Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)

Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz

Berlin, 1. März 2011


Berichterstatter: RA Thomas Koll (Aachen) & RA Jasper von Schlieffen (Berlin)

I. Gegenstand des Entwurfs

Das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs soll die Vor-schläge umsetzen, die der von der Bundesregierung eingesetzte "Runde Tisch sexu-eller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" erarbeitet hat. Das erklärte Ziel des "Runden Tisches", der gemeinsamen Verantwortung für einen verbesserten Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt gerecht zu werden, wird dabei mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf nicht erreicht.

Der vorliegende Gesetzesentwurf zielt ersichtlich nicht auf die Rechte von minderjährigen Verletzten ab. Diesbezüglich wurden bereits mit dem 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29.7.2009 (BGBl. I, S. 2280) umfassende Ausweitungen des Rechtsschutzes dieser Personengruppe vorgenommen.

Diese Stärkung der Rechte soll nun auch volljährig gewordenen Missbrauchsopfern zu Gute kommen. Im Einzelnen versucht der vorliegende Entwurf auf vier Ebenen die Rechte der betroffenen Person zu stärken:

1. Erleichterter Zugang volljähriger Missbrauchsopfer zur Bestellung eines
Opferanwalts
2. Erstreckung der Vorschriften der StPO über den Ausschluss der Öffentlichkeit sowie die Videovernehmung auf volljährig gewordene Opfer, sofern sie zum Tatzeitpunkt minderjährig waren.
3. Präzisierung der Vorschriften über die Zuständigkeit der Gerichte für Jugend-schutzsachen sowie die Qualifikationsansprüche an Jugendrichter und Jugend-staatsanwälte
4. Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften für Schadenersatz-ansprüche aufgrund Missbrauchs auf 30 Jahre.

II. Stellungnahme

1. Grundsätzliches zum Opferschutz im Strafverfahren

Die den Entwurf tragende Bestrebung, die Rechtstellung des Zeugen, namentlich des geschädigten Zeugen, im Strafverfahren zu verbessern, ist bedenklich, weil und soweit sie in Konflikt mit dem Prozessziel der Wahrheitsermittlung gerät. Die STRAFVERTEIDIGERVEREINIGUNGEN haben wiederholt, zuletzt in der Stellungnahme zum 2.Opferrechtsreformgesetz vom 29.07.2010, darauf hingewiesen, dass viele der in neuerer Zeit vorgenommenen gesetzlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Rechtsstellung von Zeugen und Geschädigten im Strafverfahren geeignet sind, die Unschuldsvermutung zuungunsten des Beschuldigten zu beeinträchtigen und die Qualität des Zeugen als Beweismittel zu schmälern.

a) Die gesetzgeberisch verstärkt vorangetriebene Polarisierung zwischen dem Beschuldigten und dem möglichen Geschädigten der Straftat, der mit wirkungsvollen Informations- und Teilhaberrechten ausgestattet wurde, führt dazu, dass schon im Ermittlungsverfahren jene Rollen fest zugeschrieben werden, die eigentlich erst am Ende des richterlichen Erkenntnisverfahrens stehen sollten. Das auf diese Weise gesetzlich implementierte Vorurteil gefährdet die für den Beschuldigten streitende gesetzliche Unschuldsvermutung, weil die Rollenzuschreibung von "Täter" und "Opfer" schon lange vor Eintritt der Rechtskraft verbindlich zu werden droht.

b) Diese Gefahr einer vorauseilenden Zuschreibung wird nicht zuletzt durch den im Entwurf gewählten Begriff "Opfer" verstärkt, der wenigstens hermeneutisch vorwegnimmt, was am Ende des richterlichen Erkenntnisverfahrens stehen sollte. Der Begriff des Opfers, der religiöse Motive evoziert, ist dem rechtsstaatlichen Strafverfahren grundsätzlich fremd - und sollte es auch bleiben.

