Strafverteidigertag Rechtspolitik

Reform der Tötungsdelikte

2013 schlug die schleswig-holsteinische Justizministerin Anke Spoorendonk auf der Justizministerkonferenz eine Reform der Tötungsdelikte § 211, 212 StGB vor, mit dem Ziel, die Normen endlich von den Ursprüngen des NS-Täterstrafrechts zu befreien. Während sie damit unter ihren Kollegen auf wenig Verständnis stieß, fand ihr Vorstoß woanders durchaus Zustimmung. Unter anderem BGH-Richter Professor Thomas Fischer setzte sich öffentlich dafür ein, die »braune Schleimspur« (Fischer) endlich zu beseitigen. Tatsächlich kündigte der neue Bundesjustizminister Heiko Maas an, eine Reform auf den Weg bringen zu wollen. Dazu haben auch die Strafverteidigervereinigungen Stellung genommen.

»Es ist eine historisch seltsame Tatsache, daß man Mord und Totschlag seit eineinhalb Jahrtausenden unterscheidet, daß man aber im Grunde genommen nie gewußt hat, wo die Grenze wirklich verläuft«.|1

Die Strafverteidigervereinigungen begrüßen die (neuerliche) Diskussion um die Tötungsdelikte Mord und Totschlag (§ 211, 212 StGB). Eine Reform der Tötungsdelikte und insbesondere die Streichung der besonderen Mordmerkmale wird seit vielen Jahren aus gutem Grunde gefordert.|2 Strafrechtstheoretische wie -praktische Gründe legen eine Reform ebenso nahe, wie grundsätzliche Erwägungen: Der Mordparagraph wurde als Essenz nationalsozialistischen Strafrechts in das bundesdeutsche StGB übernommen. Er stellt in jeder Hinsicht einen Fremdkörper innerhalb eines rechtsstaatlichen Strafrechts dar.

Die Strafverteidigervereinigungen unterstützen daher im Grundsatz die Bemühungen um eine Reform der Tötungsdelikte §§ 211, 212, 213 StGB und insbesondere solche, die auf eine Streichung des § 211 StGB abzielen.|3 Das Ziel einer Reform der Tötungsdelikte sollte allerdings mehr sein, als eine Streichung des § 211 StGB und damit die seit langem überfällige Abkehr von der tätertypisierenden Kodifizierung der Tötungsdelikte und die Aufgabe der zwingenden Verknüpfung der Annahme eines Mordmerkmals und der lebenslangen Freiheitsstrafe. Eine Reform der Tötungsdelikte muss über eine zeitgemäße Korrektur des Gesetzes hinaus vor allem auch praktisch wirksam werden.

Die Strafverteidigervereinigungen vertreten die Auffassung, dass mit einer Reform der Tötungsdelikte im Strafrecht auch die Rechtsfolge der lebenslangen Freiheitsstrafe in Frage gestellt werden muss. Die Rechtsfolgen einer Verurteilung müssen menschlich ertragbar, sie dürfen nicht zerstörerisch sein. Ziel rechtsstaatlicher Strafe ist die Heilung begangenen Unrechts und Wiederherstellung eines rechtlichen Zustandes. Die lebenslange Freiheitsstrafe indessen zielt - als Surrogat der Todesstrafe - auf die Eliminierung des Verurteilten. Eine Reform, die nur die Streichung der lebenslangen Freiheitsstrafe als absolut-exklusive Rechtsfolge bei gleichzeitiger Beibehaltung als optionale Strafe vorsieht, würde zu kurz greifen (siehe dazu ausführlich unter II.).

