu können«|25 . Entscheidend aber ist, dass nicht die normative Bindung der Person durch Pflichten, sondern die Erfüllung dieser (bzw. bestimmter) Pflichten durch den Einzelnen zur Voraussetzung seines Personenstatus erhoben wird. Die Person wird also nicht dadurch definiert, dass normative Erwartungen an sie gerichtet werden, dass sie in diesem Sinne eine Rolle hat, sondern das sie diese Rolle erfüllt (Jakobs, 1999a: 68). »Wirkliche Person ist, wessen Verhalten normgemäß ausfällt« (Jakobs, 1999a: 99). Jakobs vertritt also ein leistungsorientiertes Modell der Person: Der Personenstatus muss durch Wohlverhalten verdient werden. Jakobs wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die Idee »angeborener« Persönlichkeitsrechte (Kant) und die Annahme kategorischer, d.h. auch im Verhältnis zu dem »Normbrecher« geltender Verbote|26 . Dem entspricht, dass der Begriff »Menschenwürde« in Jakobs rechtsphilosophischem Entwurf nicht vorkommt, und dieser Umstand, ebenso wie das Fehlen der Begriffe »Konsens«, »Diskurs« und »Intersubjektivität«, »durchaus als Programm verstanden werden kann« (Jakobs, 1999a: Vorwort).
Dieses Konzept eines leistungsabhängigen Personenbegriffs gewinnt seine Sprengkraft dadurch, dass gegenüber der Nichtperson fast alles erlaubt ist|27 , dass also nur der Personenstatus den Einzelnen vor tendenziell grenzenlosen Eingriffen schützt. Das Modell von Jakobs verbindet somit hohe Anforderungen, die an Erwerb und Besitz des Personenstatus gestellt werden, mit der Konsequenz der fast völligen Rechtlosigkeit dessen, der diesen Anforderungen nicht gerecht wird.

2 Konsequenzen für den Status des Straftäters

Ist »wirkliche Person« nur derjenige, dessen Verhalten normgemäß ausfällt (s. o.), so ist die Konsequenz zwingend, dass »dem Normbrecher materielle Personalität fehlt« (Jakobs, 1999a: 99). Damit aber stellt sich das Problem der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Täters. Denn Jakobs definiert die Person nicht nur über das empirische Kriterium des normgemäßen Verhalten, sondern auch über das normative Kriterium der Zurechenbarkeit des Verhaltens: »Personen kann zugerechnet werden« (Jakobs, 1999a: 81). Daraus ergibt sich tendenziell die Paradoxie, dass die Tat dem Täter gerade deshalb nicht zugerechnet werden kann, weil er sie begangen hat. Denn zugerechnet werden kann nur einer Person; es hätte aber »eine vorhandene Person keine tadelnd zurechenbare Handlung vollzogen« (Jakobs, 1999a: 82). Die konstruktiv mögliche Lösung, anzunehmen, »die Person könne mittlerweile, zwischen dem zuzurechnenden Ereignis und der Vornahme des Zurechnungsaktes (wieder) wirklich geworden sein«, wird von Jakobs zu Recht verworfen (Jakobs, 1999a: 82). Aber auch die von Jakobs favorisierte Lösung, die tadelnde Zurechnung nicht als speziell an den Täter adressiert zu denken (sondern an alle Personen einschließlich des Täters - Jakobs, 1999a: 82) ist nicht befriedigend,|28 weil man hier zwischen den Adressaten des Zurechnungsaktes einerseits, den Empfängern der Botschaft über die Zurechnung andererseits unterscheiden muss. Mögen die Empfänger der Botschaft alle Personen sein, so kommt doch als Adressat des Zurechnungsaktes nur der Täter in Frage. Auflösen lässt sich diese Paradoxie wohl nur dadurch, dass den unterschiedlichen Definitionskriterien der Personalität unterschiedliche Personenbegriffe zugeordnet werden (materielle bzw. formelle Personalität - Jakobs, 1999a: 102).