c) Durch die auch mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf vorangetriebene Ausstattung des möglichen Verletzten mit umfangreichen Informations- und Teilhaberechten wird in gleichem Maße das Beweismittel Zeuge in seiner Beweisqualität geschwächt. Der historische Gesetzgeber war sich der Schwäche des Zeugenbeweises, die u.a. aus dem möglichen Interesse des Zeugen am Ausgang des Verfahrens resultiert, bewusst und sah deshalb prozessuale Vorkehrungen vor, um den Zeugen möglichst unbefangen zu halten (§ 58 Abs. 1 Satz 1 u. § 243 Abs. 2 Satz 1 StPO). Der Zeuge soll nach diesem Modell seine Aussage möglichst unbeeinflusst von der Kenntnis der Einlassung des Angeklagten und der Aussagen anderer Zeugen machen. Die Hoffnung auf Unbefangenheit des Zeugen wird durch die Einräumung eines Rechts auf umfassende Akteneinsicht schon vor der Hauptverhandlung und ein Recht auf unbeschränkte Anwesenheit in der Hauptverhandlung zerstört. Schünemann hat diese Entwicklung mit den Worten zu-sammengefasst: "Mit der fürsorglichen Gesetzgebung der vergangenen Jahre wandelt sich die Aussage des hoch gerüsteten Opferzeugen von der Wissensbekundung zur Parteierklärung eines Zusatzanklägers, der seine Interessen hinter der Maske des Beweis-mittels wahrnehmen kann."

Auf diesen Einwand der Dekonstruktion des Zeugen als Beweismittel geben die Entwurfsverfasser und die Befürworter der Stärkung der Zeugenrechte keine Antwort.

d) Die präsumtive Rollenzuweisung der Opferschutzgesetzgebung der letzten Jahre betrifft gleichermaßen den Zeugen, der den Beschuldigten wahrheitsgemäß belastet wie den Zeugen, der ihn wahrheitswidrig belastet. Die Möglichkeiten des Gerichts, zwischen beiden Zeugen zu unterscheiden, sind deutlich geschmälert, wenn der verleumderische Zeuge sich durch Informations- und Teilhaberechte schon im Ermittlungsverfahren über das Ergebnis anderer Beweiserhebungen und vielleicht das Verteidigungsverhalten des Beschuldigten informieren kann und während der Hauptverhandlung die Entwicklung der Beweisaufnahme lückenlos verfolgen kann. Gerade in Verfahren, in denen der Aussage des geschädigten Zeugen entscheidende Bedeutung zukommt, beschwört dies die Gefahr eines Fehlurteils geradezu herauf. Die naheliegende Konsequenz, den Beweiswert der Aussage des Opferzeugen als umso geringer anzusehen, je stärker er seine prozessualen Rechte in Anspruch nimmt, hat, soweit ersichtlich, bislang noch kein Gericht gezogen.

Immerhin ist festzustellen, das sich mittlerweile auch in der Strafrechtswissenschaft zunehmend Skepsis gegen den seit Jahren betriebenen Ausbau der Opfer-rechte im Strafprozess breit macht (vgl.Schünemann ZIS 2009, 484; Bung StV 2009, 430; Weigend FS Schöch 947; Rieß ZIS 2009, 466).

2. Grundsätzliches zum Entwurf

Die den Entwurf tragenden Bestrebungen, die Rechtsstellung erwachsener Zeugen im Strafverfahren zu verbessern, ist bedenklich, weil sie mit dem Prozessziel der Wahrheitsermittlung in unmittelbarem Konflikt gerät und letztendlich zu einer weiteren Aushöhlung klassischer Prozessmaximen der StPO führt. Der Schutz erwachsener Zeugen vor Mehrfachvernehmungen, unabhängig von einer konkreten und individuellen Beeinträchtigung deren Rechte im jeweiligen Strafverfahren, wird kategorisch abgelehnt.