Die Strafverteidigervereinigungen vertreten zugleich die Auffassung, dass auch bei Wegfallen der lebenslangen Freiheitsstrafe gesetzliche Vorgaben gemacht werden sollten, wann bei einer Tötung die Höchststrafe verhängt werden und - vor allem - wann sie nicht verhängt werden soll. Andernfalls würde diese Entscheidung ausschließlich den Gerichten auf der Grundlage der allgemeinen Strafzumessungskriterien gem. § 46 StGB überlassen. Dies würde eine praktisch nicht kontrollierbare richterliche Rechtsfortbildung, eine Strafzumessungslösung bei den Tötungsdelikten, zur Folge haben. Eine derart entfesselte Freiheit der Schwurgerichte, über das Höchstmaß einer Freiheitsstrafe zu befinden, kann nicht das Anliegen der Strafverteidigervereinigungen sein, zumal zu befürchten ist, dass eine solche Reform in der Sache wenig verändern würde.

Die Strafverteidigervereinigungen befürworten daher eine Neuregelung, die mit dem Mittel eines engen Kataloges benannter besonders schwerer Fälle der Rechtsprechung wertende Vorgaben macht, damit einen Rückgang der zu verhängenden Höchststrafen anstrebt und gleichzeitig ausreichende Flexibilität für eine angemessene Sanktionierung von Tötungsdelikten lässt. Die Regelung soll dabei keinesfalls die Festschreibung einer unveränderbaren Höchststrafe mit sich bringen, die dem Gericht verböte, auf den Einzelfall abzustellen. Die Art und die Höhe der Strafe sollte weiterhin Ausdruck der individuellen Schuld sein (§ 46 StGB).

I. Regelungsvorschlag

Die Strafverteidigervereinigungen regen eine Streichung des § 211 StGB mitsamt seiner tätertypisierenden Kodifizierung zugunsten eines einheitlichen Straftatbestands »Tötung« an. Befürwortet wird der Struktur nach eine Regelung, die besonders schwere Fälle als Regelbeispiele vorsieht. In Anlehnung an den Vorschlag von Thomas|4 könnte diese Regelung so lauten:

§ 212 (Tötung)
(1) Wer einen Menschen tötet, wird wegen Totschlags mit Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren bestraft.
(2) In besonders schweren Fällen ist auf eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter ... (hier sollte eine Auflistung von Regelbeispielen folgen)

Folgende Regelbeispiele könnten als Einstieg in die Diskussion dienen:
Ein besonders schwerer Fall liegt vor, wenn die Tat zur Verdeckung oder Ermöglichung einer Straftat oder die Tat gegen Bezahlung begangen wird oder die Tat gegen eine Person wegen ihrer Herkunft, ihrer Religionszugehörigkeit oder ihrer sexuellen Orientierung verübt wird.

Dieser Vorschlag hat den entscheidenden Vorteil, dass den Gerichten durch das Gesetz die Vorgabe gemacht würde, dass nur bestimmte Begehungsweisen (etwa Gemeingefährlichkeit oder auch Grausamkeit) und nur bestimmte Motive (etwa Rassenhass und Tötung zur Befriedigung des Geschlechtsverkehrs) als in der Regel der Verhängung der Höchststrafe zugänglich benannt würden. Damit würden solche (nach alter Diktion:) Mordmerkmale, die besonders unbestimmt sind (niedrige Beweggründe) oder sich in der Praxis als besonders problematisch erwiesen haben (Heimtücke), aus den Fallgruppen, die eine Verhängung der Höchststrafe indizieren, gerade herausgenommen. Gleichzeitig ist es weiterhin möglich, auch in solchen Einzelfällen, in denen kein Regelbeispiel gegeben ist, auf die Höchststrafe zu erkennen, aber die Gerichte müssen dann einen besonderen Begründungsaufwand erbringen.
Diese Regelung sollte (ebenfalls in Anlehnung an den Vorschlag von Thomas) um einen weiteren Absatz ergänzt werden:

(3) Ein besonders schwerer Fall darf nur angenommen werden, wenn Ursachen, Anlass und Umstände der Tat sowie das Verhältnis von Opfer und Täter die besondere Missbilligung der Tat rechtfertigen. Ein besonders schwerer Fall liegt nicht vor, wenn die Tat mit bedingtem Vorsatz begangen ist.