3 Normbrecher, Feind, Person

Dass dem Normbrecher der Status als Person abgesprochen werden kann, rechtfertigt es, ihm die mit diesem Status verbundenen Rechtspositionen zu verweigern und ihn insofern als Feind zu behandeln. Insoweit lautet die Alternative: »Person versus Feind« (Jakobs, 2004a: 40 -Überschrift Abschnitt VI). Ob er tatsächlich als Feind behandelt wird, bestimmt sich nach funktionalen Kriterien; in diesem Sinne lautet die Alternative: »Normbrecher versus Feind« (Jakobs, 1999a: 109 - Überschrift Abschnitt B 2). Im vorliegenden Zusammenhang, in dem es um die Frage der normativen Konsequenzen von Jakobs’ Modell des Feindstrafrechts geht, interessiert vor allem der legitimatorische Aspekt. Hier ist der entscheidende Schritt die Kennzeichnung des (hartnäckigen) Normbrechers als Unperson, mit der grundsätzlich nach Kriterien der Zweckmäßigkeit (Reaktion auf ihre Gefährlichkeit) verfahren werden darf. Auf diesen Punkt konzentriert sich die nachfolgende Kritik.

V. Kritik

1 Wohlverhalten als Voraussetzung des Status als Person

Mit der Voraussetzung normkonformen Verhaltens als Bedingung des Personseins führt Jakobs in die normative Welt von Person, Gesellschaft und Norm, die der kognitiven, vor-normativen Welt von Individuum, Gruppe und Natur gegenüber gestellt wird|29 , ein empirisches Moment ein (tatsächliches normgemäßes Verhalten). Das erinnert an das Modell bestimmter radikaler Vertragstheorien, nach denen die Normverletzung als Bruch des Gesellschaftsvertrags dessen Suspendierung gegenüber dem Normverletzer und damit dessen Rechtlosigkeit zur Folge hat. Nicht zufällig bezieht sich Jakobs in diesem Zusammenhang auf Fichte|30 . Das ist ein mögliches Konzept von Person; es muss sich aber der Konkurrenz mit alternativen Modellen stellen, die den Status als Person als Ergebnis einer leistungsunabhängig erfolgten generellen Zuschreibung an alle menschlichen Individuen verstehen. In solchen Modellen werden bestimmte elementare Rechte jedem Bürger zuerkannt, unabhängig von seinem sozialen Verhalten, und es werden bestimmte kategorische Prinzipien anerkannt, deren Verbindlichkeit nicht davon abhängt, dass der von ihnen in casu Begünstigte die Respektierung des Prinzips »verdient« hat|31 .

2 Verfassungsrechtliche Aspekte

Wie das positive Recht generell, so liefert auch das Verfassungsrecht natürlich keine Waffen, die gegen philosophische Konzeptionen ins Feld geführt werden könnten. Insofern wäre es kurzschlüssig, dem Modell von Jakobs, das der Menschenwürde ausdrücklich keinen Stellenwert einräumt, das deutsche Grundgesetz oder eine vergleichbare Verfassung entgegenhalten zu wollen. Sobald aber aus einer philosophischen Konzeption praktische Konsequenzen gezogen werden (hier: für den Umgang mit Tatverdächtigen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht), darf das Verfassungsrecht nicht übersprungen werden. Das deutsche Grundgesetz geht aber - wie andere Verfassungen - mit der Zuerkennung einer unantastbaren Menschenwürde an alle Menschen offenbar davon aus, dass man sich den Status als Person nicht durch Wohlverhalten (oder: die grundsätzliche Bereitschaft zu Wohlverhalten) verdienen muss. Der mögliche Einwand, im Grundgesetz sei von der »Person« nicht die Rede, wäre zu vernachlässigen. Entscheidend ist, dass das Grundgesetz jedem Menschen, unabhängig von seinem Sozialverhalten, einen normativ relevanten Status zuerkennt, der es dem Staat verbietet, ihn lediglich nach Kriterien der Zweckmäßigkeit zu behandeln.