Die Aussagepflicht eines Zeugen im Strafprozess ist stets als staatsbürgerliche Pflicht angesehen worden (vgl. BVerfGE 49, 280, 284), die erst neuerdings in der StPO einfachgesetzlich normiert wurde. Ohne Zeugenaussage gibt es keinen Gerichtsprozess. Dabei ist die Wahrnehmung dieser staatsbürgerlichen Pflicht immer mit einer "Belastung" für den Zeugen verbunden, wobei diese individuell völlig unterschiedlich wahrgenommen wird.

Es gibt für die nunmehr vorgeschlagenen gesetzlichen Änderungen keine notwendigen Erfordernisse, insbesondere keine empirischen oder wissenschaftlichen Untersuchungen, die eine tatsächliche übermäßige Belastung gerade von Zeugen, welche Missbrauch in ihrer Jugend erlebt haben, im Rahmen des Strafprozesses belegen.

Schon nach geltendem Recht können konkret beeinträchtigte erwachsene Zeugen hineichend geschützt werden, insbesondere sofern diese ihre Schutzbedürftigkeit - z.B. durch ärztliche Atteste - belegen. Auf § 19a RiStBV sei hingewiesen, die dort enthaltenen Empfehlungen sind gängige Praxis.

III. Zu den einzelnen Regelungen des Entwurfs

Einige der geplanten Neuregelungen werden von den Strafverteidigervereinigungen begrüßt, da sie umsetzen, was seit langem auch von den Strafverteidigervereinigungen gefordert wird. Diesbezüglich sind einige Regelungen aber erneut zu kurz greifend und ausschließlich beschränkt auf die rechtspolitisch und allgemeinpolitisch ausgemachte "Zielgruppe" der Missbrauchsopfer.

Stattdessen verdient der als BRAK-Stellungnahme 1/2010 vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik mehr Aufmerksamkeit.

Sofern also einzelne ins Auge gefasste Neuregelungen ausdrücklich befürwortet werden, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grundtendenz des Entwurfs - insbesondere der erneute Versuch, Strafrechtspolitik sachwidrig einzig an den vermeintlichen Interessen möglicher Verletzter auszurichten - auf strikte Ablehnung durch die Strafverteidigervereinigungen stößt.

1. § 58 a Abs. 1 Satz 1 StPO-E

Nach der Neureglung sollen Vernehmungen als richterliche Vernehmungen aufgezeichnet werden, wenn damit die schutzwürdigen Interessen von Personen, die als Kinder oder Jugendliche durch die Straftat verletzt worden sind, besser gewahrt werden können oder - wie bisher - wenn die spätere Unerreichbarkeit des Zeugen zu besorgen ist.

Diesbezüglich ist zu sagen, dass aus Reihen der Anwaltschaft und der Strafverteidiger-vereinigungen seit langer Zeit die Forderung aufgestellt worden ist, dass sämtliche Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten im Strafverfahren umfassend audiovisuell zu dokumentieren sind, insbesondere auch um die Möglich-keit einer Rekonstruktion der Aussageentstehung zu gewährleisten und um Rechtsverletzungen im Rahmen von Vernehmungen entgegen zu wirken (vgl. insoweit den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik, BRAK-Stellungnahme 1/2010). Dies sollte jedoch außerhalb der Vorschrift des § 58 a StPO umfassend geregelt werden.

Die Aufzeichnung als richterliche Vernehmung zielt ausschließlich darauf ab, ein Beweissurrogat für eine spätere Hauptverhandlung zu gewinnen und den Zeugen eine erneute Vernehmung in der Hauptverhandlung zu ersparen. Damit wird der vom Tatrichter zu würdigende Beweisstoff für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage bedenklich verkürzt. In der Leitentscheidung zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung hat der BGH - sachverständig - beraten nachdrücklich betont, welche Bedeutung der sog. Konstanzanalyse bei der Überprüfung der Glaubhaftigkeit eines Zeugen zukommt . Die auch diesem Entwurf zugrunde liegende Tendenz, dem Zeugen wiederholte Vernehmungen zu ersparen, steht im Widerspruch zu dem aussagepsychologisch fundierten Erfordernis, möglichst breites Aussage-material des Zeugen zu demselben Sachverhalt zur Verfügung zu haben, um dieses im Rahmen einer Konstanzanalyse auszuwerten. Dieser grundlegende Konflikt zwischen Opferschutz und Wahrheitsfindung wird von den Befürwortern einer Ausweitung des Opferschutzes beharrlich ignoriert.