Mit dieser das Regelbeispielsystem ergänzenden Regelung würde verlangt, dass die Gerichte auch dann, wenn ein Regelbeispiel gegeben ist, in einer weiteren Prüfung nach einem engeren Katalog von Gesichtspunkten, als ihn § 46 StGB vorsieht, zu klären und vor allem zu begründen haben, ob die Verhängung der Höchststrafe tatsächlich geboten ist.

Dieser Vorschlag (bei dem sowohl der Katalog der Regelbeispiele als auch der nach Abs. 3 zu entwickelnde Katalog hervorgehobener Kriterien für die Annahme eines besonders schweren Falles genauer zu diskutieren wären) zeichnet sich durch drei Gesichtspunkte aus:

1. Die Entscheidung, bei welchen Tötungen die Höchststrafe zu verhängen ist, wird nicht vollkommen der Rechtsprechung überlassen, sondern enthält mit den Regelbeispielen inhaltliche Vorgaben des Gesetzgebers.

2. Mit der Regelbeispieltechnik ist es möglich, solche Fälle, die in Abkehr von der geltenden Rechtslage nicht zur Verhängung der Höchststrafe führen sollen, »in der Regel« aus dem Anwendungsbereich der Höchststrafe auszuscheiden, während bei einer Strafzumessungslösung damit zu rechnen wäre, dass die Rechtsprechung mehr oder weniger die bestehende Rechtsprechung fortschreibt.

3. Durch die Regelung in Abs. 3 des Vorschlags wird versucht sicher zu stellen, dass die Verhängung der Höchststrafe in jedem Einzelfall einen gesteigerten Begründungsaufwand der Gerichte verlangt, während bei einer Strafzumessungslösung vollkommen unabsehbar und dann auch unkontrollierbar ist, wo die Gerichte auf der Grundlage des § 46 StGB die Schwelle zwischen zeitiger und zeitiger Höchststrafe ziehen werden.

Begründung:
Grundsätzlich wird man sich bei einer Neufassung der Tötungsdelikte und Streichung des § 211 StGB entscheiden müssen, ob besonders schwere Fälle der Tötung bereits im Gesetz als Regelbeispiele vorgegeben werden oder ob man die Unterscheidung ausschließlich der richterlichen Rechtsfortbildung überlassen. Die Erwartung, dass die Gerichte Fallgruppen herausbilden werden, die sich gerade auch an den bisherigen Mordmerkmalen und den Kriterien der Schuldschwere des § 57a StGB orientieren, ist plausibel. Es darf erwartet werden, dass die Gerichte die bestehende Rechtsprechung zu § 211 StGB gerade in den Anfangsjahren weithin fortschreiben werden.

Das StGB arbeitet in vielerlei Deliktsbereichen mit Qualifikationen und Regelbeispielen, um für die Strafzumessung Schwerevorgaben zu machen. Auf diese Bestimmtheit darf nicht ausgerechnet bei den schwersten Sanktionen, die das Gesetz vorsieht, verzichtet werden.
Dies wird gestützt von der Kritik an der geltenden Rechtslage, mit der die Notwendigkeit einer Reform bspw. vom DAV begründet wird. So heißt es im Vorschlag des DAV: »Durch den Wegfall des Mordparagraphen mit seinen Gesinnungsmerkmalen wird das normative Signal an den Bürger auf den Schutz des Rechtsguts Leben konzentriert«.|5 Die Bürgerin orientiert sich aber nicht am Gesetzestext, den sie gar nicht kennt, sondern an den Entscheidungen der Gerichte und ihren (medial vermittelten) Begründungen: Wenn diese aber an die bisherigen Mordmerkmale und damit an ihre bestehende Auslegung durch die Rechtsprechung anknüpfen, dann ist zu erwarten, dass etwa die Tat, die sich »als Folge eines noch über bloße Gewinnsucht gesteigerten Gewinnstrebens darstellt« (so die bekannte Definition zur Habgier) mit Höchststrafe sanktioniert wird, und das normative Signal für die Bürgerin lautet, dass eine Tötung aus diesem Motiv heraus besonders verwerflich sei. Besonders offenkundig werden die Mängel einer Strafzumessungslösung am Beispiel der niedrigen Beweggründe. Dieses Merkmal stellt in der aktuellen Rechtsprechung den Hauptanwendungsfall des § 211 StGB dar. Ersichtlich gelangt die Rechtsprechung gerade bei diesem ganz unbestimmten Merkmal zu keiner verlässlichen Konturierung und schon gar nicht zu einer restriktiven, sondern eher zu einer extensiven Auslegung. Die Kritik an diesem Merkmal richtet sich zentral gegen dessen Unbestimmtheit, gegen das Fehlen objektivierbarer Maßstäbe, die Öffnung willkürgefährdeter Bewertungsspielräume, eine Einbeziehung von Persönlichkeits- und Schuldbeurteilungen schon auf der Tatbestandsebene.