Besonders problematisch erscheint das Konzept, nach dem der Personenstatus normkonformes Verhalten voraussetzt, in dem rechtsstaatlich besonders sensiblen Bereich des Strafverfahrensrechts. Es geht sehr weit, wenn Jakobs dem Beschuldigten, der Beweise manipuliert oder sich dem Strafverfahren durch Flucht entzieht, insofern den Personenstatus abspricht und ihm das Verhalten eines Feindes attestiert: Eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme wie die Verhängung von Untersuchungshaft richte sich, so Jakobs, »nicht gegen die Person im Recht - diese verdunkelt nicht und flieht nicht - sondern gegen das Individuum, das mit seinen Trieben und Ängsten für den ordentlichen Rechtsgang gefährlich wird, sich insoweit als Feind geriert« (Jakobs, 2004a: 93). Da in der deutschen Rechtsordnung weder die Vernichtung von Beweismaterial durch den Beschuldigten noch die Flucht vor drohender Strafverfolgung einen Straftatbestand verwirklicht, läuft diese Argumentation darauf hinaus, die Person - bei Strafe des Verlusts des Personenstatus - nicht nur auf strafrechtskonformes Verhalten, sondern auf eine bedingungslose Unterwerfung unter die Mechanismen staatlicher Strafverfolgung zu verpflichten. Zwar darf nicht übersehen werden, dass es hier lediglich um eine punktuelle Entpersonalisierung geht. Der Beschuldigte verliert seinen Personenstatus nicht generell, sondern nur, soweit er Beweismittel manipuliert oder flüchtet und deshalb Zwang gegen ihn angewendet werden kann - so, wie die Entpersonalisierung des Sicherungsverwahrten nur den möglichen Fehlgebrauch der Freiheit betrifft (Jakobs, 2004b: 43). Aber das ändert nichts an dem entscheidenden Punkt, dass hier ein Beschuldigter, der sich innerhalb des Freiheitsraumes bewegt, den die Rechtsnormen des Staates ihm lassen, nur deshalb partiell seinen Personenstatus verlieren soll, weil er diesen rechtlichen Freiraum in einer Weise nutzt, die den Strafverfolgungsinteressen des Staates zuwiderläuft.

Eine letzte Bemerkung. Der Begriff des »Feindstrafrechts« hat einen guten Sinn, wenn er als analytische Kategorie oder aber in kritischer Absicht, zum Zwecke der Denunziation einer Rechtsordnung verwendet wird, die den straffällig gewordenen Bürger nicht als straffällig gewordenen Bürger, sondern eben als »Feind« behandelt. Wird der Begriff in einem affirmativen Sinne gebraucht, gerät er zur gefährlichen politischen Rhetorik, weil er die Suggestion nahe legt, zur Bekämpfung des Feindes sei dem Strafrecht (fast) alles erlaubt, und weil die Definition des »Feindes«, wie die historische Erfahrung lehrt, in der Praxis der staatlichen Verfolgung von Personengruppen nicht zu kontrollieren ist. Im rechtspolitischen Diskurs sollte auf den Begriff des Feindstrafrechts verzichtet werden.

 

Anmerkungen


1 : Bspw. der »Klimaschutztatbestände« der Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140 StGB), der  Volksverhetzung (§ 130) und des Aufstachelns zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB).

2 : Vgl. dazu den Diskussionsbericht von Gropp, ZStW 97 (1985): 919, 920ff.

3 : vgl. etwa Ambos, 2002: 63ff.; Aponte, 2004; Cancio Meliá, 2005: 267; Eser, 2000: 437, 444f.; Hamm, 2005: 105; Jahn, 2004: 234ff.; Prittwitz, 2001: 774, 794ff.; ders., 2004: 107; Schünemann, 2001: 205, 210ff.; ders., 2003: 299, 312f.).

4 : Dazu etwa Prittwitz, ZStW 113 (2001): 796; Lorenz Schulz, Tagungsbericht, ZStW 112 (2000): 653, 659ff.;

5 : Jakobs, 2004a: 94 (§ 30 StGB als »überflüssiges Feindstrafrecht«). Vgl. auch Jakobs, 1995: 843, 858 (Kritik u.a. an den Tatbeständen der Volksverhetzung (§ 130 StGB) und der Gewaltdarstellung (§ 131 StGB)

6 : Ambos, 2002: 62. Zur Frage, ob das Konzept des Feindstrafrechts (nur) analytisch-deskriptiv oder aber (auch) normativ zu vetshen ist vgl. auch Cancio Meliá, 2005: 279 sowie Prittwitz, 2005, passim.