Dass die bisher für jugendliche Zeugen bestehende Schutzvorschriften - wie auch in der Neuregelung des § 58 a StPO - nunmehr auf diejenigen Zeugen ausgeweitet werden, die zum Tatzeitpunkt minderjährig waren, ist unverständlich und systemwidrig.
Die bisherigen Schutzvorschriften zum Schutz minderjähriger Zeugen knüpften daran an, dass für Jugendliche eine gewisse Vermutung der Schutzbedürftigkeit aufgrund ihrer lebensaltersbedingt nicht voll ausgereiften Persönlichkeit besteht. Diese Vermutung - die im Einzelfall auch bei jugendlichen Zeugen unzutreffend sein kann - knüpft an eindeutige und sachgerechte Kriterien (Lebensalter) an. In weiten Teilen der Rechtsordnung gibt es für Minderjährige Spezialvorschriften, insofern war es bisher auch dogmatisch begründbar, wieso für diese Zeugen auch im Strafprozess besondere Schutzvorschriften gelten sollen. Diesen Grundsatz gibt der neue Gesetzesentwurf nunmehr auf. Es wird einzig und allein an das Alter des Zeugen zur Tatzeit angeknüpft. Dieses Anknüpfungskriterium ist völlig ungeeig-net, eine tatsächliche Schutzbedürftigkeit des Zeugen zu indizieren.

In diesem Zusammenhang ist auch unverständlich, warum die Entwurfsverfasser, die die Notwendigkeit einer Neuregelung empirisch aus den Beratungen des sog. Runden Tisches "Sexueller Kindesmißbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" ableiten, den Anwendungsbereich der Neuregelung für jede Straftat öffnen, deren Verletzter ein zur Tatzeit Minderjähriger ist. Damit sprengt der Entwurf seine ei-gene Basis, indem er den Anwendungsbereich des §58 a StPO auch auf zur Tatzeit minderjährige Opfer eines Betruges oder einer Beleidigung erstreckt.

Bereits mit der geltenden Rechtslage können - durch Missbrauchshandlungen in der Jugend - konkret beeinträchtigte erwachsene Zeugen im Rahmen von Vernehmungen mit den bestehenden Vorschriften ausreichend geschützt werden. Eine Verletzung ihrer Rechte ist - im Falle einer konkreten Beeinträchtigung ihrer schutzwürdigen Belange - somit bereits jetzt ausgeschlossen. Die vorgeschlagene Neuregelung wird letztendlich dazu führen, dass eine - in vielen Fällen unzutreffende - unwiderlegbare Vermutung dahingehend geschaffen wird, dass jeder erwachsene Zeuge, der in der Jugend Opfer einer Straftat geworden ist, besonders schutzbedürftig in seiner Stellung als Zeuge sei. Dies ist weder empirisch belegt noch sonst nachzuvollziehen.

Die seit langem geäußerte Forderung der Anwaltschaft und der Strafverteidigervereinigungen hingegen würde zu einer umfassenden audio-visuellen Dokumentation aller Vernehmungen im Ermittlungsverfahren führen, also auch in den Fällen, in denen die möglichen Opfer sexuellen Missbrauchs zwischenzeitig erwachsen geworden sind. Dabei ist der Entwurf in der BRAK-Stellungnahme 1/2010 je-doch - im Gegensatz zu den Regelungen im vorliegenden Referentenentwurf - auch geeignet, die Beschuldigtenrechte angemessen zu wahren.