Auch der DAV kritisiert in diesem Zusammenhang (zu Recht), dass die niedrigen Beweggründe als Kernstück des geltenden Mordparagraphen »originär nationalsozialistisches Gedankengut« seien. Man darf die Aufmerksamkeit darauf lenken: Kern nationalsozialistischer Strafrechtskonzeption war gerade die Unbestimmtheit von Straftatbeständen und die Abschaffung der Gesetzesbindung der Richter.
Bei einer Strafzumessungslösung wäre somit genau das zu erwarten, was am geltenden Recht kritisiert wird: »Zick-Zack-Kurse, Unwägbarkeiten, Rechtsunsicherheit und an Emotionen appellierende Verdikte sind wenig geeignet, einen intersubjektiv nachvollziehbaren Rechtsgüterschutz zu vermitteln«.|6 Zumal eine revisionsrechtliche Kontrolle der dann nach § 46 StGB vorzunehmenden »umfassenden Gesamtabwägung« aller für die Entscheidung über die lebenslange Freiheitsstrafe relevanten Strafzumessungsfaktoren praktisch auf die Prüfung von Erörterungsmängeln reduziert ist.

Die Vorzüge der hier vorgeschlagenen Regelbeispielslösung gegenüber einer Strafzumessungslösung sind offensichtlich. Zwar ist es richtig, dass eine »abschließend bestimmte Abgrenzung der Tötung vom Mord in der Vergangenheit nicht gelungen und auch nicht möglich« ist.|7 Aber das ist kein Argument gegen eine wertende Vorgabe, welche Tötungshandlungen nach den Vorstellungen des Gesetzgebers als besonders schwer gelten, die aber gleichzeitig Raum lässt, auch den atypischen Fall angemessen zu berücksichtigen.

 

II. Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe

»Wir brauchen nicht die lebenslange Freiheitsstrafe, weil es besonders schwere Fälle der Tötung gibt, sondern umgekehrt: Weil wir die lebenslange Freiheitsstrafe haben, brauchen wir für sie einen Anwendungsbereich und damit besonders schwere Fälle der Tötung«.|8

In der (bundes-)deutschen Rechtsgeschichte sind Mordparagraph und lebenslange Freiheitsstrafe untrennbar miteinander verbunden. Zwar kommt eine lebenslange Freiheitsstrafe - optional - auch bei anderen Delikten in Betracht,|9 in der Praxis wird sie allerdings fast ausnahmslos bei Mordverurteilungen ausgesprochen.|10