7 : Jakobs, Terroristen als Personen im Recht?, ZStW 117 (2005), Heft 4 (im Erscheinen; ich danke Herrn Kollegen Jakobs für die freundliche Überlassung des Manuskripts). Vgl. auch die Wiedergabe bei Sauer, 2005: 1703, 1704.

8 : Vgl. Fn. 7.

9 : Vgl. insbes. Jakobs, 1999: Kap. VI (»Person versus Feind«).

10 : Jakobs, 2000a: 50 (naher dazu sub III. 2. a).

11 : Jakobs, 2000a: 51 (Befugnis zur Abwehr auch künftiger Angriffe).

12 : Jakobs, 2000a: 51 - Die Wandlung des Strafrechts zu einer Reaktion gegen einen Feind »muss nicht heißen, nunmehr sei alles erlaubt, auch eine maßlose Aktion; vielmehr mag dem Feind eine potentielle Personalität zugestanden werden, so dass bei seiner Bekämpfung über das Erforderliche nicht hinausgegangen werden darf«.

13 : Von einer contradictio in adjecto spricht Cancio Meliá, 2005: 267, 282.

14 : Ausf. Cancio Meliá, 2005; ebenso Prittwitz, 2001: 795.

15 : So auch der Ansatz von Cancio Meliá, 2005.

16 : Ausdrücklich: Jakobs, 2004b: 31 m. Anm. 147.

17 : Jakobs, 2004a: 90 - »Bürgerstrafrecht erhält die Normgeltung, Feindstrafrecht (im weiteren Sinn: das Maßregelrecht eingeschlossen) bekämpft Gefahren; - gewiss gibt es massenweise Zwischenformen.«

18 : Jakobs bei Gropp, ZStW 97 (1985): 930.

19 : Eine andere Frage ist, ob die Hoffnung, man könne das Bürgerstrafrecht retten, indem man das Feindstrafrecht dem nahezu beliebigen Zugriff des Strafgesetzgebers und der Strafverfolgungsorgane preisgibt, realistisch ist. Skeptisch dazu L. Schulz, ZStW 112 (2000): 653, 662.

20 : Dazu nachdrücklich P. A. Albrecht, 2003.

21 : Art. 18 des deutschen Grundgesetzes lautet: »Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.«

22 : Vgl. Jakobs, 2000a: 53 - »Feinde sind aktuell Unpersonen«.

23 : Vgl. dazu bei Jakobs 2000a, ders. 2004b, Fn. 12.

24 : Dazu Schulz, 2000: 662.

25 : Jakobs, 1999a: 38; dazu etwa Loos, ZStW 114 (2002): 664, 666.

26 : Jakobs, 1999a: 102 - mit scharfer Kritik an Kants rigider Position zum Lügenverbot. Allerdings ist zu beachten, dass es bei Kant nicht um die Frage geht, ob der sein potentielles Opfer verfolgende Mörder das Recht hat, von dem Befragten die Wahrheit zu erfahren, sondern darum, ob der Befragte das Recht hat, die Unwahrheit zu sagen. Die Verneinung der zweiten Frage führt nicht zur Bejahung der ersten.

27 : Vgl. dazu bei Jakobs 2000a, ders. 2004b, Fn. 12.

28 : Kritisch auch Loos, ZStW 114, (2002): 664, 669.

29 : Dazu Loos, ZStW 114 (2002): 664, 665 ff..

30 : Jakobs, 1999a: 100 ff.; vgl. aber auch die Kritik S. 102 und die kritische Auseinandersetzung von Jakobs mit den Vertragstheorien und der genannten Konsequenz in »Bürgerstrafrecht« (Jakobs, 2004a: 88 f.).

31 : Zu denken ist hier aktuell an das strikte Verbot der Folter; die Argumentation von Jakobs gegen die kategorische Fassung des Lügeverbots bei Kant (1999a: 102) ließe sich entsprechend auch gegen die strikte Fassung des Folterverbots richten.


Prof. Dr. Ulfried Neumann: Feindstrafrecht, in: Bitte bewahren Sie Ruhe! Leben im Feindrechtsstaat, Thomas Uwer (Hg.) / Organisationsbüro, Berlin 2006

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