2. § 69 Abs. 2 Satz 2 StPO-E

Die Klarstellung, dass Zeugen, die durch die Straftat verletzt sind, insbesondere Gelegenheit zu geben ist, sich zu den Auswirkungen der Tat zu äußern, ist überflüssig. Denn gem. § 69 Abs. 1 StPO hat das Gericht von jedem Zeugen zunächst einen freien, zusammenhängenden Bericht zu fordern. Im Rahmen dieses Berichts besteht bereits nach geltendem Recht für jeden Verletzten einer Straftat die Möglichkeit, sich im Rahmen seiner Zeugenvernehmung zu den Auswirkungen der Tat auf ihn zu äußern. Ferner - darauf weisen die Entwurfsverfasser selbst zutreffend hin - sind die Auswirkungen der Tat vom Gericht, auch wenn sie nicht für den Schuldspruch relevant sind (z.B. § 226 StGB), ohnehin im Rahmen der Strafzumessung (§ 46 Abs. 2 StGB) nach Maßgabe der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs.2 StPO) unter Inanspruchnahme des Fragerechts (§ 69 Abs. 2 StPO) zu erforschen. Dass dies in der Praxis nicht in ausreichendem Maße geschehe, wird von den Entwurfsverfassern nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich.

Eine überflüssige, weil bloß von deklaratorischen Absichten getragene Gesetzesergänzung könnte darüberhinaus von der Praxis dahin mißverstanden werden, dass dem verletzten Zeugen bezüglich dieser Teile seiner Aussage ein eigenständiges Erklärungsrecht zukommt. Ungeachtet dessen ist die Einfügung der Ergänzung in der StPO systemwidrig, da sich die Antwort auf die Frage, welche Umstände der Tatrichter im Strengbeweisverfahren für Schuldspruch und Strafmaß zu er-forschen hat, allein an den Vorgaben des materiellen Strafrechts orientiert.

3. § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO-E

Die Klarstellung durch Verschiebung von Absatz 2 letzter Halbsatz in den Absatz 1 der Vorschrift ist zu begrüßen. Damit ist eindeutig klargestellt, dass in jedem Fall bei Bestellung eines "Opferanwalts" auch dem Beschuldigten zur Wahrung der Waffengleichheit ein Verteidiger zu bestellen ist.

Insbesondere im Hinblick auf die geplanten Neuregelungen in § 58 a, 255 a StPO ist diese Maßnahme jedoch unzureichend, um die Waffengleichheit im Strafprozess zu wahren und das Gleichgewicht nicht einseitig zum Nachteil des Beschuldigten zu verschieben.

Die geplanten Neuregelungen in § 58 a, 255 a StPO sehen letztendlich vor, dass bereits in einem frühen Verfahrensstadium durch Videoaufzeichnung einer richterlichen Vernehmung des verletzten Zeugen ein Beweissurrogat für die spätere Hauptverhandlung geschaffen werden soll. Bei entsprechender Anwendung der - heftig kritisierten - Neuregelungen wäre damit diese richterliche Vernehmung in vielen Fällen die erste und auch einzige Möglichkeit für den Beschuldigten, Fragen an den Zeugen stellen zu können bzw. stellen zu lassen.

In der bisherigen Praxis wird regelmäßig dem Beschuldigten ein Verteidiger erst kurzfristig vor einer solchen Vernehmung bestellt. In diesem Zeitpunkt ist es oftmals unmöglich für den Verteidiger, sich innerhalb der kurzen verbleibenden Zeit bis zum Termin einen ausreichenden Überblick über den Stand der Ermittlungen zu verschaffen und eine geeignete Verteidigungsstrategie für den Beschuldigten zu entwickeln. Zudem würde gerade die Neuregelung die Problematik verschärfen, dass durch die frühzeitige richterliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren, deren Aufzeichnung als Beweissurrogat im Rahmen des weiteren Verfahrens verwendet wird, eine faktische Präklusion von Fragen an den Zeugen geschaffen wird. Dies kann nur weitestgehend vermieden werden, wenn zum Zeitpunkt einer Vernehmung nach § 58 a StPO-E bereits alle anderen in Betracht kommenden Zeugen umfassend vernommen worden sind, ggf. sogar nachvernommen worden sind, nachdem die Verteidigung Akteneinsicht hatte. Anderenfalls werden sich zwangsläufig in der Folgezeit Rückfragen an den Zeugen ergeben, die durch die geplante Vorgehensweise möglicherweise präkludiert sind.