Als Rechtsfolge des § 211 StGB wurde die lebenslange Freiheitsstrafe mit Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG 1949 als Surrogat der Todesstrafe in das StGB aufgenommen. Während § 211 StGB unberührt blieb, wurde die Rechtsfolge äußerlich an die Zivilisierung der Gesellschaft angepasst und die körperliche durch die soziale Vernichtung - den gesellschaftlichen Ausschluss durch Einschluss »bis zum Tode« - ersetzt. Im Kern blieb die Sanktion dem Gehalt des Mordparagraphen aber gemäß: Sie stößt den seinem Wesen nach niedrigen und besonders verwerflichen Täter für immer aus. Die Unterscheidung zwischen Totschlag und Mord schlägt sich analog in der Rechtsfolge nieder: hier zeitige Freiheitsstrafe, dort lebenslang. Das darin enthaltene (Un-)Werturteil zielt - wie § 211 StGB - nicht auf die Tat, sondern auf den Täter und dessen Beweggründe. Andernfalls wären die Rechtsfolgen des § 212 StGB nicht anders als in § 211 StGB zu fassen. Die (soziale oder körperliche) Liquidierung des Verurteilten rechtfertigt sich, wenn überhaupt, nur mittels der Vorstellung einer in seinem Wesen liegenden Schuld. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist also die konsequente Rechtsfolge eines Mordparagraphen, der auf Tätertypisierung und vermeintliche Gesinnungsmerkmale fußt. »Ihrer Konstruktion nach«, schrieb Sebastian Scheerer, »ist die lebenslange Freiheitsstrafe eine elastisch gemachte Todesstrafe«.|11

Daran ändert auch § 57 a StGB im Grundsatz nichts. Die mitunter vertretene Auffassung, wonach die lebenslange Freiheitsstrafe mit Schaffung der Möglichkeit einer Aussetzung n. § 57 a StGB de facto zu einer zeitigen Freiheitsstrafe geworden sei, lässt sich weder anhand der Zahlen zur Entwicklung der Verbüßungszeiten stützen, noch wird sie dem besonderen Charakter der Unbestimmtheit gerecht, der die lebenslange Freiheitsstrafe auszeichnet.|12 Betrug die durchschnittliche Verbüßungszeit vor Einführung des § 57 a StGB 20 Jahre,|13 so liegt sie aktuell immer noch bei etwa 19 Jahren. Zwischen 10 und 20 Prozent der Verurteilten sterben in Haft (jene nicht eingerechnet, die aufgrund schwerer Krankheit vorzeitig entlassen werden und kurz darauf versterben).|14 Hinzu kommt, dass mit Einführung des § 57 a StGB die Zahl der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter angestiegen ist, was i.d.R. damit erklärt wird, dass die Hemmschwelle für Richter gesunken sei, lebenslänglich zu verhängen.

Selbst wenn die prinzipiellen Voraussetzungen zur Aussetzung der Reststrafe nach 15 Jahren vorliegen, lebt der Verurteilte doch bis zur Entscheidung über den entsprechenden Antrag in völliger Ungewissheit sowohl darüber, ob die konkreten Voraussetzungen bei ihm als gegeben angesehen werden als auch darüber, wie lange in seinem Fall die tatsächliche Freiheitsstrafe dauern wird. Letztlich kann die Strafrestaussetzung nach Ablauf der Mindestverbüßungszeit immer an der Hürde der Legalbewährungsprognose scheitern. Insbesondere diese Unbestimmtheit der tatsächlichen Strafdauer wirkt sich wiederum in besonderer Weise auf die Betroffenen aus.|15 So ist bereits unabhängig von der konkreten Verbüßungszeit die völlige Unbestimmtheit der tatsächlichen Haftdauer von besonderem Übel und wirkt selbst als Strafe.|16

Zur Begründung der lebenslangen Freiheitsstrafe werden gerne generalpräventive Aspekte angeführt. Die Vorstellung, dass besonders schwere Strafen besonders abschreckend wirken hält sich allen Erkenntnissen zum Trotz hartnäckig. Insbesondere bei Tötungsdelikten ist aber davon auszugehen, dass der Aspekt der Abschreckung weitgehend irrelevant ist. Wer einen Menschen tötet, wägt in der Regel nicht rational kalkulierend ab, ob die Tat die mögliche Strafe lohnt.|17 Vor allem muss als äußerst fraglich gelten, dass die Verlängerung der Dauer einer Freiheitsstrafe zugleich auch die abschreckende Wirkung verstärkt.|18 In jedem Falle müssten in eine rationale Abwägung auch das Entdeckungsrisiko und damit die Bestrafungswahrscheinlichkeit einfließen. Diese ist bei Tötungsdelikten mit über 90 Prozent sehr hoch. »In dieser Konsequenz wird gelegentlich sogar von einer generalpräventiven Wirkungslosigkeit der Strafandrohung ausgegangen, denn ein Täter, der eine vorsätzliche Tötung begeht, würde in der Regel damit rechnen, dass er seiner Strafe nicht entgehen kann. Er würde töten, obwohl er mit Entdeckung rechnet«.|19

Das BVerfG hat daher in seiner Entscheidung vom 21. Juni 1977 vor allem auf die normbestätigende Wirkung der Strafe, die positive Generalprävention, abgestellt. Durch die Verhängung langer Freiheitsstrafen werde »der besondere Rang des Rechtsguts dokumentiert und damit das Wertgefüge zum Schutz des Rechtsguts stabilisiert«.|20
Dass Freiheitsstrafe aber tatsächlich derart wirkt, ist lediglich eine Vermutung. Denn ob das dahinterstehende Konzept einer Bekräftigung von Normen durch das Strafrecht überhaupt empirisch nachweisbar ist, wird seit langem bestritten.|21 Zweifel sollten jedenfalls dahingehend bestehen, dass es ausgerechnet der lebenslangen Freiheitsstrafe bedarf, um Menschen in ihrer Rechtstreue zu stärken.

Doch auch wenn man der Begründung des BVerfG in diesem Punkt folgt und eine normbestätigende Wirkung voraussetzt, stellt sich die Frage, warum die Rechtsfolgen des § 212 dann anders als in § 211 StGB gefasst sind. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum die eine Tötung weniger »unwert« sein sollte, als die andere.

Schlechter noch ist es um die spezialpräventiven Begründungen der lebenslangen Freiheitsstrafe bestellt. Alleine die extrem niedrige Rückfallquote spricht dagegen, die lebenslange Freiheitsstrafe mit Aspekten negativer Spezialprävention zu begründen. Was Gründe der positiven Spezialprävention anbetrifft, so bleibt bei allen widersprüchlichen Ergebnissen, zu denen Untersuchungen zu den Straffolgen (Haftschäden) kommen, doch festzustellen, dass lange Freiheitsstrafen alles andere als resozialisierungsfördernd sind.

Die Folgen langer Freiheitsstrafen sind breit erforscht und weithin bekannt.|22 Lange Freiheitsstrafen führen bei vielen Gefangenen zu einem Persönlichkeitsverfall, der durch Interesselosigkeit, Verlangsamung, Autoaggression und Feindseligkeit nach Außen gekennzeichnet ist.|23 Bei Langzeitgefangenen ist ein sukzessiver Wegfall von Außenkontakten, eine »Deprivation im sensoriellen Bereich« durch die sehr eingeschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten im Vollzug und den »Mangel an Zukunftsperspektive« festzustellen.|24

Ziel der positiven Spezialprävention kann es aber nicht sein, dass ein aus der Haft entlassener nur noch gerade so lebensfähig ist, er soll vielmehr befähigt sein, ein Leben in Freiheit ohne Straftaten zu führen - und sich also in einem besseren Zustand als zu Beginn der Haft befinden. Dies scheitert bereits bei zeitigen Freiheitsstrafen regelhaft an der Vollzugsrealität. Es ist ein ungelöster Widerspruch der Freiheitsstrafe, dass sie zwar ein Instrument der Vergeltung, aber keinesfalls ein gutes Mittel zur Besserung und Resozialisierung darstellt. Die lebenslange Freiheitsstrafe stellt den bekannten Negativfolgen langer Freiheitstrafen bis hin zum Persönlichkeitsverfall den Verlust einer zeitlichen Perspektive auf eine Zukunft in Freiheit zur Seite. Die Möglichkeit, das eigene Leben planen und in die Zukunft hinein gestalten zu können, ist ein wesentlicher Bestandteil des Menschenbildes seit der Aufklärung. Strafe muss daher berechenbar, sie muss zeitig sein.