In der Praxis erfolgt die Beiordnung des Verletztenbeistands zum Teil erst nach Anklageerhebung, auch wenn dieser schon oft bereits bei Erstattung der Strafan-zeige tätig ist.

Vor diesem Hintergrund ist es dringend erforderlich, dass § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO-E in gleicher Weise ausgestaltet wird, wie die Verteidigerbestellung bei Untersuchungshaft. Es muss klargestellt werden, dass dem Beschuldigten sofort ein Verteidiger beizuordnen ist, wenn sich der Geschädigte von einem Anwalt vertreten lässt, um die gebotene Waffengleichheit zu wahren.

§ 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO-E sollte daher wie folgt gefasst werden: "9. sich der Verletzte, dem nach den §§ 397a und 406g Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet werden kann, durch einen Anwalt vertreten lässt."

4. §§ 141, 142 StPO-E

Diese Vorschriften sind in Zusammenhang mit § 140 StPO-E zu sehen. Es gilt das dort Gesagte. Dementsprechend sollte § 141 Absatz 1 StPO nicht geändert werden, vielmehr dem Absatz 3 folgender Satz 4 angehängt werden: "Im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 9 wird der Verteidiger zum frühestmöglichen Zeitpunkt der Ermittlungen bestellt, spätestens jedoch vor einer Vernehmung nach § 58a StPO."

§ 142 StPO sollte nicht geändert werden, da die in diesen Fällen erforderlichen Spezialkenntnisse des Verteidigers - genau wie bei § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO - bei den in § 142 Abs. 2 StPO genannten Personen regelmäßig nicht vorliegen.

5. § 255 a StPO-E

Die geplante Änderung wird aus den in der Einleitung genannten Gründen abgelehnt. Die geplante Neuregelung in Absatz 2 Satz 2 würde generell die Zeugenpflichten von erwachsenen Opfern sexuellen Missbrauchs im Gegensatz zu denen anderer Verletzer ohne sachlichen Grund einschränken und somit zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Verletzten anderer schwerer Delikte führen. Es ist in diesem Bereich wie bisher ausreichend, dass im Falle einer Vernehmung in der Hauptverhandlung - nach Ausschöpfung aller sonstigen Schutzmöglichkeiten (Ausschluss der Öffentlichkeit, §§ 247, 247 a StPO) - konkret beeinträchtigte Zeugen im Einzelfall vernehmungsunfähig sind. In den Fällen, wo dieser Zustand dauerhaft ist, kann nach § 251 StPO verfahren werden.

6. § 397a StPO-E

Die geplante Änderung wird abgelehnt. Zum einen ist der Strafprozess kein Parteiprozess, die Aufgaben der Anklage - und damit auch die Interessen der Verletzten - werden in jedem Fall von der Staatsanwaltschaft wahrgenommen.
Die bisherige Regelung lässt es bereits jetzt zu, einem erwachsenen Zeugen / Nebenkläger nach § 397 a Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 StPO einen Rechtsanwalt beizuordnen, wenn er anders seine Interessen nicht ausreichend wahrnehmen kann. Dies ist ausreichend. Bei den Verbrechenstatbeständen gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfolgt eine Beiordnung altersunabhängig zudem nach Abs. 1 Nr. 1.
Zudem kann jeder Nebenkläger, dem die wirtschaftlichen Mittel fehlen, Prozesskostenhilfe nach § 397 a Abs. 2 StPO beantragen, sofern er seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann.

Die Streichung von Absatz 3 Satz 3 ist sachgerecht, allerdings sollte im Sinne der Einheitlichkeit des Regelungsgefüges der Zeugenvorschriften auch § 68 b Abs. 3 wie folgt geändert werden: "(3) Entscheidungen nach Absatz 1 Satz 3 und Absatz 2 Satz 1 sind mit der Beschwerde anfechtbar unanfechtbar. Ihre Gründe sind aktenkundig zu machen, soweit dies den Untersuchungszweck nicht gefährdet."

Wie der vorliegende Referentenentwurf auf Seite 16 betont, trägt dies dazu bei, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung - die gerade auch in diesem Bereich der-zeit stark abweichend ist - sicherzustellen.

7. § 406d StPO-E

Die geplante Änderung wird abgelehnt. Der zu erwartende organisatorische Aufwand insbesondere im Justizvollzug lässt befürchten, dass sich diese Regelung negativ auf die Gewährung von Vollzugslockerungen auswirkt, sofern der Verletzte von dieser Vorschrift Gebrauch macht. Vollzugslockerungen dienen der Resozialisierung, diese darf nicht durch Mitwirkungsrechte des Verletzten beeinträchtigt werden. Sofern der Entwurf in seiner Begründung auf Seite 17 diesbezüglich aus-führt, dass ein berechtigtes Interesse z.B. dann bestünde, wenn ein Verurteilter "gezielt den Kontakt zu dem Verletzten sucht", können derartige (hypothetische) Einzelfälle nicht die Änderung der Vorschrift rechtfertigen. Im Übrigen kann unzu-lässigen Näherungsversuchen des Verurteilten bereits im Rahmen der geltenden gesetzlichen Vorschriften mit einem Kontaktverbot begegnet werden.

8. Änderungen des GVG (§§ 24, 26 StPO-E)

Die geplante Neuregelung ist abzulehnen. Sofern es um die Interessen konkret schutzbedürftiger (insbesondere minderjähriger) Zeugen geht, ist die geplante Neuregelung von § 24 GVG gängige Praxis.

§ 24 GVG stößt jedoch bereits in seiner derzeitigen Fassung auf zum Teil erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken (vgl. z.B. Heghmanns DRiZ 2005, 288, 291; BeckOK GVG § 24, Eschelbach, Rn. 13; Meyer-Goßner, StPO, § 24 GVG Rn. 6), insbesondere im Falle einer durch die "bewegliche Zuständigkeit" eintretenden Beschränkung des Instanzenzugs.

Vor diesem Hintergrund wird die geplante Neuregelung insbesondere im Kontext des Ziels des Entwurfs, erwachsene Verletzte (ohne konkrete Schutzbedürftigkeit im Einzelfall) vor einer Mehrfachvernehmung zu schützen, abgelehnt. Die Änderung dürfte im Kontext des Entwurfs verfassungswidrig sein.
Die Änderung von § 171 b GVG ist im Hinblick auf § 172 Nr. 4 GVG - insbesondere im gesetzlichen Gefüge der §§ 247a, 255a StPO betrachtet - überflüssig und wird daher abgelehnt.

9. Änderungen im JGG (§§ 36, 37 StPO-E)

Die geplanten Änderungen werden von den Strafverteidigervereinigungen inhaltlich umfassend begrüßt. Sofern die geplante Neuregelung aber einerseits die Merkmale hinsichtlich der Qualifikation von Jugendrichtern und Jugendstaatsanwälten sehr vage definiert (was sind "belegbare Kenntnisse", wie werden sie belegt?), andererseits den starren Ausschluss bestimmter Personen - insbesondere der Amtsanwälte - vorsieht (es gibt äußerst erfahrene und qualifizierte Praktiker in der Amtsanwaltschaft, vgl. insoweit die Stellungnahme des DRB zu diesem Entwurf), scheint aus Sicht der Strafverteidiger ein Hinweis auf die Fachanwaltsordnung (FAO) im anwaltlichen Bereich geboten. Dort wird dezidiert der Erwerb, der Nachweis und der Erhalt spezieller Kenntnisse in einzelnen Rechtsgebieten geregelt. Eine vergleichbare Regelung der jugendrichterlichen und jugendstaatsanwaltlichen Spezialisierung sollte angedacht werden, insbesondere um eine Überfrachtung des JGG zu vermeiden.

 

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