Strafe muss schuldangemessen sein. Die Schwere der Schuld spiegelt sich in der Schwere der Strafe wider. Strafe - auch Freiheitsstrafe - ist immer mehr als nur abstrakter Ausgleich einer Normverletzung. Sie ist ein konkretes Übel; sie bringt Leid über den Verurteilten. Zwar gilt auch hier, dass das Ausmaß des über ihn gebrachten Leids der Schwere seiner Schuld entsprechen muss. Dennoch darf Strafe, auch als bewusste Übelszufügung, nicht zerstörerisch sein. Auch derjenige, der die allerschwerste Schuld auf sich geladen hat, hat einen Anspruch auf eine Rückkehr in ein menschenwürdiges Leben. Eine analoge Aufrechnung von Schuld und Strafe ist unter Wahrung der Menschenwürde nicht möglich.
Art. 102 GG reflektiert die Erfahrung nationalsozialistischen Unrechts: Die Todesstrafe als extremste Form der Totalverfügung des Staates über den Menschen ist abgeschafft. Darin ist eine Wertentscheidung über das Verhältnis zwischen Bürger und Staat enthalten, die sich gegen die »totale Verfügbarkeit des einzelnen Menschen zu Staatszwecken«|25 ausspricht. Wer diesen Wert teilt, der muss sich auch für die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe aussprechen. Denn in ihr lebt der totale Zugriff der Todesstrafe - »blutentleert und in die Länge gezogen«|26 - weiter.

III. Zusammenfassung

Unbestreitbar ist eine Reform der Tötungsdelikte geboten. Diese Reform darf nicht auf komplette Unbestimmtheit des Gesetzes und blindes Vertrauen auf die richterliche Rechtsfortbildung fußen, die die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe rechtsstaatlich(er) und rationaler gestalten und wenn möglich zurückdrängen will. Die Strafverteidigervereinigungen schlagen daher eine Regelbeispiellösung und die grundsätzliche Abkehr von der lebenslangen Freiheitsstrafe als Kernpunkte einer Reform der Tötungsdelikte vor.

Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zur Reform der Tötungsdelikte Mord und Totschlag (§§ 211, 212, 213 StGB), April 2014 / Verfasser: Prof. Dr. Cornelius Nestler [Regelungsentwurf] / Thomas Uwer (Organisationsbüro) [Lebenslang].

Anmerkungen:

1 : Eberhard Schmidt, zit. n. Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, Tübingen 2010, S. 9.
2 : Bereits lange vor der jetzt geltenden Fassung von 1941, die die Verwerflichkeit der Tatmotive ins Zentrum stellt, wurde der strafrechtliche Mordbegriff kritisiert. vgl. Grünewald a.a.O. (Fn. 1).
3 : z.B. die Stellungnahme des DAV: Stellungnahme 1/2014, Januar 2014
4 : Thomas 1985, vgl. dazu die Stellungnahme des DAV, a.a.O., 18 ff.
5 : vgl. DAV, a.a.O., 4
6 : vgl. DAV, a.a.O., 27
7 : Fischer u.a., NStZ 2014, 9 ff., 15
8 : Arzt, ZStW 83 (1971), 11
9 : § 80 StGB, § 81 Abs. 1 StGB, § 94 Abs. 2 StGB, § 97 a StGB, § 100 Abs. 2 StGB, § 176 b StGB, § 178 StGB, § 239 a Abs. 3 StGB, § 251 StGB, § 252 StGB, § 255 StGB, § 306 c StGB, § 307 Abs. 3 Nr. 1 StGB, § 308 Abs. 3 StGB, § 309 Abs. 4 StGB, § 313 Abs. 2 StGB, § 314 Abs. 2 StGB, § 316 a Abs. 3 StGB, § 316 c Abs. 3 StGB sowie §§ 7 Abs. 3, 8 Abs. 4, 11 Abs. 2 Satz 2 und § 12 Abs. 2 Satz 2 VStGB. Das VStGB kennt die lebenslange Freiheitsstrafe als absolute Sanktion jedoch auch in § 6 Abs. 1 VStGB, § 7 Abs. 1 Nr. 1 u. 2 VStGB und § 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB.
10 : vgl. Gabriele Kett-Straub, Die lebenslange Freiheitsstrafe, Tübingen 2011, 73
11 : Sebastian Scheerer: Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe - ein Vorschlag, in: Hartmut Weber/Sebastian Scheerer (Hg.): Leben ohne Lebenslänglich. Bielefeld 1988, 125 (126)
12 : vgl. bspw. Kett-Straub, a.a.O., 10
13 : Von 20 Jahren ging auch das BVerfG aus, BVerfGE 45, 187, 204.
14 : ausführliche Zahlen und Darstellung der Entwicklung auch bei Kett-Straub, a.a.O. 79 ff.
15 : vgl. bspw. Snacken/van Zyl Smit, Europäische Standards zu langen Freiheitsstrafen: Aspekte des Strafrechts, der Strafvollzugsforschung und der Menschenrechte, NK 2009, 61
16 : so auch Kett-Straub, a.a.O., 11 f.
17 : So auch das Bundesverfassungsgericht: »Hierzu haben sich die Sachverständigen übereinstimmend dahin geäußert, daß eine abschreckende Wirkung der lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mord für den potentiellen Täterkreis nicht festgestellt werden könne.« BVerfGE 45, 187 (255)
18 : »Das Tötungstabu beruht regelmäßig auf moralischen Überzeugungen und nicht auf einer Kenntnisnahme des Strafgesetzbuches. Soweit eine Tatbegehung erwogen wird, wird mit dem Risiko des Entdecktwerdens kalkuliert, nicht hingegen mit unterschiedlich langen Haftzeiten. Den Menschen, der etwa zehn Jahre Gefängnis in Kauf nimmt, der sich aber von 15 Jahren erfolgreich vom Verbrechen abhalten läßt, gibt es wohl nur in der Vorstellung mancher Politiker.« Michael Walter, Aufforderung zur Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, in: Werner Nikolai/Richard Reindl (Hg.): Lebenslänglich. Zur Diskussion um die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, Freiburg 1993, S. 98. Vgl. m.w.N. Snacken/van Zyl Smit, a.a.O. (Fn. 8), 59
19 : Kett-Straub, a.a.O., 35
20 : Heike Jung: Zur Problematik der Legitimation längeren Freiheitsentzuges, in: dies./Heinz Müller-Dietz: Langer Freiheitsentzug - wie lange noch?, Bonn 1994, 36
21 : vgl. u.a. Winfried Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, in: ders./Klaus Lüderssen/Wolfgang Naucke (Hg.): Hauptprobleme der Generalprävention, 1979, 29 ff. (52)
22 : vgl. zusammenfassend Daniela Hosser, Prisonisierungseffekte, in Renate Volbert/ Max Steller: Handbuch der Rechtspsychologie, Göttingen 2008, 172 f.
23 : Snacken/van Zyl Smit, a.a.O., 61; bzw. Klaus Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl. Berlin 2003, 106, Rn. 232 
24 : Laubenthal., 96, Rn. 213 ff.
25 : Scheerer, a.a.O., 129
26 : ebd.

 

 

Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zur Reform der Tötungsdeliktsnormen §§ 211, 212, 213 StGB, April 2014